14. Dezember 2014

Heimat- und Regionalgeschichte am Beispiel von Mediasch

Vom 14. bis 16. November 2014 fand in Bad Kissingen eine Tagung der Akademie Mitteleuropa zur „Heimat- und Regionalgeschichte“ der Stadt im Weinland statt. Mediasch = Mediaș! Der Ansatz war nicht nur ein historischer: Vielmehr wurde der – sehr erfolgreiche – Versuch unternommen, den Blick auf die Vergangenheit mit der lebendigen Gegenwart zu verknüpfen und Visionen für die Zukunft der Stadt und ihrer einstigen und gegenwärtigen Bewohner vorzustellen. Mediasch = Mediaș! In der gastfreundlichen und kreativen Atmosphäre des Heiligenhofs und herzlich begrüßt von Studienleiter Gustav Binder trafen sich über 60 Mediasch-Interessierte aus Deutschland und Rumänien, um „ihre“ Stadt in einigen Vorträgen, aber auch künstlerischen Darbietungen näher kennenzulernen.
Eine Brücke zwischen dem Hier und Jetzt und der Vergangenheit spannte der Einführungsvortrag von Dr. Hansotto Drotloff. Seine Zusammenstellung von Ansichten der Stadt Mediasch aus verschiedenen Jahrhunderten, begleitet von den Pendants der Gegenwart, zeigte eines ganz deutlich: Immer wieder war der Ort Veränderungen unterworfen, die von den Bewohnern teils begrüßt und gewünscht waren, teils aber zähneknirschend hingenommen werden mussten. Manch hochfliegender Plan blieb unausgeführt, Alltägliches überlebte. Im Großen und Ganzen aber hatte das Schicksal ein Einsehen mit dem in sich runden Ensemble der Stadt und ihren markanten Punkten – der Margarethenkirche, dem Stephan Ludwig Roth-Gymnasium, dem Marktplatz, der Stadtmauer und ihren Türmen. Auch wenn heute einige Mauern verfallen – so das Fazit –, hat sich die Stadt ihren Charme bewahrt. Noch immer lässt sich ihre reiche Geschichte an den Fassaden der Häuser ablesen, noch immer wird jeder Gast in der Stadt von einem heimeligen Gefühl erfasst, auch wenn heute ein anderes Leben in ihr pulsiert. Etwas aus dieser Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen, war das Ziel der folgenden Vorträge.

Die Gedenkkultur, aber auch Schrecken und Sinnlosigkeit des Ersten Weltkrieges manifestieren sich in einem Dokument, das Albert Klingenspohr vorstellte. Das „Ehrenbuch der Kriegsteilnehmer von 1914-1918 der evangelischen Kirchengemeinde Mediasch“, kurz nach dem Ersten Weltkrieg vom Volksschullehrer Michael Braisch zusammengestellt, fasst in mehreren Alben die Schicksale der 93 verstorbenen und der überlebenden (ev.) Mediascher Soldaten anhand von Bilddokumenten und autobiografischen Frontberichten zusammen. Diese einzigartige Quelle wird durch Digitalisierung zugänglich gemacht. Projektbeteiligte sind die Evangelische Kirchengemeinde Mediasch, das IKGS München, Diana und Cătălin Mureșan, Albert Klingenspohr, Wolfgang Lehrer und Hansotto Drotloff. Dazu wurde die Ausstellung des IKGS „Aus der Werkstatt des Krieges“ vorgestellt, durch die die Mediascher Erinnerungen in einen gesamtsiebenbürgischen Kontext gestellt wurden.

Gerhard Pauer referierte über „Hexenprozesse im 17. Jahrhundert in Mediasch“. Anhand von Abschriften aus Prozessakten des Jahres 1693 schilderte er die Vorgänge rund um acht der Hexerei bezichtigte Frauen, die in Mediasch und Umgebung zu Opfern von Intoleranz, gegenseitiger Verleumdung und Aberglauben wurden. Wie an anderen Orten stand und fiel ihr Schicksal mit der Intention des weltlichen Richters, der nicht nur die Strafe formulierte, sondern auch die Entscheidungsgewalt über die Verwendung des Vermögens der „Hexen“ besaß.
Tagung in Bad Kissingen: Mediascher „Oktettler“ ...
Tagung in Bad Kissingen: Mediascher „Oktettler“ von hüben und drüben musizieren unter der Leitung von Edith Toth. Foto: Hansotto Drotloff
Das Phänomen des „Coetus“ beschrieb Helmuth Knall, Historiker und Lehrer am Stephan Ludwig Roth-Gymnasium, in seinem Vortrag „Aus der Geschichte der Schülerselbstverwaltung am Mediascher Gymnasium“. Die einschlägigen Auszüge aus den Schulprotokollen sorgten stellenweise für überschwängliche Heiterkeit im Publikum, denn die Schüler schienen ihre Selbstverwaltung auch dazu genutzt zu haben, im Kreis Gleichgesinnter fernab von Eltern und Lehrern feuchtfröhlich über die Stränge zu schlagen. Als allerdings einige Schüler beim heimlichen Bordellbesuch und bei Raufereien „erwischt“ wurden, sah sich die Schule zur Auflösung des Coetus und zur Verhängung drastischer Strafen (wie dem Absitzen von Strafstunden im Schulkarzer) gezwungen. Erneute Versuche der Schüler, darunter auch Richard Csaki, den Coetus und damit ein unabhängiges Schülergremium unter anderem Namen quasi „durch die Hintertür“ wieder zu installieren, scheiterten.

