18. November 2010

„Zusammen allein“: Neues Jugendbuch von Karin Bruder

Karin Bruders neuestes Buch „Zusammen allein“ kommt zu einem Zeitpunkt, der nicht passender sein könnte. Die Banater Schwäbin Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin 2009, beherrscht die Feuilletons mit ihren Berichten aus der Zeit in Rumänien unter Ceaușescu, der siebenbürgische Dichter Oskar Pastior wird als „IM Otto Stein“ enttarnt, die Aktivitäten der rumänischen Securitate werden bei Tagungen heftig diskutiert, Akten werden eingesehen, die Öffentlichkeit steht da und staunt und fragt sich: Wer noch? Auch die in Kronstadt geborene Autorin Karin Bruder schreibt über dieses Thema, aber in ihrem Buch ist es eine Jugendliche, die die Ereignisse im Rumänien der 80er Jahre schildert. Zu Unterdrückung, Beklemmung und Enge, ausgelöst durch das sozialistische Regime, kommen die widersprüchlichen Gefühle einer Pubertierenden, die sich verliebt, entliebt, mit sich hadert, sich selbst und alles andere in Frage stellt und auf der Suche nach der eigenen Identität, nach Zugehörigkeit und einer Heimat ist.
„Mein Vater ging als Erster. Nach langen Streitereien. (...) Ein Jahr später hielt es meine Mutter nicht mehr aus, sie reiste ihm nach. Servus, sagte sie zu mir. Und ich dachte, sie meint Servus: bis bald.“ Aber sie kommt nicht zurück. Agnes bleibt allein in Siebenbürgen, wird aus der Wohnung im Block geworfen und geht auf Wunsch ihrer Eltern widerwillig zu Tante Erika, der Zwillingsschwester des Vaters. Doch deren rumänischer Mann sieht in ihr nur einen Schmarotzer ohne Geld und schickt sie zu ihrer Großmutter Puscha, „der Hure“ – eine Großmutter, von der Agnes annahm, sie sei tot, über die man nicht spricht und die doch die ganze Zeit da gewesen ist, totgeschwiegen von ihrem eigenen Kind, Agnes’ Mutter, totgeschwiegen vom Schwiegersohn, Agnes’ Vater, totgeschwiegen von der ganzen Familie. Ein trockenes „No seich, wie hei kit“ – nicht mehr und nicht weniger hört Agnes zur Begrüßung von Puscha, die über die Vorgänge in der Familie bestens im Bilde ist.

Agnes, die voller Wut auf ihre Eltern und den noch vor kurzer Zeit in den schillerndsten Farben gemalten Westen ist, findet den Sozialismus in Rumänien auf einmal gar nicht mehr so schlecht, schließt sich dem Verband der Werktätigen Jugend Rumäniens (UTM) an, meldet sich freiwillig für Arbeitseinsätze und strickt mit ihrer neuen linientreuen Freundin Karin Mützen fürs Vaterland. Ausreise in den Westen und Familienzusammenführung interessieren sie nicht, die Briefe der Eltern lässt sie unbeantwortet. Nur die Pakete, die ab und zu – bereits vom Zoll durchwühlt und um einigen Inhalt erleichtert – ankommen, haben einen gewissen Reiz, vor allem die heiß ersehnte Jeans, die man nur im Liegen anziehen kann, findet – wenn auch von widerstreitenden Gefühlen begleitet – Gnade vor Agnes’ Augen.

Die Autorin Karin Bruder. ...
Die Autorin Karin Bruder.
Sie verliebt sich in den Studenten Petre, Sohn von Puschas Freund Misch, doch der will nichts von ihr wissen. „Ich war ein Nichts, niemand liebte mich, ich liebte mich ja selbst nicht.“ Trotz der besonderen Situation, in der sich Agnes befindet, ist sie doch eine normale 16-Jährige, die mit der Pubertät zu kämpfen hat. Puschas Drängen, endlich einen Pass und die Ausreise zu den Eltern im Westen zu beantragen, ignoriert sie geflissentlich – zu wütend ist sie immer noch, weil Vater und Mutter sie allein gelassen haben. Der Sozialismus gefällt ihr allerdings auch nicht mehr so gut, seit sie beim Ernteeinsatz verbotenerweise eine Birne gegessen hat und dafür mit zusätzlicher Arbeit bestraft worden ist.

