2. Dezember 2014

„Die kleine Bukowina“

Zur Veranstaltungsreihe „Die Bukowina im 20. Jahrhundert“ hatten das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e.V. (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, das Lyrik Kabinett sowie die Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der LMU und der Universität Regensburg im November eingeladen. In Zusammenarbeit mit der Jurij Fedkowytsch-Universität Czernowitz/Tscherniwzi, Ukraine, mit der das IKGS am 25. Juni dieses Jahres einen Kooperationsvertrag unterzeichnet hatte, fanden zwei Vorträge, einer davon mit Gedichtrezitationen, statt. Eine ukrainische Delegation der Universität Czernowitz mit deren Rektor Prof. Dr. Stepan Melnychuk war eigens dafür nach München gereist.
Am 17. November trafen sich zahlreiche Interessierte im Münchner Lyrik Kabinett zum Vortrag „Ahasver in der Bukowina. Verfolgung und Vertreibung im Spiegel der Lyrik von Rose Ausländer“ von Dr. Oxana Matiychuk, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte und Literaturtheorie der Jurij Fedkowytsch-Universität Czernowitz. Ihr zur Seite saß der Literatursprecher Helmut Becker, der die kongeniale Rezitation einiger Gedichte – nicht nur von Rose Ausländer, sondern auch von Paul Celan, Immanuel Weißglas, Alfred Kittner und Klara Blum – übernahm. Nach der Begrüßung durch den Geschäftsführer des Lyrik Kabinetts, Dr. Holger Pils, und die wissenschaftliche Mitarbeiterin des IKGS, Dr. Enikő Dácz, gab Dr. Oxana Matiychuk einen kurzen Abriss über die wechselvolle Geschichte der Bukowina, die 1775 als Kronland zu Österreich-Ungarn kam und nach mehreren Machtwechseln zwischen Rumänien, Deutschland und der Sowjetunion schließlich 1947 geteilt wurde. Der nördliche Teil gehört seitdem zur UdSSR (seit 1991 Ukraine), der südliche zu Rumänien. Dem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum Czernowitz entstammen zahllose jüdische Schriftsteller, unter ihnen auch Rose Ausländer, die 1901 dort geboren wurde. Die „Nomadin wider Willen“ lebte unter anderem in Czernowitz, Budapest, Wien und New York, bevor sie sich 1965 in Düsseldorf niederließ, wo sie 1988 starb.

Entstehungsgeschichte und Motivik ihres Gedichts Le Cháim, das 1967 im Band „36 Gerechte“ veröffentlicht wurde, waren Thema des Vortrags von Dr. Matiychuk, die 2010 am Taras-Schewtschenko-Institut für Literatur der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiew promovierte. Die Mitbegründerin (2009) und Leiterin der Ukrainisch-Deutschen Kulturgesellschaft stellte die fünf bekannten Fassungen des Gedichts vor und ging auf die Figur des Ahasver ein, die bereits 1228 – noch namenlos – in einer Legende auftauchte und 1602 unter dem Namen Ahasverus als ewiger Jude oder Wanderer in ganz Europa bekannt wurde. Im Spiegel der Ereignisse des 20. Jahrhunderts – die meisten Juden aus der Bukowina wurden während des Zweiten Weltkriegs in die Konzentrationslager in Transnistrien deportiert – entwickelt sich die Figur des Ahasver zu einem Symbol für das kollektive Schicksal des jüdischen Volkes. Das ständige Hin- und Herreisen, Fliehen, Zurückkehren, das ewige Wandern eben kannte auch Rose Ausländer, was sich in Sprache und Komposition ihres Gedichts Le Cháim exemplarisch widerspiegelt, wie die Referentin belegte. Die Rezitation des Gedichts durch Helmut Becker unterstrich eindrucksvoll deren Ausführungen.

