27. Juni 2010

Brillante Persönlichkeit der französischen und siebenbürgischen Literatur

Der Schriftsteller, Übersetzer, Verleger, Journalist und Lehrer Rainer Biemel gehört zu den ­bedeutendsten Persönlichkeiten der französischen und siebenbürgisch-sächsischen Literatur. Während er in Frankreich in zahlreichen Artikeln, Büchern und Rundfunksendungen aus Anlass seines 100. Geburtstages gewürdigt wurde, ist er unter den Siebenbürger Sachsen jedoch fast schon in Vergessenheit geraten. Dabei lieferte er schon 1949 ein literarisches Meisterwerk über die Deportation der Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion. Sein Tatsachenbericht „Mein Freund Wassja“ wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und hat fasziniert, aber die Intellektuellen in Frankreich auch polarisiert. In seinem bewegten Leben hat Rainer Biemel viele Berufe ausgeübt und sich in allen bewährt. Die französische Kultur wurde ihm zur Heimat, ohne die siebenbürgische zu verdrängen oder gar zu verleugnen, schrieb sein langjähriger Freund Alfred Coulin in einem Nachruf in dieser Zeitung.
Rainer Biemel wurde am 14. März 1910 in Kronstadt geboren. Er ist der Älteste von vier Brüdern. Der Jüngste, der Philosoph Walter Bie­mel, wurde am 19. Februar 1918 in Belgrad ­geboren, als der Vater Samuel Biemel Komman­dant eines österreichischen Artillerie-Ersatzbatallions war.

Biemel besucht das Honterus-Gymnasium in Kronstadt und dann das Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt bis zur Sexta. Seine Sprach­begabung wird sehr früh erkannt. Dem Rat seines Französisch-Lehrers folgend, geht er 1926 auf ein Gymnasium in Toulouse, wo er auch das Bakkalaureat ablegt. Anschließend studiert er in Paris an der Sorbonne Philosophie, beim Philosophen Alain, und legt da auch die Lizenz ab. Gleichzeitig mit ihm studiert seine Kronstädter Freundin Hermine Gebauer, die er 1933 heiraten wird, Kunstgeschichte in Paris.

Er bleibt in Paris von 1929 bis 1931, als er nach Rumänien zurück muss, um den Militärdienst bei den Gebirgsjägern in Kronstadt abzuleisten. Seit 1933 arbeitet er als Journalist beim Bukarester Deutschen Tageblatt, wo er sich mit Alfred Coulin anfreundet.

1934 kehrt er nach Paris zurück und berichtet bis 1938 täglich als Korrespondent der Telegraph-Agentur Telor für die Bukarester Zeitung Dimineața, für Zeitungen in Österreich und Italien. Er freundet sich mit dem Pariser Verleger Bernard Grasset an und übersetzt mit ihm Rilkes „Briefe an einen jungen Dichter“ ins Französische – „ein Bestseller bis heute, die beste Übersetzung des Werkes“, wie sein Bruder Walter Biemel in einem Gespräch mit dieser Zeitung feststellt. Er übersetzt Rilkes „Duineser Elegien“ und, zusammen mit Alexandre Arnoux, den zweiten Teil von Goethes „Faust“.

Biemel verkehrt mit französischen Schriftstellern wie Henry de Montherlant und befreundet sich mit Antoine de Saint-Exupéry, den er zum Schreiben seiner Flugerinnerungen anregt – das Buch „Wind, Sand und Sterne“ wird auch in der deutschen Übersetzung ein großer Erfolg. Rainer Biemel warnt die Franzosen vor Hitler. Als Mitarbeiter des französischen Rundfunks liest er die Predigten Niemöllers auf deutsch für Sendungen nach Deutschland. Ins Französische übersetzt er den Brief Thomas Manns an den Rektor der Universität Bonn, als dem der Ehren­doktor aberkannt wird. Bei Grasset veröffentlicht er Übersetzungen von Hitler-kritischen Texten, z.B. von Ernst Gläser „Der letzte Zivilist“, von Bernhard von Brentano „Eine deutsche Familie“, von Ignazio Silone „Brot und Wein“. Er bereitet die Veröffentlichung des Textes von Otto Strasser „Hitler und ich“ vor. Als die deutschen Truppen 1940 in Paris einmarschieren, flieht er nach Toulouse in das unbesetzte Gebiet. Ende 1941 wird er als rumänischer Staatsangehöriger zum Militär einberufen, kann aber bald die Stelle sei­nes Bruders Walter Biemel als deutscher Übersetzer im rumänischen Außenministerium über­nehmen und am Französischen Institut in Bukarest arbeiten.

