4. Februar 2005

Zeitzeugenbericht: "Versöhnung statt Hass"

"Im Januar 1945 hat für meine Frau und mich wie für unzählige andere ein Leidensweg begonnen.", beginnt Wilhelm-Martin Grail seine Erinnerungen an die Deportationszeit. Vor sechzig Jahren wurden er und seine Frau Käthe, Banter Schwäbin, zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Lesen Sie im Folgenden Grails Zeitzeugenbericht.
Wenn wir heute über unser individuelles Schicksal berichten, so möchte dies dazu beitragen, dass eingedenk der großen Zahl der Leidenden der einzelne leidende Mensch nicht vergessen wird. Heute wissen wir Betroffenen, wie diese Katastrophe begann. Laut Waffenstillstandsvertrag vom 12. September 1944 mit der rumänischen Regierung unter König Michael sollten Frauen im Alter von 18 bis 35 und Männer von 17 bis 45 Jahren deutscher Herkunft zur Arbeit in der Sowjetunion ausgehoben werden. In einer Note vom 6. Januar 1945 forderte aber der General Vinogradov, stellvertretender sowjetischer Vorsitzender der Alliierten Kontrollkommission für Rumänien, Ungarn und Jugoslawien, die Mobilisierung von Deutschen in allen diesen Ländern, gleichgültig welcher Staatsangehörigkeit. Der Sowjetunion ging es eindeutig darum, durch den Einsatz einer möglichst hohen Zahl von Arbeitskräften die von den Truppen Deutschlands, Ungarns und Rumäniens angerichteten Zerstörungen zu beseitigen. Der Einsatz von Angehörigen der deutschen Minderheit aus diesen nun besiegten Ländern sollte auch eine Strafe darstellen dafür, dass sie gewagt hatten, für Deutschland zu kämpfen. Die meisten holte man zu Hause ab, brachte sie zunächst in Massenquartiere und verfrachtete sie dann in Viehwaggons.

Ich war damals neunzehn Jahre alt und Schüler an der Lehrerbildungsanstalt in Hermannstadt. Am 13. Januar 1945 — es waren noch Ferien — holten mich frühmorgens sowjetische Soldaten ohne Vorankündigung aus der elterlichen Wohnung im 50 km entfernten Ort Blasendorf. Es hieß „schnell, schnell“ wenige Sachen zu packen, und ab ging es in ein Schulgebäude in der Nähe des Bahnhofs. Den ganzen Tag kamen ununterbrochen Lastwagen aus allen Richtungen, vollgestopft mit Landsleuten, Männern und Frauen. Ausgenommen von der Aktion waren nur Frauen mit Babys im Säuglingsalter. Wenn die Sollzahl nicht erreicht war, wurden auch Jüngere und Ältere festgenommen. Die zurückbleibenden Kinder mussten bei Nachbarn und Freunden unterkommen. Groß war für mich der Schreck, als die Russen auch meinen 46 Jahre alten Vater abholten und mit mir zusammen in einen Viehwaggon steckten. Meine arme Mutter war außer sich vor Sorge und Leid. Mit einem Bündel Lebensmitteln erschien sie beim Verladen und gab uns den Segen: „Gott behüte und beschütze euch!“. Sie blieb nun allein im Haus, ohne Einkommen dem unbarmherzigen Schicksal überlassen.

Viktor Stürmer: "Weihnachten am Eismeer", Federzeichnung 1948
Viktor Stürmer: "Weihnachten am Eismeer", Federzeichnung 1948

Damals geschah das Gleiche auch in Jugoslawien. Am 17. Januar kamen Russen und Partisanen und holten meine zukünftige Frau, Katharina Grassl, in ihrem Heimatort Modosch im Banat ab. Zusammen mit Frauen aus Ungarn wurden sie in Viehwaggons verladen. Der Zug fuhr über Rumänien bis zur russischen Grenze. Hier wurde der Transport mit dem unsrigen zusammengefasst. Ich will nicht verschweigen, dass mir bereits bei diesem ersten Zusammentreffen ein flottes Mädel auffiel und nicht mehr aus dem Sinn kam; aber zunächst ging es nun weiter durch den russischen Winter.

