29. Oktober 2001

Prof. Harald Zimmermann: "Ob man (unsere) Geschichte neu schreiben muss?" (I)

"Geschichte sollte der Blick in die Vergangenheit stärken und zur Bewältigung der Gegenwart und hoffentlich auch der Zukunft helfen." Dies hat der Historiker Harald Zimmermann in einem Vortrag zum Thema "Ob man (unsere) Geschichte neu schreiben muss?" am 11. Oktober im Rahmen der Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturtage in München festgestellt.
Nach Ansicht des Tübinger Mediävisten schreibe jedermann Geschichte, und deshalb forderte er dazu auf, "für die Kinder, für die Enkelkinder zusammenzutragen, wie es eigentlich, wie es wirklich gewesen ist, damit es dann vielleicht in eine Geschichte der Siebenbürger Sachsen und Siebenbürgens eingehen mag". Der rhetorisch brillante Vortrag wird in der heutigen und morgigen Ausgabe der Siebenbürgischen Zeitung-Online in gekürzter Fassung dokumentiert.

Professor Dr. Dr. Harald Zimmermann bei seinem Vortrag an der Münchener Universität. Foto: Hans-Werner Schuster
Professor Dr. Dr. Harald Zimmermann bei seinem Vortrag an der Münchener Universität. Foto: Hans-Werner Schuster


Mir ist das schon lange eine Frage, ohne dass ich eine definitive Antwort präzisieren kann. Es gab zwei Gründe: der eine aus der Lektüre, der andere aus dem Erleben, und beides zusammen wird mutatis mutantis auch für Sie zutreffen. Vor fünfzig Jahren war der Roman "1984" von George Orwell ein Bestseller. Es ist, wie Sie sich selbst erinnern werden, eine schaurige Zukunftsvision, eine Vorschau auf das Jahr 1984 aus der Perspektive von 1948, als nach dem Zweiten Weltkrieg die west-östliche Freundschaft sich in eine west-östliche Feindschaft wandelte. Der eher links orientierte englische Schriftsteller E. Blaire ? alias G. Orwell ? entwarf nach seiner Abkehr vom Kommunismus gleichsam als Befreiungsschlag ein Schreckensbild vom Leben in einer Diktatur. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Historiker Winston Smith, angestellt im Ministerium für Wahrheit eines fiktiven autoritären Regimes. Und dieser Historiker hat die grässliche Aufgabe, die Geschichte ununterbrochen, tagtäglich neu zu schreiben, je nach der momentanen politischen Lage und nach den dauernd wechselnden Ansichten und Anordnungen der Staatsführung. Und nicht nur das, er muss auch die Belege für die neuen Meinungen schaffen. Aus den alten Zeitungen wurden die Artikel mit veralteten Ansichten, mit überholten Meldungen entfernt und durch neue ersetzt, aus den Archiven die alten Dokumente eliminiert und durch andere ersetzt, die exakt belegen konnten, was man später wollte, dass es wahr und wirklich gewesen sei. Weil die Meinung des Diktators ununterbrochen wechselte und die politische Situation natürlich auch, wurde unser Historiker nie fertig mit dem Geschichteschreiben oder - man muss eigentlich sagen - mit dem Geschichtefälschen.