Im Januar 1945 wird er mit den anderen Deut­schen nach Russland deportiert. Vermutlich aus Mitleid mit ihm bescheinigt eine russische Ärztin, dass er nur noch eine Lunge hat. Er wird im Dezember 1945 entlassen. In Bukarest stellen die Ärzte fest, dass ihm nichts fehlt. Hier arbeitet er zwei Jahre am Französischen Institut, erhält die französische Staatsangehörigkeit und unterrichtet Französisch und Philosophie am Gymnasium „Titu Maiorescu“. In seiner Wohnung treffen sich Dichter wie Paul Celan, August Margul-Sperber und Wolf von Aichelburg.

Rainer Biemel im Jahre 1948. ...
Rainer Biemel im Jahre 1948.
Ende 1948 lässt sich die Familie in Paris nieder, Biemel konvertiert unter dem Einfluss eines französischen Freundes zum Katholizismus. Seine Russlanderinnerungen erscheinen unter dem Titel „Mein Freund Wassja“ (Mon ami Vassia), 1949, in kleiner Auflage im Verlag Sulliver, dann in großer Stückzahl bei Plon. Den Roman zeichnet er mit dem Pseudonym „Jean Rounault“ nach dem Spitznamen „Rouno“, den ihm russische Arbeiter in Anlehnung an die französische Automarke Renault gegeben hatten.

Von 1953 bis 1975 wirkt Rainer Biemel als erfolgreicher Verleger beim belgischen Verlag Desclée de Brouwer in Paris und im Verlag OCDL. Er gibt katholische Schriften heraus und fördert in Lehrbüchern neue Schulmethoden für Mathematik und den Sprachunterricht. Für das deutsche Fernsehen zeigt er in einer Folge von fünf Sendungen auf, wie man Mathematik leichter lernen kann.

Zu Siebenbürgern pflegt er weiter enge Freundschaften, etwa zu dem Maler Hans Eder und dem Journalisten Alfred Coulin. Seine letzte, unvollendet gebliebene Arbeit widmet er im Auftrag einer Straßburger Zeitschrift der Herkunft der Siebenbürger Sachsen und stellt ihre Geschichte als klassisches Beispiel für die Bildung einer Gemeinschaft dar. Er stirbt am 1. August 1987 in Mesnil-St. Denis, einem Vorort von Paris, wo die Familie lebte. Seine Frau Hermine Biemel stirbt 2005.

Neben den erwähnten Übersetzungen hat sich Rainer Biemel vor allem durch seine eigenen Werke einen Namen gemacht: „La Saison d’Ame“, Gedichte, Union Latine d’Edition, Mont­pellier 1942, und „Le troisième Ciel“ (Der dritte Himmel), Roman, Verlag Plon, Paris 1952.

Sein bedeutendstes literarisches Werk ist der Roman „Mein Freund Wassja“. Rainer Biemel schildert das Leben im Lager, die Arbeiten, die man verrichten musste. Der russische Arbeiter Wassja hatte den Deutschen beigebracht, nicht zu viel zu arbeiten, da sie von Stalin ausgebeutet würden. Im Roman wird auch geschildert, wie der Ich-Erzähler zum Schluss als Lagerarzt in Makejewka tätig war und mit einer russischen Ärztin entschied, welche Arbeiter nach Hause durften, wenn sie nicht mehr arbeitsfähig waren. „Das Buch hat in Frank­reich wie eine Bombe eingeschlagen, da viele Franzosen Kommunisten waren und Stalin verherrlichten. Plötzlich sahen sie, dass er gar nicht so beliebt war unter den Arbeitern, die sich ausgebeutet fühlten“, erklärt Walter Biemel im Gespräch mit dieser Zeitung. Der Tatsachenbericht habe die Kommunisten aufgeregt, die ihn verleumdeten. Biemel gewann zwar einen Prozess gegen die kommunistische Zeitung Lettres Fran­çaises, aber diese habe die Strafe nie bezahlt.