Am 4. Februar 1945 kamen wir in Gorlowka (Donezbecken, Ukraine) an, wo wir in einem Barackenlager hinter Stacheldraht untergebracht wurden. Wir schliefen auf Holzpritschen, ohne Strohsack, nur in unsere mitgebrachten Decken eingewickelt. Am nächsten Tag mussten wir draußen bei eisiger Kälte antreten, ungefähr 1 600 Männer und Frauen. Offiziere teilten uns zur Arbeit ein, in die Kohlengrube oder auf verschiedene Baustellen. Ich tauschte meine frühere Tätigkeit (Feder und Kreide) in den Bergmann mit Presslufthammer und Beil in einer Kohlengrube; meine spätere Frau Käthe wurde - wie auch mein Vater - zur Arbeit in einem Steinbruch befohlen.

Bei schwerer Arbeit und unter traurigsten Bedingungen haben wir tausend Kilometer von der Heimat fünf lange Jahre verbringen müssen - eine Zeit, die eigentlich die schönste eines jungen Lebens sein sollte. Von den 1 600 Menschen ist etwa ein Viertel gestorben, die meisten an Unterernährung und Typhus; ein großer Teil der Heimkehrer hat bis auf den heutigen Tag gesundheitliche Schäden. Mein Vater, auf 47 kg abgemagert und völlig arbeitsunfähig, gehörte zu den wenigen, die vorzeitig (im August 1947) mit einem Krankentransport entlassen wurden.

Nach fast fünfjähriger Zwangsarbeit, Anfang Oktober 1949, mussten wir zu einem Appell im Barackenhof antreten. Der Lagerkommandant, Major des Geheimdienstes NKWD, verlas einen Erlass des Innenministeriums der Sowjetunion, dass alle rumänischen, ungarischen und jugoslawischen Staatsangehörigen in ihre Heimat zurückkehren dürften. Dass Gott uns dies erleben ließ, wollte anfangs niemand glauben!

Da meine nun feste Freundin Käthe von ihren Eltern in Jugoslawien keinerlei Nachrichten hatte (als die Rote Armee und Partisanen das Banat eroberten, waren alle Deutschen in Vernichtungslager eingesperrt worden), entschlossen wir uns, gemeinsam nach Siebenbürgen zu meinen Eltern in Blasendorf zu fahren. Wir verlobten uns amtlich vor dem russischen Lagerkommandanten, so dass meine Braut die Papiere für die Einreise nach Rumänien erhielt. Am 17. Oktober 1949 war es dann so weit. Wir wurden mit Lastwagen zum Bahnhof Gorowka gebracht, und auf ging es in Richtung Heimat. Auf dem Rücktransport hatten wir glücklicherweise keine Ausfälle mehr durch Krankheit oder Tod zu beklagen. Meine Eltern erwarteten uns mit einer Kutsche; wir umarmten uns und weinten bitterlich, ohne ein Wort hervorzubringen. Daheim wurden wir von Nachbarn und Bekannten herzlich begrüßt. Wenige Tage später konnten dann meine Verlobte und ich vor dem Standesamt heiraten. Dass ich als Siebenbürger Sachse und meine Frau als Banater Schwäbin unseren Lebensweg gemeinsam gehen konnten, verdanken wir - wenn es auch paradox klingt - der Verschleppung zur Zwangsarbeit in der Sowjetunion.

Käthes Eltern erging es übrigens damals mindestens genauso schlimm wie uns Jungen. Sie kamen in Zwangsarbeitslager, wo die Mutter Ende 1947 den harten Bedingungen erlag. Der Vater konnte mit anderen Überlebenden Anfang der 1950er Jahre nach Österreich flüchten. Käthe und ich durften 1972 mit unseren beiden Kindern Wilhelm und Lieselotte nach Deutschland aussiedeln, nachdem sich die diplomatischen Beziehungen zwischen Rumänien und der Bundesrepublik verbessert hatten. Wir haben fünf Enkelkinder, die uns in Trab halten und viel Freude machen. Abgesehen von einigen gesundheitlichen Störungen, Folgen der Leiden in der Deportation, fühlen wir uns wohl und glücklich und sind zufrieden mit unserem Schicksal.

Die Verschleppung zur Zwangsarbeit liegt nun sechzig Jahre zurück. Was bleibt? Allein die Erinnerung an das Unrecht und die Leiden? Diese Erinnerung bleibt in der Tat, aber sie bleibt als Mahnung an die jetzige Generation: Nie wieder Krieg! Und so wollen wir den Ereignissen vor sechzig Jahren nicht mit Gefühlen der Aufrechnung oder des Hasses begegnen, sondern mit Gefühlen der Versöhnung!

Wilhelm-Martin Grail, Vaihingen an der Enz


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