5. Februar 2004

Adolphe Binder

Manchmal überlegt Adolphe Binder, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie nicht mit ihren Eltern 1980 aus Rumänien hätte ausreisen können. Eine Antwort darauf zu geben ist schwierig, wenn nicht unmöglich, so unvereinbar sind die Lebenswelten, in denen Adolphe Binder aufgewachsen ist. Homepage: http://www.adolphe-binder.de/
Heute ist die 34-Jährige künstlerische Leiterin des BerlinBallett an der Komischen Oper. Sie leitet eine zeitgenössische Tanzcompagnie mit 22 Tänzern, die aus aller Welt stammen. Adolphe Binder konzipiert das Programm des BerlinBallett, lädt renommierte Choreographen an die Komische Oper ein, macht außergewöhnliche Tanzproduktionen möglich. In Berlin ist die Ballettcompagnie der Komischen Oper einzigartig. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen mit unterschiedlichen Kulturen und dem Abschied von bestimmten Lebenszusammenhängen charakterisieren heute ihre Art, auf die Welt zu blicken.

1969 kommt Adolphe Binder in Kronstadt zu Welt, eineinhalb Jahre später wird ihr Bruder Erhard geboren. Adolphe wächst die ersten Jahre in Schirkanyen auf, bevor sie in Kronstadt zur Schule geht. Sie genießt das idyllische, gemeinschaftliche Leben auf dem Dorf, vor allem das Zusammensein mit ihren Urgroßeltern Katharina und Johannes Fogarascher – „Gissi“ und „Gustata“ –, zu denen sie ein sehr enges Verhältnis hat. Ihre Großeltern kennt sie nicht, sie sind nach dem zweiten Weltkrieg verschleppt worden und getrennt voneinander in sibirischen Arbeitslagern ums Leben gekommen. Adolphes Mutter – Sieglinde Binder, geborene Zerbes, ist eine sensible Frau und eine begabte Schneiderin, von der Adolphe ihre Kreativität und Geschicklichkeit geerbt hat. Ihr Vater Andreas Binder, ein Dreher, stammt aus Kirchberg.

Anfang der 80er Jahre wird auf das jahrelange Drängen von Adolphes Mutter der Ausreiseantrag der Familie nach Deutschland endlich bewilligt, wo Adolphe zunächst großes Heimweh nach ihren Urgroßeltern und der dörflichen Idylle empfindet. Ihr Urgroßvater stirbt ein halbes Jahr nach ihrer Ausreise. Nach zwei Jahren folgt Adolphes Urgroßmutter ihrer Familie nach Deutschland. Sie leben nun in Hannover.

Hier studiert Adolphe Binder Literaturwissenschaft, Geschichte und Politik, absolviert das Aufbaustudium Kulturmanagement und arbeitet parallel dazu als Schauspieldramaturgin. 1996 macht der Friedrich Verlag sie zur Wahlberlinerin. Ein Jahr arbeitet sie als Leiterin für Marketing und Presse, bevor der damalige Ballettdirektor der Deutschen Oper Berlin, der berühmte Tänzer Richard Cragun, sie als Dramaturgin an sein Haus holt.

1999 entsteht artattack, ihr Büro für Dramaturgie, PR und Produktion, woraufhin sie als Projektmanagerin zum Kultur- und Ereignisprogramm der EXPO 2000 zurück nach Hannover geht. Ihr Aufgabenbereich umfasst Konzeption und Realisierung des Veranstaltungsprogramms im Projekt Tanz- und Theater. 2001 beginnt Adolphe Binder bei Blanca Li als Kodirektorin an der Komischen Oper und übernimmt 2002 die künstlerische Leitung und Direktion des BerlinBallett.

Während all dieser Zeit hat Adolphe ihre Herkunft nicht vergessen. Auch ihr Bruder Erhard Binder lebt mittlerweile als erfolgreicher Bauingenieur in Berlin. Drei Mal ist Adolphe bereits als Jugendliche mit ihren Eltern nach Rumänien gereist, um ihre Verwandten zu besuchen. Ihre Mutter verstirbt nach langer Krankheit bereits 1998 mit nur 55 Jahren. Adolphe reist erneut mit ihrer Freundin nach Kronstadt und Schirkanyen, 2001 fährt sie zu einem Tanzfestival nach Bukarest und besucht erneut ihre Tante Mia und ihren Cousin Heinzi in Kronstadt.

Auf diesen Reisen fühlt sie sich oft melancholisch, zuweilen fast verwirrt, „weil sich ein Zurückwandern in die Kindheit als unmöglich erwies.“ Ihre Kindheit in Schirkanyen war prägend für sie, sagt Adolphe Binder, die Dorfgemeinschaft, der Familienzusammenhalt, die Geborgenheit bei ihren Urgroßeltern und ihrer Mutter. Leider hat sie heute verlernt, sächsisch zu sprechen. Doch sie kann es noch immer verstehen und möchte die Sprache ihrer Kindheit unbedingt wiederbeleben.

Annette Pussert

Link: „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“

Schlagwörter: Porträt, Kultur

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