Einer umfangreichen Analyse hat Oliver Sill die Erzählung in dem zweiten Band „Die Deportation der Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949“, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/ Wien, 1995, unterzogen. Er schreibt: „Rainer Bie­mels Erzählung ‚Mein Freund Wassja‘ ist nicht nur das wichtigste literarische Zeugnis über die Deportation, sie ist zugleich ein – völlig zu Unrecht vergessenes – Werk von hohem literarischem Rang. In ihrer ästhetischen Komplexität erlaubt die Erzählung verschiedene Lesarten; ist sie doch Reisebericht und Parabel zugleich, autobiographischer Bericht über das in der So­wjetunion verbrachte Jahr und Modell moderner Selbst- und Welterfahrung des Einzelnen. Im weiteren Sinne gehört ‚Mein Freund Wassja‘ in den Kontext moderner Prosa des 20. Jahrhun­derts, im engeren Sinne ist das Werk ein existen­tialistisches: Ausdruck jener philosophischen Strömung, die in den vierziger und fünfziger Jahren die intellektuellen Diskussionen gerade in Frankreich entscheidend geprägt hat. Mehr noch: Die aufgezeigten thematischen und strukturellen Korrespondenzen – anknüpfend an Albert Camus’ ‚Die Pest‘, vorausweisend auf Werke von Samuel Beckett und Alfred Andersch – weisen Biemels Text aus als ein Werk von eminenter literaturgeschichtlicher Bedeutung.“ Das Werk von unverminderter Aktualität stellt nach Ansicht Sills die weltanschaulichen Systeme in Frage, die das Leid des Einzelnen im Namen großer Ideen missachten.

In einem Vorwort zu einer russischen Übersetzung, die 1951 heimlich in die Sowjetunion gebracht worden war, aber nie als Buch erschien, schrieb Rainer Biemel, dass in seiner Erzählung „Mein Freund Wassja“ eine ganz neue Tatsache behauptet werde: „die Solidarität des Westens mit dem russischen Volk“. Allerdings dürfe das russische Volk nicht mit dem kommunistischen Regime verwechselt werden. „Wassja und seine Freunde sind Menschen im höchsten Sinne des Wortes, freie, denkende Menschen – sie stärken unseren Glauben an die Zukunft – und ich persönlich verdanke ihnen, dass ich noch am Leben bin“, heißt es im Vorwort (vgl. Neue Kronstädter Zeitung, 22. März 1999). In deutscher Übersetzung erschien der Roman 1995 im Böhlau Verlag in Köln/Wien/Weimar, in rumänischer Übersetzung 2000 im Verlag Universal Dalsi mit einem Vorwort von Monica Lovinescu.

Walter Biemel erinnert sich an seinen ältesten Bruder: „Ich habe ihn sehr verehrt, er war für mich immer ein Vorbild. Wenn ich Philosophie studiert habe, war es auch ein wenig nach seinem Vorbild. Er hat mit geraten, vom besten Philosophen zu lernen. Da bin ich zu Heidegger gegangen, nachdem ich vier Jahre lang in Rumänien studiert und die Prüfung abgelegt hatte.“

Rainer Biemel war nicht nur sprachlich (er sprach Französisch wie ein Franzose), sondern auch als Dichter außerordentlich begabt, was ihn zu einem bedeutenden Übersetzer, Schriftststeller und Verleger befähigte. Aus Anlass des 100. Geburtstages ihres Vaters hat Anne-Marie Biemel-Monternal (geboren 1936 in Paris) eine Neuauflage des Romans „Mein Freund Wassja“ (Mon ami Vassia) 2009, besorgt und in einem Nachwort eine kurze Biographie ihres Vaters geliefert, auf die wir in diesem Artikel zurückgreifen konnten.

Siegbert Bruss

Schlagwörter: Literatur, Frankreich, Deportation, Schriftsteller, Biemel

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