Die Auseinandersetzungen mit Puscha, die ihren Lebensunterhalt mit Geschäften unter der Hand aufbessert und sich immer „zu arrangieren“ weiß, tragen nicht dazu bei, die Situation zu entspannen. Agnes ist abgestoßen und peinlich berührt von Puschas Treiben, aber sie weiß: „Meine Großmutter war alles, was ich hatte. Sie liebte mich nicht, davon ging ich aus, aber sie war für mich da. Immerhin.“ Zudem will Agnes unbedingt dem Familiengeheimnis um ihren Großvater, Puschas Mann, auf die Spur kommen, über den ebenso wenig geredet wird wie in den Jahren zuvor über ihre Großmutter. Als Petre, in den sie trotz seiner Zurückweisung immer noch verliebt ist, wegen des Druckens und Verteilens von regimekritischen Flugblättern verhaftet wird, spitzt sich die Situation zu.

Karin Bruders Buch besticht zum einen durch das aktuelle Thema – Sozialismus, Securitate und Revolution in Rumänien – und die jugendliche Hauptfigur Agnes, durch deren Augen der Leser das Geschehen betrachtet, zum anderen durch eine klare, bildreiche Sprache. Die immer wiederkehrenden Lederschuhe, die man in keinem Laden kaufen kann, stehen als pars pro toto, als unheilvolles Symbol für jeden „Geheimen“, der Agnes’ Weg kreuzt, die unvermeidlichen, kostbaren Kent-Zigaretten, Seidenstrumpfhosen und „Westkaffee“ sind Puschas Währung, die grünen Polyesterschals, die leeren Regale – alles hat seinen Platz und seine Bedeutung in dem Kosmos, den Karin Bruder entstehen lässt. Das Schweigen besitzt eine Farbe (natürlich schwarz), der Herbst ist eine launische Prinzessin, der Winter ein absolutistischer Herrscher – und dann ist da noch Petres Zigarrenkiste, verborgen unter einer Fliese, Zeichen, ja Mahnmal seiner Auflehnung. Die konsequent durchgezogene Schreibweise des Wortes Securitate mit „k“ statt mit „c“ ist das einzige, das den Leser irritiert.

Karin Bruder wurde 1960 in Kronstadt geboren. Zehn Jahre später konnte sie mit ihrer Familie ausreisen, zunächst nach Österreich, dann nach Deutschland. Nach dem Abitur studierte sie Landespflege und arbeitete als Garten- und Landschaftsarchitektin. 1999 erschien ihr erstes Buch „Katzenzauber für Kolumbus“, „Die Erben der Pharaonin“ folgte 2004. Karin Bruder, die in Waldbronn bei Karlsruhe lebt, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. 2007 erhielt sie für die Erzählung „Servus“, ein Auszug aus dem Manuskript zu „Zusammen allein“, den österreichischen „Frau Ava Literaturpreis“ (diese Zeitung berichtete), 2002 und 2005 war sie Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg. Im Oktober hat die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e. V. in Volkach „Zusammen allein“ zum „Buch des Monats“ in der Kategorie „Jugendbuch“ gewählt.

Auch neu von Karin Bruder ist das Kinderbuch „Primo findet Hex Rex“, eine zauberhafte Geschichte über den achtjährigen Primo, der auf dem Sperrmüll einen Hamsterkäfig findet, in dem der winzige Zauberer Hex Rex wohnt, der an Gedächtnisschwund leidet und für allerlei Verwirrung zu Hause und in der Schule sorgt. Das Buch für Kinder ab sechs Jahren ist liebevoll gestaltet, mit wunderbaren Zeichnungen von Beate Fahrnländer illustriert und am Ende so offen gehalten, dass Karin Bruder bereits an einer Fortsetzung schreibt.

Die Autorin freut sich über Anfragen aus Kreis- und Landesgruppen im gesamten Bundesgebiet, die an Lesungen und Diskussionen interessiert sind. Kontakt per E-Mail: info[ät]KarinBruder.net.

Doris Roth


Karin Bruder, „Zusammen allein“, dtv (Reihe Hanser), München, 2010, 272 Seiten, 12,95 Euro, ISBN 978-3423624503.
Karin Bruder, „Primo findet Hex Rex“, G. Braun Buchverlag, Karlsruhe, 2010, 96 Seiten, 10,00 Euro, ISBN 978-3-7650-8586-4.

Zusammen allein: Roman (Reihe
Karin Bruder
Zusammen allein: Roman (Reihe Hanser)

dtv Verlagsgesellschaft
Broschiert

Jetzt bestellen »

Primo findet Hex Rex
Karin Bruder
Primo findet Hex Rex

Der Kleine Buch Verlag
Broschiert

Jetzt bestellen »

Schlagwörter: Rezension, Jugendbuch, Kinderbuch, Securitate, Revolution

Bewerten:

16 Bewertungen: ++

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.