20. August 2012

Die Scheherezade von Baltschik

Der aus Pommern stammende, in Berlin lebende Felix Kannmacher entgeht im Herbst 1934 in dem „Judenlokal“, in dem er als Barpianist arbeitet, nur knapp den Schergen der Nazis und wird vom rumänischen Konzertpianisten Victor Marcu in letzter Sekunde gerettet und nach Bukarest geschmuggelt. Dort lebt er fortan als aus Kronstadt stammender Siebenbürger Sachse Johann Gottwald im Hause Marcus, der ihn als „Kinderfrau“ für seine 13-jährige Tochter Virginia angestellt hat. Das grausame Kind ist altklug, manipulativ und verwöhnt und kommandiert Felix herum – was dieser geschehen lässt, geschehen lassen muss, da er auf das Wohlwollen der Familie angewiesen ist.
Juli 1935: Felix Kannmacher erreicht in Begleitung seines Retters Victor Marcu, dessen Tochter Virginia, des Konzertagenten Bubi Giurgiuca, des Dandys Haralamb Vona und des Fahrers Titi den Golf von Baltschik: „Es war eine atemberaubende Aussicht, die man von der Felskante aus auf das Meer hatte, das sich kobaltblau gegen den Horizont dehnte und am Ufer aus glitzerndem Silber war. Schwarze Boote verließen den Hafen, von Ruderern mit roten Fezen bewegt, und um ein Dampfschiff, das ruhig seine Bahn vor der Sonne zog, sprangen Delphine. Baltschik war umgeben von Bergen. Gegen die kahlen, im Sonnenschein flackernden Kalkfelsen wirkte das Tal um so lieblicher. Im Dickicht aus Efeu, Glyzinien, wildem Wein, Bougainvillea, Kakteen, Platanen und Zypressen blinzelten weiße und gelbliche Mauern, linsten Kamine und schwarzrote Schindeln, Minarette und goldene Kuppeln.“ Felix möchte gern den ganzen Tag Kaffee trinkend unter dem Feigenbaum auf der Steinterrasse sitzen und die Sommerfrische genießen, aber er hat die Rechnung ohne Virginia gemacht, die tagein, tagaus neue Geschichten von ihm verlangt. Andernfalls sieht sie sich gezwungen, ihren „kobaltblauen Augen wie der Golf von Baltschik“ ein paar Tränchen abzupressen und sich beim Vater zu beschweren – Strafe muss schließlich sein, und wer nicht hören will, muss fühlen.

Und so erzählt „Herr Felix“ von der heimischen Standuhr, „mindestens einhundert Jahre alt“, die ein seltsames Eigenleben führt, von Doktor Dehmel und seiner Studie, „die alle erblichen Leiden der Herrscherfamilien Europas auflistete“, von Wilhelm, „dem Zwoten“, und einer Riesenkanone – „Isses ein Scherz, mein Jott? Isses Humor an der Heimatfront, Jottojott?“ – und vom goldenen Wal, der eintausend Jahre alt ist und seine Heimat verlässt, „als seine Walfrau den Fischern ins Netz ging“. Er erzählt um sein Leben – und wird doch eines Tages von Marcu als „Ratte, Spitzel, mieser Spion“ vor die Tür gesetzt, was Virginia, die gar nicht so abgebrüht ist, wie sie sich gibt, fast das Herz bricht.

