11. Dezember 2014

Wörterhunger/Herta Müller beim Literaturfest München

Wenn eine Literaturnobelpreisträgerin ihr neues Buch vorstellt, ist der Andrang groß. Dass die Große Aula der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, die Platz für über 700 Menschen bietet, am Abend des 4. Dezember bis auf die letzte Treppenstufe gefüllt war, erstaunte die beiden Protagonistinnen aber doch. Herta Müller, klein, schmal, wie gewohnt ganz in Schwarz, wirkte fast verschüchtert, als sie durch den Saal zur Bühne ging. Im Rahmen des Literaturfestes München stellte die aus dem Banat stammende Autorin ihr neues Buch „Mein Vaterland war ein Apfelkern“ vor; die Literaturkritikerin Sigrid Löffler, bekannt aus dem „Literarischen Quartett“, führte klug und fundiert durch das Gespräch.
Als summum opus bezeichnete die Moderatorin Müllers neues Buch, in dem diese in einem langen Gespräch mit der Publizistin Angelika Klammer ihr Leben Revue passieren lässt: von der Kindheit im banatschwäbischen Nitzkydorf über das Erwachen des politischen Bewusstseins und die Repressalien durch die rumänische Securitate bis zu ersten Berührungen mit Sprache und Literatur, skandalumwitterten Veröffentlichungen und schließlich der Verleihung des Nobelpreises in Stockholm 2009. Dort begann sie ihre Tischrede mit den programmatischen Sätzen: „Der Bogen von einem Kind, das Kühe hütet im Tal, bis hierher ins Stadthaus von Stockholm ist bizarr. Ich stehe (wie so oft) auch hier neben mir selbst.“ Dieses Neben-Sich-Stehen, so wurde an diesem Abend in München deutlich, hat seinen Ursprung in Herta Müllers Kindheit. Als Einzelkind auf dem Land aufgewachsen, fühlte sie sich fremd; die „große, surreale Welt“ mit den Heiligenfiguren in der Kirche, dem eindringlich vor Sünde warnenden Pfarrer, dem ständigen Streit der Eltern, ausgelöst durch die Trunksucht des Vaters, diese Welt, in der sich „keiner um mich gekümmert hat“, betrachtete sie von außen, suchte sich der Natur anzugleichen, sie sich einzuverleiben, indem sie Pflanzen aß, kaschierte so ihre inneren Zweifel und schärfte ihre Sinne. „Unsicherheit ist ein guter Lehrer für Beobachtung.“
Sigrid Löffler (links) sprach in München mit ...
Sigrid Löffler (links) sprach in München mit Herta Müller über ihr neues Buch „Mein Vaterland war ein Apfelkern“. Foto: Gunter Roth
Eine fundamentale Änderung im Denken, Fühlen und Verstehen brachte der Besuch des Gymnasiums in Temeswar mit sich. Nicht nur der Enge des heimatlichen Dorfes konnte Herta Müller so entfliehen, sondern es tat sich ihr auch eine neue Welt auf: die der Sprache, die der Literatur. Bücher gehörten von nun an zu ihrem Leben, und das Erlernen des Rumänischen eröffnete ihr eine ungeahnt reiche und vielschichtige Ausdrucksweise. „Die Sprache hat mir geschmeckt“, so Müller, „Rumänisch ist sehr bildhaft, es passt besser zu mir.“ Die für sie so charakteristische Poetik und Metaphorik entwickelte sich aus dem Spannungsfeld zwischen dem banatschwäbischen Dialekt, dem Hochdeutschen und eben dem Rumänischen, dessen viele sprachliche Ebenen für sie Freiheit bedeuteten und dessen Sprichwörter und idiomatische Wendungen sich in transformierter Form in allen Texten Herta Müllers finden. Besonders augenfällig ist das in ihren Gedichtcollagen, von denen inzwischen drei Bände vorliegen. Beim Ausschneiden, Zusammenlegen und Kleben stillt die Autorin ihren Hunger auf Wörter, beobachtet, was passiert, „wenn die Sprache mit sich selbst kommuniziert“, und fragt sich, welches Naturell ein Wort hat, denn „jedes ist ein Individuum“.

Nicht nur literarisch, sondern auch politisch geprägt war der Abend mit Herta Müller. Befragt nach den Verhören und Verfolgungen durch die Securitate, die sich wie ein roter Faden durch ihr Werk ziehen, ja geradezu ein Lebensthema sind, und ob sie irgendwann an den Punkt komme, an dem sie das alles hinter sich lassen könne, antwortete die Autorin: „Was ist schon alles? Gibt es ein alles?“. Die Verleumdungskampagne der Securitate in den 1980er Jahren, als der Band „Niederungen“ – wenn auch zensiert – in Deutschland erschienen war und ein erdbebengleiches Echo in der deutschen Literaturszene auslöste, setzte ihr zu. Zu Preisverleihungen ließ man sie nach Deutschland reisen, streute jedoch gezielt die falsche Information an deutsche Medien, sie sei ein Spitzel der Securitate – ein perfider Plan, in den auch „die Landsmannschaft“, wie Herta Müller sagte, involviert war, der aber „zum Glück“ nicht aufging. Aus Loyalität zu ihren Freunden aus der Aktionsgruppe Banat blieb sie nicht im Westen, sondern kehrte immer wieder zurück nach Rumänien; auch dort, mit den literarisch-politischen Weggefährten, war „ein abschüssiges Glück“ möglich. „Wir waren so zynisch, so drastisch, haben so viel Blödsinn gemacht und gelacht – es waren Exzesse.“

Exzessiv war auch der Abschluss des Abends: Herta Müller schrieb geduldig, bis auch der letzte in der langen Schlange ein signiertes Buch der Nobelpreisträgerin mit nach Hause nehmen konnte.

Doris Roth

Schlagwörter: Herta Müller, Lesung, München

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