Am 18. November hielt Prof. Dr. Petro Rychlo, Professor am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte und Literaturtheorie der Jurij Fedkowytsch-Universität Czernowitz, einen leider nur spärlich besuchten Vortrag über „Interethnische und interkulturelle Beziehungen in der Bukowina 1918-1940“ in der LMU. Mitveranstalter des Abends war die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e.V. In seiner Begrüßung bezeichnete der kommissarische IKGS-Direktor Hon.-Prof. Dr. Konrad Gündisch die Veranstaltung mit Blick auf das aktuelle politische Gesche­hen als „Solidaritätsbekundung für die Ukraine“. Prof. Dr. Petro Rychlo sei eine Koryphäe auf dem Gebiet der Bukowina-Forschung und ein ausgewiesener Celan-Experte; durch seine reiche Übersetzertätigkeit ermögliche er eine fruchtbare ukrainisch-deutsche Kooperation und erfülle so eine wichtige Mittlerfunktion.

Prof. Rychlo bedankte sich für den freundlichen Empfang für ihn, der von weit her gekommen sei, aus der Ukraine, die gerade gegen die „imperialistischen und chauvinistischen Ansprüche Russlands“ kämpfe. Zentrales Thema seines Vortrags war die Funktion der Bukowina als Bindeglied zwischen nationalen Kulturen, zwischen Ost und West, ihre Multikulturalität und deren Auswirkungen auf die dort lebende Bevölkerung, besonders auf die zahlreichen Literaten, von denen etliche überregionale, einige sogar Weltbedeutung erlangten. Das Deutsche als überregionale Kultur der Bukowina mit vermittelnder Rolle synthetisierte die kulturellen Bestrebungen der verschiedenen Völker. Das gute halbe Dutzend Ethnien in der Hauptstadt Czernowitz – neben Deutschen und Österreichern lebten dort unter anderem Ukrainer, Rumänen, Juden, Polen und Armenier – sorgte für eine Atmosphäre zwischennationaler Toleranz, die mit der Machtübernahme Rumäniens 1918 und der staatlich verordneten Rumänisierung einen ersten Dämpfer erhielt; besonders augenfällig und einschneidend war diese Veränderung im Schulwesen. Die antisemitischen Tendenzen der rumänischen Regierung in den 1930er Jahren und die Gründung des „Deutschen Volksbunds der Bukowina“ 1933 sorgten für zusätzliche Spannungen und mündeten zwischen 1941-1944 in die Einrichtung von Ghettos, Arbeitslagern und schließlich die Massendeportationen nach Transnistrien.

Auf die Literaten der Bukowina hatten die Reibungen, das Konkurrenzdenken der verschiedenen Völker und Kulturen untereinander sowie die Sprachvielfalt großen Einfluss. Die meisten Schriftsteller beherrschten zwei oder drei Sprachen und bewiesen eine ausgeprägte linguistische und ethnologische Sensibilität; sprachliche Interferenzen in syntaktischer, morphologischer u.a. Form sind im Werk vieler Bukowiner Autoren zu finden, so bei Gregor von Rezzori, Rose Ausländer, Alfred Gong und Paul Celan. Nicht außer Acht lassen sollte man bei aller Vielfalt und Toleranz das so genannte Czernowitz-Syndrom: die Idealisierung von Kindheit und Jugend im Werk einiger Bukowiner Autoren, die ihre Heimat früh verlassen oder nur sporadisch dort gelebt und besonders die Gräuel der 1940er Jahre nicht am eigenen Leib erfahren haben. Nur eine synoptische Übersicht unter Beachtung der diachronischen und synchronischen Beziehungen könne, so Prof. Rychlo, eine Vorstellung vom Reichtum dieser Multikultur geben. „Die kleine Bukowina“, sagte er abschließend, „hat vielleicht zum ersten Mal so deutlich und überzeugend demonstriert, wie produktiv das harmonische Zusammenleben mehrerer Völkerschaften sein kann, die durch gegenseitige Sympathie und humanistische Kultur verbunden sind, und wie unheilvoll die Bestrebung ist, andere Völker unterwerfen zu wollen.“

Doris Roth

Vortrag von Prof. Rychlo als pdf-Datei

Schlagwörter: Bukowina, Veranstaltungen, München, Literatur, Geschichte

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