Sein Erspartes reicht für ein paar Tage in einer billigen Pension, dann irrt er durch die Straßen der rumänischen Hauptstadt: „Bukarest, quirlig und quecksilbrig, fiebrig und lumpig, verkommen und rein. [...] Bukarest roch nach Pflaumenschnaps, Weihrauch und Kerzenwachs, Mandelmilch, Hundekadavern und Eisen, Auberginen auf dem Feuer, nach Puffmais, Rasierwasser, Veilchen und Kernseife, Flieder, Glyzinien und uraltem Staub.“ Zum Glück trifft er auf den Kasinobesitzer Aristide Slumowitz, der ihn von einer Zusammenkunft bei Victor Marcu kennt und als Kellner in seinem Kasino anstellt. Der findige Geschäftsmann macht ihn nicht nur mit seinem bauernschlauen Onkel Avram, der ein kleines Lokal besitzt, bekannt, sondern auch mit dem zweigesichtigen „Gott des Massels und Schlamassels“, der Felix fortan begleiten wird. Zunächst aber zeigt sich dieser als Gott des Begehrens: Ecaterina, Elvira, Olimpia, Paraschiva sinken in seine Arme (und in sein Bett), bis er Jeni, die trauernde Witwe des armenischen Kaffeehausbesitzers Ayk, trifft und sich in der Wohnung über dem Café Serail um ihr Seelenheil kümmern muss, denn sie pflegt eine ganz beson­dere Beziehung zu ihrem verstorbenen Gatten. Felix muss im Verlauf der Geschichte noch mehrmals gerettet werden und lernt weitere Wohltäter kennen, von denen manche willkommen sind und andere nicht. Haralamb Vona begegnet ihm wieder und gibt ihm Obdach und eine Arbeit, sein pommerscher Onkel Alfred Heise, Handelsbeauftragter der Deutschen Botschaft in Bukarest und strammer Nazi, nimmt ihn unter seine Fittiche, was er nur äußerst widerwillig geschehen lässt, und an einem „flirrenden Tag im Mai“ trifft er auch Virginia wieder, „in luftigem weißem Kleid, das sich im Wind bauschte“, zurückgekehrt aus einem Schweizer Internat und nicht mehr das verwöhnte Kind von einst, sondern eine selbstbewusste junge Frau, die Schauspielerin werden will und „unternehmungslustig, rastlos im Einsatz und niemals allein“ ist. Beider Treffen, bei denen Felix ganz freiwillig Geschichten erzählt, finden heimlich statt, denn Virginias Vater Victor Marcu ist unberechenbar, und eine seiner Launen könnte den Pommern Felix Kannmacher und den Siebenbürger Johann Gottwald das Leben kosten.

Vor dem Hintergrund der wechselvollen rumänischen Geschichte in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erzählt Jan Koneffke ein fantastisches Lügenmärchen – und eine Liebesgeschichte, die bis in die Gegenwart reicht. Königin Maria und Karl (Carol) II., Codreanu und die Eiserne Garde, der Gardistenputsch und General Antonescu, Nazis und Kommunisten ziehen an Felix und dem Leser vorbei wie in einem Rausch. Koneffke, der 1960 in Darmstadt geboren wurde, hat für seinen Roman gründlich recherchiert. Mithilfe eines Grenzgänger-Stipendiums der Robert Bosch Stiftung ist er nach Baltschik gereist, das an der bulgarischen Schwarzmeerküste liegt, aber von 1913 bis 1940 zu Rumänien gehörte und in dieser Zeit eine gewisse Berühmtheit errang, weil Königin Maria sich hier ab 1924 ein Schloss mit Botanischem Garten bauen ließ. Rumänische Adlige und Künstler zog es in den 20er und 30er Jahren an die Küste in den Dunstkreis der Monarchin, deren Herz nach ihrem Tod 1938 in der Schlosskapelle aufgebahrt wurde. Weitere Recherchen führten den Autor, der mit der Architektin Cristina Moisescu verheiratet ist, nach Bukarest, wo er in Antiquariaten stöberte und alte Postkarten, historische Reiseführer und Stadtpläne mit Restaurant-, Institutionen- und Firmenverzeichnissen zusammentrug. „Die sieben Leben des Felix Kannmacher“ ist eine Art Spin-off des 2008 erschienenen Romans „Eine nie vergessene Geschichte“, in dem Koneffke, der abwechselnd in Bukarest, Wien und Măneciu lebt, ein Porträt der Familie Kannmacher zeichnet; Felix, einer der vier Söhne, ist nun zum Protagonisten aufgestiegen und wird vom Autor von 1934 bis ins Jahr 2011 begleitet.

Jan Koneffke, der Träger zahlreicher Literaturpreise ist (unter anderem Leonce-und-Lena-Preis für Lyrik, Friedrich-Hölderlin-Förderpreis, Offenbacher Literaturpreis), hat mit seinem jüngsten Werk ein anspruchsvolles und unterhaltsames Buch vorgelegt, das angesichts der Kriegswirren, die den Hintergrund eines Großteils der Geschichte ausmachen, nicht immer für gute Laune sorgt, aber dennoch höchst amüsant und wunderbar zu lesen ist. Figurenzeichnung, Sprache, Atmosphäre – alles stimmt, und keine der über 500 Seiten ist zu viel.

Doris Roth




Jan Koneffke, „Die sieben Leben des Felix Kannmacher“, DuMont Verlag, Köln, 2011, 510 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-8321-9585-4.
Die sieben Leben des Felix Kan
Jan Koneffke
Die sieben Leben des Felix Kannmacher: Roman

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Schlagwörter: Rezension, Roman, Geschichte, Rumänien

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