19. Mai 2014

Ein Sammelband über Heimatsuche und Heimatgefühl

Ob man sie schätzt oder versucht, sich von ihr zu befreien: die Heimat trägt man stets in sich, man ist von ihr geprägt, man nimmt sie zutiefst subjektiv wahr und kann ihr nicht gleichgültig gegenüberstehen. Verliert man sie, so verliert man mit ihr einen Teil der eigenen Identität.
Es gibt im Grunde genommen so viele Heimaten wie Persönlichkeiten und Perspektiven. Darauf weist der im Mitteldeutschen Verlag erschienene Sammelband „Heimat. Abbruch – Aufbruch – Ankunft“ hin, den Ingeborg Szöllösi im Auftrag der Deutschen Gesellschaft e. V. herausgegeben hat. Die Textsammlung ist das Ergebnis einer Konferenz, die im Oktober 2012 in Klausenburg stattfand und an der sich Schriftsteller, Professoren, Wissenschaftler und Künstler – beinahe alle mit persönlichem Siebenbürgen-Bezug – beteiligten. Mit besonderem Blick auf die Erfahrungen der deutschen Minderheit in Rumänien tauschten sie sich über den Begriff „Heimat“ aus – und es wundert nicht, dass ihre nun veröffentlichten Texte beinahe einstimmig die Heimat in und rund um Siebenbürgen lokalisieren, selbst wenn einzelne Lebensmittelpunkte längst woanders etabliert sind.

Ein großes Verdienst des Bandes ist seine interdisziplinäre und multikulturelle – man möchte sagen: „siebenbürgische“ – Perspektive, die es dem Leser ermöglicht, eine Vielfalt von Ansichten, Heimatverständnissen und -definitionen kennenzulernen, und ihn gleichzeitig zum Selberdenken und -deuten einlädt. Wie sich die Herausgeberin im Vorwort wünscht, soll der Band für das Publikum zugleich „Auskunft und Ansporn“ sein. Beides gelingt einwandfrei.

Die überarbeiteten, erweiterten, ergänzten Konferenzbeiträge sind in vier Sektionen gruppiert. Sie unterscheiden sich wesentlich in Schreibton, Stil und Gedankengängen, haben jedoch gemeinsam, dass sie sich dem Thema mit Respekt, Empfindsamkeit und Zartgefühl annähern.

Einleitend zum Kapitel „Heimat – eine Grenzbestimmung“ erläutert Konrad Gündisch die Widersprüche des Vertriebenen-Status anhand der Frage „Bin ich ein Vertriebener?“ und eines tiefgehenden Blicks in das Bundesvertriebenengesetz. Eine eindeutige Antwort lässt sich nicht finden, denn rechtlich gesehen sind die „ausgewanderten“ Rumäniendeutschen, in chronologischer Reihenfolge: Umsiedler, Flüchtlinge, Vertriebene oder Heimatvertriebene, Aussiedler oder Spätaussiedler – Als was man sich selbst versteht, bleibt offen. Der Komponist Hans Peter Türk lässt seine Musik von der Heimat sprechen und analysiert das „Wechselspiel zwischen Volkslied und Kunstmusik“, wobei Ersteres als „musikalische Muttersprache“ (S. 24) definiert wird. Auch Günter Czernetzky trägt mit seiner Kunst zum Gemeinschaftswerk bei, indem er Auszüge des Filmprotokolls „Wunden – Erzählungen aus Transsilvanien“ veröffentlicht. Einprägsam ist die Aussage eines Interviewten aus Honigberg im Burzenland: „Es sind wenige noch, die den Mut haben, hier zu leben“ (S. 32). „Wir leben hier, wir harren nicht aus!“ (S. 35) entgegnet die Journalistin und Tagungsmoderatorin Beatrice Ungar in ihrem kurzen, schlichten Text. Den (abwertenden) Bezeichnungen „Heruntergekommene“ für Rückkehrer und „Zurückgebliebene“ für nicht Ausgewanderte stellt sie die Aussage gegenüber, dass Lob weder jenen gebührt, „die ihre Heimat verlassen und es in der Fremde geschafft haben, noch jenen, die in ihrer Heimat leben“.