Politisiert statt an Fakten orientiert

Mein persönliches Erlebnis im Umgang mit der Historie reicht weiter zurück. Ich hatte ausgezeichnete Geschichtslehrer im Akademischen Gymnasium in Wien, sonst hätte ich ja wohl nach dem Krieg nicht unbedingt Geschichte studiert. An keinen kann ich mich erinnern, dass er im Unterricht Konzessionen gemacht hätte an die politische Gegenwart. Geschichte wurde uns gelehrt an Fakten orientiert, meines Erachtens streng objektiv, wie sie vielleicht wirklich gewesen war. Trotzdem hieß es nach dem verlorenen Krieg, dass alles falsch gewesen sei, was uns im Geschichtsunterricht beigebracht worden war, falsch und politisch verfälscht nach dem Willen der damaligen politischen Führung, ein Missbrauch der Geschichte, ihre Instrumentalisierung für die Politik. Wir Studenten schworen uns, das dürfe nun nicht mehr passieren. Noch besser müsse man aufpassen, dass nicht subjektive Meinungen über historische Ereignisse, sondern nur die streng objektive Wahrheit des Geschehens den Schülern in der Schule weitergegeben werden, also wie es eigentlich, wie es wirklich gewesen sei. Und ein Weg dazu sollte ein besserer, ein vollständigerer Geschichtsunterricht sein, ohne wesentliche Auslassungen unter Berücksichtigung aller wesentlichen Aspekte.
Was ich dann bei meinen eigenen Kindern erlebt habe und was sie von ihrem Geschichtsunterricht in der Schule erzählt haben, oder was ich von meinen ehemaligen Studenten aus ihrer Schulpraxis hören musste, war das Gegenteil von allen meinen früheren Hoffnungen. Ein politisierter Geschichtsunterricht fast nur über die junge und jüngste Vergangenheit, ausgerichtet auf die sattsam beschworene Bewältigung der Vergangenheit mit ihrer ganzen großen Schuld, eher destruktiv als instruktiv. Und als ich dann viele Jahre später in Tübingen einen Studiendirektor befragte, der junge Lehramtskandidaten in ihren ersten beiden Jahren zu betreuen hatte, da sagte er mir ganz unbefangen: Ja, das Lehrziel wird vom Staat vorgeschrieben; was den Schülern beigebracht werden soll, was sie aus der Schule im Leben mitnehmen sollen, das diktiert selbstverständlich der Lehrplan. Wenn das aber stimmt, wenn das die Normalität sein soll, warum hat man die Lehrer unserer Generation nachträglich kritisiert, wenn sie, was ich ohnehin nicht bestätigen kann, aber vielleicht war ich zu jung, wenn sie uns angeblich indoktriniert haben nach ihren damaligen Vorschriften? Was kann man ihnen vorwerfen, oder den Geschichtslehrern, die in kommunistischen Ländern auf die marxistische Geschichtssicht eingeschworen sind? Klar, dass die Schulbücher für Geschichte nach 1945 im kleinen Österreich anders aussehen mussten als im Großdeutschland oder auch diejenigen in Restdeutschland, in der Bundesrepublik anders als vorher. Ich habe noch zwei zu Hause gefunden in meinem Bücherregal, eins aus 1950 und eins aus 1954. Das war die Zeit als ich zu unterrichten begonnen hatte im Gymnasium. Was waren das doch für schmale Unterrichtsbehelfe im Vergleich zu heutigen Lehrbüchern mit ihrer reichlichen Illustration! Aber als ich jetzt den Inhalt durchmusterte, fand ich, dass materiell das meiste ohne irgendwelche Änderungen auch schon früher in einem Geschichtsbuch hätten stehen können. Da wird z.B. selbstverständlich 1950 von der Geschichte des deutschen Volkes geredet und dass es eine deutsche Ostkolonisation im Mittelalter gegeben hat, obzwar Siebenbürgen nicht genannt wird.

