20. Dezember 2014

Ein Leben unter der Glasglocke

„Man bezahlte den Kuckuckseiern den Rückflug“ ist ein brutaler, verstörend ehrlicher Roman, der aktuelle Themen aufgreift: Zuwanderung, Vorurteile, Diskrimination, Minderheiten, die Kluft zwischen Ost und West, Gewalt, Entfremdung, das alles aus der Sicht einer jungen Frau, die einen ganz eigenen Blickwinkel einnimmt. Es ist die Geschichte Magdalenas, einer jungen Roma, bei der eine schwere Geisteskrankheit diagnostiziert wird. Für sie ist der Weg aus dem Geburtsland Rumänien nach Deutschland paradoxerweise gleichsam ein Heimweg.
Der Roman setzt ein mit dem Moment, als Magdalenas Leben eine unerwartete Wendung nimmt: Ihr Vater beschließt, mit ihr nach Deutschland auszuwandern. Die Beiden gelangen nach Hamburg, wo sie die Hilfe von Onkel Gicu, einer merkwürdigen Person, die seit vielen Jahren hier wohnt, in Anspruch nehmen. Magdalena und ihr Vater Giani schlagen sich in Hamburg als Straßenmusikanten durch. Der Vater hofft, in den drei Monaten, für die sie eine Aufenthaltserlaubnis haben, genug Geld für ein besseres Leben zu Hause zu verdienen. Der Plan ist allerdings viel zu optimistisch, wie Giani mit würdevoller Enttäuschung einsehen muss. Nach drei Monaten kriegt er kaum das Geld für die Rückreise zusammen. Magdalena, die unfähig ist, eine Zukunftsentscheidung zu treffen, entschließt sich trotzdem, in Deutschland zu bleiben, auch wenn sie dazu ihren Onkel heiraten muss, der deutscher Staatsbürger ist. Der Entschluss kommt einer verzweifelten Flucht aus einer quälenden Vergangenheit gleich.

In einer von Urinstinkten und -bedürfnissen bestimmten Welt stand das Verhältnis zwischen Vater und Tochter im Zeichen der Abhängigkeit, die durch die krankheitsbedingte Verletzlichkeit noch verschärft wurde. Von Kind auf ist sie von Gewalttätigkeit bis in die Sprache hinein geprägt. Die Traumata, darunter auch der Verlust der Mutter, haben wahrscheinlich die Diagnose bedingt, die auf kindliche Schizophrenie lautet. Magdalena ist eine äußerst unsichere junge Frau, die sich immer wieder abkapselt und in einem vegetativen Delirium versinkt, was wohl auch auf die unbehandelte Krankheit zurückgeht.

Magdalena lebt in Deutschland wie unter einer Glasglocke, sie nimmt die Welt wahr, findet aber keinen Zugang zu ihr. Sie bleibt die apathische Beobachterin, bewundert die sauberen Straßen, die eindrucksvolle Architektur, die freundlichen Gesichter der Menschen, alles kontrastiert mit der düsteren Wirklichkeit und den grobianischen Gesichtern zu Hause. Sie wird von den Männern wie ein Gegenstand behandelt, ihre inneren Regungen lindern zwar wie eine Gegenwelt die Beziehungslosigkeit, allerdings keineswegs nachhaltig. Ihre Obsessionen, Erinnerungen, Komplexe werden zu realen Personen, die sich in der gespaltenen Persönlichkeit Magdalenas mit einer Gewalt bekämpfen, die jener gleicht, mit der sie selbst von den Mitmenschen behandelt wird. Die inneren Regungen werden äußerst sensibel nachgezeichnet, wobei auch ein hohes Abstraktionsniveau erreicht wird. Die Unkenntnis der deutschen Sprache ist zwar ein Grund für den Beziehungsmangel, dieser geht jedoch einher mit dem Krankheitssyndrom: Magdalena kommuniziert mechanisch und ist außerstande, Gefühle zu äußern. Die glückliche Heilung am Ende verspricht keine heile Welt im Schoße der Familie, sondern lediglich ein inneres Zuhause, eine Versöhnung mit sich selbst.

Die Kritik hat dem Roman eine lakonische, gleichzeitig aber überraschend poetische, ausdrucksstarke Sprache bescheinigt, die auf seine Nähe zur Autobiographie zurückgeht, liegen doch die Ähnlichkeiten zwischen dem Leben der Autorin und dem Schicksal ihrer Gestalt Magdalena offen zutage. Die Schriftstellerin Nicoleta Crăița Ten’o ist 1983 im rumänischen Galatz geboren und lebt in Deutschland. Sie schreibt in rumänischer und deutscher Sprache und veröffentlicht in beiden Ländern. Bei ihr wurden Schizophrenie und Autismus diagnostiziert, sie kommuniziert nicht mehr mündlich, sondern widmet sich dem Schreiben.

Mihaela Kloos-Ilea (Übersetzung aus dem Rumänischen: Georg Aescht)


Nicoleta Crăița Ten’o, „Man bezahlte den Kuckuckseiern den Rückflug“. Geest Verlag, Vechta-Langförden, 2013, 187 Seiten, 11,00 Euro, ISBN 978-3-86685-447-5, erhältlich im deutschen Buchhandel

Schlagwörter: Buch, Roma, Deutschland

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