Eine Definition der Heimat aus Sicht des Geografen liefert Wilfried Eckart Schreiber im ersten Beitrag der Buchsektion „Lebenswelt – Lebensgefühl“: „Heimat ist ein Ort oder ein Gebiet in gegebenen Grenzen, dessen Landschaft und Menschen sich im Einklang befinden, einem vertraut oder gewohnt sind und einen prägen“ (S. 45). Einen ähnlichen Standpunkt, doch rührender in seiner literarisch umschriebenen Demut und Dankbarkeit, steuert Joachim Wittstock bei. Anhand eines erstmals 1994 erschienenen Textes erläutert er den Begriff der Nähe in zehn Paragraphen, von denen insbesondere einer wie ein Gebot der Heimatliebe klingt: „Beachte die Häuserzeilen, die dich täglich geleiten, den kunstvoll gemeißelten Taufstein und die Verzierungen des Chors, den Waldsaum und auch die einzelnen Stämme der Buchen, zwischen denen du schreitest. Nimm ab und zu ein Blatt in die Hand, einen Zweig und betrachte sie“ (S. 62). Nicht minder intensiv ist seine Schlussfolgerung, in der er feststellt, dass Heimat „bloß über wenige Argumente“ verfügt und sich geschwind zurückzieht „wo es darum geht, in einem Pro und Contra zu bestehen“. Schließlich bestätigt Hans Bergel, dass „nichts in uns“ empfindlicher auf aggressive Eingriffe reagiert als das Heimatgefühl (S. 66).

Einer der eindrucksvollsten Texte ist jener von Ana Blandiana, der das Kapitel „Heimat – das literarische Refugium“ eröffnet. Die Schriftstellerin gibt dem Leser ihr persönliches, intimes Plädoyer für das Bleiben preis. Eines ihrer Argumente, neben jenem der nur daheim möglichen literarischen Produktivität: „Mir schien, wenn ich ginge, legitimierte ich dadurch Ceaușescu“ (S. 73). Die Autorin, die den Heimatbegriff im Spannungsfeld „zwischen Liebe und Freiheit“ (S. 71) verortet, schildert ihre Begegnung mit dem im Pariser Exil lebenden Emil Cioran, der sie mit seiner heftigen Sehnsucht nach der Heimat überrascht hatte.

Verlust, Nachklage, Desillusionierung, Heimatlosigkeit, Exil, das verlorene oder auseinanderbröckelnde Zuhause ergeben sich als thematischer Mittelpunkt der literarischen Analyse, der Michael Markel einige Texte von Franz Hodjak, Werner Söllner und Franz Heinz unterzieht. Auch hier wird auf eindrucksvolle Weise deutlich, wie viel Gefühl und wie starke Erinnerungen mit der Heimat verbunden werden. Etwa auch in dem Beitrag von Gert Fabritius, der die vierte und letzte Sektion des Bandes, „Aufbruch –Ankunft – Aufbruch“, eröffnet. Er interpretiert Begegnungen und Trennungen, inklusive jene, die in Zusammenhang mit der Heimat stehen, als „Schnittpunkte“, „Gabelungen“, „Kreuzungen“, die sich künstlerisch produktiv umsetzen lassen, ja überhaupt den Ansporn zur kreativen Arbeit liefern. Auch findet er seine Heimat in der Kunst, losgelöst von konkreten Orten und zeitgenössischen politischen Realitäten. Gert Fabritius‘ Zeichnung „Heimat, wofür brauche ich dich?“ aus den „Tagebuch-Auf-Zeichnungen (eines Unbefugten)“ schmückt übrigens auch den Umschlag des Sammelbandes, weitere Werke von ihm (z.B. „Transportable Heimat“, 2000) illustrieren in Farbdruck seinen Text. „Es ist genug Heimat für alle da“, bringt es der Germanist und Tagungsmoderator Georg Aescht zum Abschluss des Bandes auf den Punkt. Seine Konklusion könnte zum Motto des gesamten Buches genommen werden: „Das Schöne und das Schwierige an der Heimat ist, dass sie aus Menschen besteht, auch wenn sie nicht mehr in derselben leben“ (S. 153).

Die Texte sind mit den Kurzbiografien aller Autoren ergänzt, und die hohe Druckqualität trägt dazu bei, dass die Lektüre große Freude bereitet. In dem von Ingeborg Szöllösi mit Präzision und Hinwendung betreuten Gemeinschaftswerk liegt den Siebenbürgen-Interessierten und den Heimat-Suchenden ein wertvolles Buch vor, das vieles, doch längst nicht alles zusammenfasst, was dieses endlose Thema an Fragen aufwirft.

Christine Chiriac


Ingeborg Szöllösi (Herausgeberin), „Heimat. Abbruch – Aufbruch – Ankunft“, Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), 2014, 160 Seiten, ISBN 978-3-95462-128-6, Preis 14,95 Euro, erhältlich im Buchhandel oder online, z.B. unter www.mitteldeutscherverlag.de.
Heimat: Abbruch, Aufbruch, Ank
Ingeborg Szöllösi
Heimat: Abbruch, Aufbruch, Ankunft

Mitteldeutscher Verlag
Taschenbuch
EUR 14,95
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Schlagwörter: Heimat, Sammelband, Siebenbürgen, Rezension

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