Geschichtsbücher in Siebenbürgen

Für Siebenbürgen habe ich 1998 aus Anlass des Hoterusjubiläums die siebenbürgischen Schulbücher für Geschichte durchmustert. Ganz eindrücklich ist das Epochenjahr1918. Fast wichtiger als Bathori István und Bethlen Gábor, die evangelischen Fürsten Siebenbürgens, die gegen Habsburg die Religionsfreiheit sicherten, fast wichtiger als sie, war nun plötzlich Mihai Viteazul, der sechs Wochen lang Siebenbürgen beherrscht hatte. Jetzt bekam er als Vereiniger der drei rumänischen Fürstentümer überall ein Denkmal, auch in den Geschichtsbüchern. Jetzt galt es eben, sich nach Bukarest zu richten, statt nach Budapest. Aber ob nach Ost oder West, am wichtigsten blieb doch jenen Geschichtsbüchern unser Reformator Johannes Honterus und dass wir Siebenbürger Sachsen durch ihn und dann auf Beschluss der Nationsuniversität 1550 alle Lutheraner geworden sind. Das hat unsere Geschichte bestimmt, und so hat sich die oft als siebenbürgisches Charakteristikum genannte Identität von Konfession und Nation gebildet in Siebenbürgen als dem erstem Land mit religiöser Toleranz in Europa.
Das Lehrbuch, von dem ich rede, stammt übrigens von Friedrich Müller, unserem späteren Sachsenbischof, damals 1921 Direktor der Lehrerbildungsanstalt in Schäßburg. Friedrich Müller Langenthal hat wenige Jahre später, 1926, noch ein zweites Geschichtsbuch publiziert, und es ist nicht weniger aufschlussreich. "Die Geschichte unseres Volkes" heißt es und populärwissenschaftlich will es Bilder aus der Vergangenheit darbieten, aber nicht nur der Siebenbürger Sachsen, sondern aller deutschen Volksgruppen in Rumänien. Natürlich bleiben die Sachsen und bleibt Siebenbürgen dominierend, aber das Ziel war doch eine Geschichte aller Deutschen in Rumänien, so verschieden ihre Vergangenheit verlaufen war, jüngst durch den Gang der Geschichte zusammengeschlossen zu einem Volk. "Die Geschichte unseres Volkes" so heißt der Titel jedenfalls von Friedrich Müller.