Dr. Hansotto Drotloff widmete sich dem Thema „Hermann Kirchner – Musik ohne Grenzen im Weinland und drum herum“. Die Tatsache, dass der Thüringer „Import“ Hermann Kirchner seine sieben Jahre in Mediasch als die glücklichsten seines Lebens empfand und gemeinsam mit Carl Römer für die Komposition des Liedes „Bäm Hontertstreoch“, das von Mediasch aus die Welt eroberte, verantwortlich zeichnete, bildete den Ausgangspunkt für eine größer angelegte Biografie des Künstlers, die durch zahlreiche Abbildungen akzentuiert wurde. Der Vortrag breitete Details zu Kirchners Hermannstädter Tätigkeit für den dortigen sächsischen Männergesangverein und den rumänischen Männerchor aus, zeigte aber auch den „unbekannten“ Kirchner und seine originär rumänisch-textierten Kompositionen sowie die rumänische Variante des „Hontertstreoch“, „Sub crengi de soc“, die heute nur noch in einer einzigen bekannten Quelle in der Astra-Bibliothek Hermannstadt vorliegt. Diese rumänische Fassung konnten die Zuhörer in einer Videoaufnahme erleben, gesungen (unter Leitung von Edith Toth) von Schülerinnen und Schülern der Hermann Oberth-Schule Mediasch, die der eingängigen Melodie offensichtlich ebenfalls „verfallen“ waren – so begeistert schmetterte der Kinderchor das Lied. Noch wenig bekannt dürften den Seminarteilnehmern Kirchners ethnologische Forschungen auf dem Gebiet rumänischer Volksmusik und die nahe Verbindung zum rumänischen Königshaus nach seinem siebenbürgischen Aufenthalt sowie seine musikdidaktische Tätigkeit in Bukarest gewesen sein. Unter Kirchners Einfluss – so der Vortrag – begann die „Schülergeneration“ der jungen siebenbürgischen Komponistinnen und Komponisten, sich ebenfalls verstärkt mit dem Volksliedgut Siebenbürgens auseinanderzusetzen und dieses in kunstvolle mehrstimmige Sätze zu verweben. Kirchner – ein Künstler, der Musik als Instrument der Identitätsfindung, aber auch Völkerverständigung in Mediasch, Siebenbürgen und Rumänien vorlebte.

Den Reigen der Vorträge beendete das musikhistorische Referat „Fritz Schuller und der Mediascher Musikverein in den 1930er Jahren“ (Dr. Heike Lammers-Harlander), das den Gründungsgedanken des Musikvereins 1847 skizzierte und die daraus resultierende Gratwanderung zwischen künstlerischem Anspruch und machbarer Musikarbeit unter realen Bedingungen zeichnete, insbesondere ab den 1920er Jahren. Der auf Vorarbeiten zum Musikverein von Hans Zikeli, Gerhard Sooß, László Iszlay, Michel Tanase und Viorel Ștefu fußende Vortrag lenkte das Augenmerk auf die politisch und finanziell prekäre Zeit vor der Auflösung bzw. Gleichschaltung des Musikvereins zu Beginn der 1940er Jahre. Thematisiert wurden auch die Probleme im Hinblick auf die personelle Besetzung der parallel laufenden Mediascher Musikdirektorenstellen im Verein und am Stephan Ludwig Roth Gymnasium, besetzt durch Hans Wendel-Hammerstedt (Verein) und Fritz Schuller (Gymnasium).

