15. Oktober 2010

Betrachtungen zur aktuellen Securitate-Debatte - von Sabine Pastior

Wie erginge es dir, wenn du erfahren würdest, dass dein leiblicher Bruder von der Securitate jahrelang bespitzelt und schließlich zum Informanten erpresst worden ist? Und wie, wenn du selbst traumatisiert bist von Securitate-Übergriffen, an denen du ein Leben lang selbsttherapeutisch gearbeitet hast, dich dadurch befreit hast und jetzt ohne Altlasten dastehst? Würdest du als Erste/r den Stein werfen? - Ich nicht. Ich habe die Vergangenheit hinter mir gelassen und lebe erfüllt in der Gegenwart. Und jetzt holt mich plötzlich alles von früher wieder ein. Aber ich lasse mich zu keinerlei Verurteilungen hinreißen.
Nichts dagegen, dass Fakten bis ins Kleinste recherchiert und als solche benannt werden. Dafür Dank an Stefan Sienerth, Grete Loew, Ernest Wichner und all die anderen, die sich um sachliche Klarheit bemühen. Alles dagegen, mich allzu leicht zum moralischen Richter aufzuspielen. Wir sind immer Opfer und Täter zugleich, hundertmal am Tag, bis zu den kleinsten Dingen. Wo will man psychologisch eine gültige Grenze zwischen der Opfer- und der Täterrolle ziehen? Es stimmt, die Erfahrungen, die ich mache und die ich meistens nicht in der Hand habe, prägen mich. Aber worauf es meines Erachtens ankommt und was mich als Mensch (gegenüber dem Tier) ausmacht, ist, dass ich frei entscheiden kann, wie ich mit meinen Erfahrungen umgehe. Wie ich Schmerz, Leid, seelischen Druck, Demütigung bis hin zu Verwundung verarbeite. Ziehe ich mich selber zur Verantwortung und versuche, daraus zu wachsen, oder suche ich sofort und mit erhobenem Zeigefinger den Sündenbock beim Anderen?

Leidvolle Grenzsituationen können schwere Prüfungen sein und ich wünsche sie niemandem, meinem leiblichen Bruder nicht, und nicht meinem Menschenbruder. Oskar Pastior hat als junger Mann ein fünfjähriges Hungerlager überleben müssen und doch hat gerade diese Erfahrung letztlich sein bestes geistiges Potenzial zutage gefördert. Aus welchem Holz bin ich geschnitzt, wenn ich aus der Not eine so wunderbare Tugend mache? Doch kaum war Oskar wieder zuhause und dabei, sich neu zu orientieren, gerät er ins Visier der Securitate. Erneut „Zwangsarbeit/Arbeitszwang“, auf anderer Ebene. Wie hättest du dich verhalten? Und kannst du das so im Nachhinein mit Sicherheit sagen?

Die Wittgensteinsche Sprachlosigkeit des Dichters

Jeder aus Rumänien weiß, wie diese Dinge gingen. Kaum eine Familie, wo nicht jemand mit der Securitate zumindest in Berührung gekommen ist. Alle Regierungen unterhalten Geheimdienste und probieren Informanten zu gewinnen. Man konnte froh sein, wenn man für die Securitate uninteressant war. Trotzdem – geprägt hat uns alle, die wir im Kommunismus aufgewachsen sind und gelebt haben, diese entwürdigende und verunsichernde Atmosphäre des Misstrauens gegenüber unserem nächsten Nachbarn. Wir alle tragen das Erbe mehrerer Brechungen in uns: die ganz persönlich-biographischen Verhältnisse in der Familie, die Minderheitensituation der Deutschen in Rumänien und das Damokles-Schwert der Diktatur hinter dem Eisernen Vorhang. Wie haben wir sie bewältigt? „Verbessere die Welt, beginn bei dir selbst“, sagt ein weiser holländischer Werbespot.

Oskar hat sein Informanten-Päckchen die berühmten sieben Jahre lang getragen. Niemand weiß, welche inneren Qualen er dabei gelitten hat. Sie dürften an sich schon Strafe genug gewesen sein für schuldlose Verstrickungen. Es war seine Entscheidung, darüber zu schweigen. Die Sprache hatte für Oskar eine andere, würdigere Funktion. Ich ahne, dass ihn die Ohnmacht seiner Situation in die Wittgensteinsche Sprachlosigkeit geführt haben mag: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Denn es stimmt, es gibt Seelenzustände, die man nur verwässern würde und keineswegs heilen, wenn man sie in Worte kleidet. Das System Sprache ist immer ein sekundäres gegenüber der Authentizität des originalen Erlebens. Oskar hat überhaupt über sich und seine Gefühle nie gesprochen, auch sonst nicht. Seine Lyrik war ihm Aussage genug, wenn auch oft schwer verständlich und für unsere intellektuelle Logik ziemlich widerborstig, aber auch verschmitzt, eulenspiegelhaft und sicher heilend für ihn selbst durch humorvolle Bewältigung seines Leidens an der Welt, aber auch an der Unzulänglichkeit der Sprache.

Gleich nachdem Oskar im Westen geblieben war, hat er seine Informanten-Last beim BND abgelegt, wie einen Rucksack, von dessen schwerem Gewicht man sich endlich befreit. Und wollte danach auch nichts mehr damit zu tun haben, stelle ich mir vor. Endlich konnte er sich seiner wahren Lebensliebe und Berufung widmen: der dichterischen Sprache. Und das hat er mit großem Erfolg getan. Auch haben wenige eine Ahnung, wie viel Oskar von Berlin aus durch Übersetzungen u. a. für die rumänische Gegenwartsliteratur getan hat, noch unter Ceaușescu. Das wäre als echte Förderung der rumänischen Kultur im Ausland zu werten, anders als die Kultur der Auslandsabteilung der Securitate. Inzwischen ist Oskar tot und darf weiterhin zum laufenden Enthüllungs- und Schuldzuweisungskarussell von Betroffenen und Trittbrettfahrern schweigen. Wenn ich an all die Opfer-Täter denke, die die Securitate auf dem Gewissen hat, wünsche ich mir nichts sehnlicher als menschliches Verständnis und Bereitschaft zur Vergebung, allen und jedem. Es wäre nicht nur der „grüne Zweig“, auf den man miteinander in puncto Vergangenheit kommen könnte, sondern auch ein Lichtblick für die Zukunft. Ich bleibe dabei und bilde mir ein, es wäre auch in Oskars Sinn: Der Mensch ist des Menschen Bruder und nicht sein Wolf!

Anne-Sabine Pastior

Schlagwörter: Rumänien, Securitate, Oskar Pastior

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