Im Zeichen der nationalsozialistischen und marxistischen Ideologie

Ähnlich wie Müller 1926 hatte vor dem ersten Weltkrieg der Czernowitzer, später Grazer Universitätsprofessor Raimund Friedrich Kaindl eine dreibändige Geschichte der Deutschen in den Karpatenländern geschrieben. Anstelle der Ausrichtung an die Budapester oder Wiener Zentrale trat nun in Siebenbürgen die Ausrichtung nach Bukarest. Der in der Romantik aufgekommene Volksbegriff ist nicht unbedingt ein Schlüsselbegriff gewesen in diesen Darstellungen, aber doch frappierend oft verwendet worden. Die Tendenz ist die zusammenfassende Volksgeschichte aller Deutschen im Gebiete des rumänischen Königreiches. Und diese Tendenz ging weiter. Man braucht nur an die "Sächsisch-Schwäbische Chronik" (1976) von Eduard Eisenburger und Michael Kroner und an die von Carl Göllner 1979 publizierte "Geschichte der Deutschen auf dem Gebiete Rumäniens" zu erinnern, wo überall neben den Siebenbürger Sachsen eben auch die Banater Schwaben, die Sathmarer Schwaben, die Zipser, die Deutschen der Bukowina und der Maramuresch, die Deutschen in der Dobrudscha behandelt werden. Beide, Göllners und Eisenburgers Werke, sind Sammelwerke, weil anscheinend ein einziger Autor die ganze Fülle der Geschichte nicht bewältigen konnte oder wollte. Beide Darstellungen sind deutlich marxistisch gefärbt. So erklärt Eduard Eisenburger, damals Vorsitzender des Rates der Werktätigen deutscher Nationalität in der Sozialistischen Republik Rumänien, im Vorwort der "Sächsisch-Schwäbischen Chronik" die Notwendigkeit einer neuen Geschichtsdarstellung, weil die vorhandenen nicht zeitgemäß seien, nicht mit den Auffassungen des historischen Materialismus vereinbar. Und dann wird das Folgende vorgestellt: "als der Versuch, Forschungsergebnisse der rumänischen Geschichtswissenschaft zusammenzufassen, die sie unter der Führung der Rumänischen Kommunistischen Partei erzielt hat, gestützt auf wissenschaftliche Analysen, die in den Beschlüssen und Dokumenten der Rumänischen Kommunistischen Partei enthalten sind". Mag sein, dass man damals 1976 unter Ceausescu so schreiben musste. Eduard Eisenburger war nur Hobbyhistoriker, aber auch eine richtige Historikerin unter seinen Mitarbeitern, ausgewiesen durch hervorragende Forschungsleistungen, meinte damals 1977 in einem Symposion in Hermannstadt erklären zu müssen, dass man eigentlich erst jetzt in der Sozialistischen Republik Rumänien die Geschichte der Siebenbürger Sachsen und der Siebenbürger Sachsen richtig darstellen könne. Ich habe mich zu Wort gemeldet und zu sagen gewagt, dass ich dieser Meinung nicht bin. Ob man Geschichte also neu schreiben muss. Man muss die genannten Sammelwerke von Eisenburger und Kroner und von Göllner mit Darstellungen von vorher und zunächst aus der faschistischen Epoche vergleichen. Zwei fallen schon durch ihren Titel auf. Roderich Gooß, ein aus Zeiden stammender Historiker, Archivar im Staatsarchiv in Wien, dann in diplomatischem Dienste, schrieb 1940 ein Buch mit dem Titel "Die Siebenbürger Sachsen in der Planung deutscher Südostpolitik". Und Oskar Wittstock, ein Kronstädter, dessen Buch ebenfalls vom Wiener Staatsarchiv veröffentlicht worden ist, nannte sein Werk 1943 "Die Siebenbürger Sachsen und der gesamtdeutsche Gedanke". Auch hier wird die Gesinnung der Autoren schon erkennbar aus dem Titel, auch wenn sie es anscheinend nicht nötig hatten, auf offizielle Beschlüsse und Weisungen der Partei oder der Staatsführung zu verweisen. Aus der negativen Perspektive von heute fällt wiederum der betonte Gebrauch des Wortes Volk auf, und dass stolz vom Deutschtum und seinen Leistungen die Rede ist. Beides begegnet auch schon bei dem Theologen Friedrich Müller-Langenthal 1926 oder auch bei Raimund Kaindl vor 1914. Man würde heute statt Volk lieber das Fremdwort Ethnie verwenden und deutschstämmig statt deutsch, weil deutsch anders als früher definiert und nur innerhalb der deutschen Grenzen als gültig angesehen wird. Enttäuschend für moderne Leser und Geschichtsdidaktiker sind die Darstellungen von Roderich Gooß aus 1940 und Oskar Wittstock aus 1943 schon deshalb, weil sie nur die ältere Zeit behandeln. Wittstock schließt mit 1871, mit der angeblichen Gründung des Deutschen Nationalstaates durch Bismarck, der auch in Siebenbürgen umjubelt worden ist, obwohl der Reichskanzler bekanntlich in Budapest klipp und klar erklären ließ, dass er am Deutschtum in Ungarn ganz und gar uninteressiert sei. Und Gooß behandelt nur das Mittelalter, bis Mohács bzw. bis 1538. Kann bis dahin von einer geplanten deutschen Südostpolitik überhaupt die Rede sein? Allerdings übergeht Gooß die ersten Jahrhunderte ziemlich rasch und setzt erst beim ungarischen Thronstreit zwischen Johann Zápolya und dem Habsburger Ferdinand ein, wo dann Partei ergriffen wird für den Habsburger, so wenig Ferdinand, in Spanien geboren und in Belgien erzogen, als Repräsentant einer deutschen Südostpolitik gelten kann.


Tonmitschnitt: Geschichtsbücher in Siebenbürgen
Um den Tonmitschnitt hören zu können, benötigen Sie eine Soundkarte, einen Lautsprecher (oder Kopfhörer) und den RealPlayer. Der RealPlayer Basic kann kostenlos heruntergeladen werden: Download

Bewerten:

224 Bewertungen: ––

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.