Lebendige Gegenwart offenbarte sich in den künstlerischen Beiträgen der Tagung. Da zwei der Vorträge das Musikleben Mediaschs thematisierten, war es naheliegend, „originale“ Mediascher Musiker um ihren Auftritt zu bitten. Dank der großzügigen Förderung durch das Haus des Deutschen Ostens München und das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration konnten Sänger der beiden Formationen des „Mediascher Oktetts“ erstmals gemeinsam auftreten. Bedingt durch die Zersplitterung auch der Mediascher gibt es das Oktett, eine seit 1896 fast ununterbrochen bestehende Männerchor-Elite-Formation, heute zweimal: in der Heimat und in der Diaspora. Unter der einfühlsamen Leitung der Mediascher Organistin und Musiklehrerin Edith Toth brachten die Sänger der zwei Ensembles, zu denen sich auch Hedda Martin aus Hermannstadt gesellte, mehrstimmige Sätze aus dem Kunstliedschaffen namhafter siebenbürgischer Komponisten dar und sächsische Volkslieder aus dem Œuvre von Hermann Kirchner. Beide Ensembles führen damit eine Tradition fort, für die vor rund 120 Jahren, in der so genannten „Kirchner-Zeit“, der Grundstein gelegt wurde.

Schuster Dutz nicht nur einmal, sondern zweimal anders präsentierten zwei Lesungen. Rita Apfelbach-Kartmann und Rolf Kartmann rezitierten unbekannte – hochsprachliche – Gedichte des bekannten Mediascher Mundartdichters, die den Autor in einem ganz anderen, weniger launig-humorigen Licht zeigten. Viele der Gedichte stimmten nachdenklich, einige wenige waren von so eindrücklicher Wehmut und gereifter Lebensphilosophie, dass sie von einer tiefgreifenden persönlichen Erfahrung getragen zu sein schienen, die den Dichter zu einem Überdenken seines Werkes veranlasst hatte. Die Veröffentlichung dieser Gedichte, ein unbedingtes Desiderat der Poetik Siebenbürgens, ist geplant. Genauso unbekannt, aber doch legendär: das „Ferne Lied“ aus der Feder von Schuster Dutz und Julius Draser mit Musik von Fritz Schuller. Die Operette, die 1933 als erste Uraufführung des damals frisch gegründeten Deutschen Landestheaters in Hermannstadt das Licht der Bühnenwelt erblickte und wohl als Auftragsarbeit für dasselbe entstanden war, galt als verschollen. Ein glücklicher Zufall lenkte Dr. Hansotto Drotloff und Dr. Heike Lammers-Harlander auf die Strichfassung des Librettos aus Schuster Dutz‘ eigener Hand. Auch wenn die Musik des Theaterwerks weiterhin nicht verfügbar ist, so zeigte doch die Lesung ausgewählter Textpassagen, die vom Publikum mit viel Heiterkeit aufgenommen wurden, wie es die Kritiken der Uraufführung für die gesamte Operette beschreiben, dass sich auch hier eine kommentierte Veröffentlichung anbietet.

Besonders zu Herzen gehend war die Vorführung eines Stummfilms von Hans Retzlaff aus dem Jahr 1933 mit kongenialer musikalischer Live-Untermalung durch das Mediascher Duo Edith Toth und Gerhard Servatius-Depner (Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Mediasch und Vorstand des Jugendwerkes der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien) an Flügel und Violine. In dem rund zwanzigminütigen Film „Werktag und Fest der Siebenbürger Sachsen“ hat der Kameramann 1933 Bilder einer Welt eingefangen, deren jahrhundertealte Traditionen schon im Begriff waren, sich aufzulösen, ohne dass sich die auf Zelluloid gebannten Siebenbürgerinnen und Siebenbürger dessen bewusst gewesen wären – denn sie agierten im Selbstbewusstsein einer in sich stimmigen Gesellschaft. Tempora mutantur … In diesem Sinne stimmte hoffnungsvoll, was Gerhard Servatius-Depner nach der Sonntagsandacht über die gegenwärtige Situation der Evangelischen Kirchengemeinde Mediasch und vor allem ihrer Jugend und die zukünftigen Projekte zu berichten hatte: Mediaschs Kirchengemeinde verjünge sich. Die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien öffnet ihre Pforten allen, die die Zukunft mitgestalten wollen. Vor allem den Kindern und Jugendlichen gilt es, eine Heimat und Chance zu geben. Der Sonntagvormittag war mit Vortrag, Bildern und lebhaftem Gespräch ganz dem Leben der heutigen Mediascher Kirchengemeinde gewidmet. Zwei Projekt-Vorstellungen liefern dafür die nötigen Visionen. Zum einen ist die HG Mediasch im Begriff, eine Partnerschaft der Hermann Oberth-Schule Mediasch mit einer Schule im deutschen Eichsfeld einzufädeln. Zum anderen ermöglicht die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien nunmehr auch außerhalb Rumänien lebenden Personen eine „Erst- oder Zweitmitgliedschaft“ in einer evangelischen Kirchengemeinde auf rumänischem Staatsgebiet. Beide Projekte eröffnen die Möglichkeit, aus vollem Herzen die Zukunft auch von Mediasch-Mediaș mitzutragen!

Dr. Heike Lammers-Harlander

Schlagwörter: Tagung, Bad Kissingen, Mediasch, Musik

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