20. März 2015

Sammelband mit Zeitzeugenberichten von Rumäniendeutschen

Seit etwa fünfzig Jahren wird in der deutschen Geschichtsforschung ergänzend das betrieben, was man mit einem englischen Begriff als „Oral History“ bezeichnet, wobei man Zeitzeugen ihre Erinnerungen frei aufschreiben oder erzählen lässt. Damit sollen sie Quellen liefern, die eine Darstellung historischer Ereignisse und Zustände „von unten“, d.h. „demokratisch“ als Ergänzung zur „amtlichen Geschichte“ ermöglichen, die hauptsächlich auf der Auswertung von offiziellen Zeitdokumenten basiert. Einen derartigen Versuch haben der Journalist Hans Fink und der Dialektologe und Volkskundler Hans Gehl in einem Buch unternommen, das Ende letzten Jahres mit dem Titel „Jein, Genossen!“ Rumäniendeutsche erzählen. Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Fall des Eisernen Vorhangs im IKGS Verlag München erschienen ist und 70 Berichte von Zeitzeugen aus den Jahren des real existierenden Sozialismus in Rumänien enthält.
Zu Wort kommen in dem 700 Seiten starken Band Menschen unterschiedlichster Berufe und Schichten: Landwirte und Industriearbeiter, Handwerker und Kulturschaffende, Seelsorger und Journalisten, Lehrer und ehemalige Funktionäre. Geordnet sind die Texte nicht nach den historischen Abläufen während der etwa 50 Jahre rumänischer und rumäniendeutscher Geschichte und auch nicht nach den behandelten Ereignissen, sondern nach dem Geburtsjahr der einzelnen Erzähler, was den Eindruck eines facettenreichen, zwanglos zusammengefügten Mosaiks verstärkt. So steht ein Bericht über die Russlandverschleppung neben einem solchen über das traditionell festgefügte Nachbarschaftsleben in einer sächsischen Gemeinde, einer über die Bărăgan-Deportation der Banater Schwaben neben einem über das Zustandekommen deutscher Schulbücher um 1960, spektakuläre Fluchtberichte finden sich neben der Beschreibung einer Hochzeit in Pretai oder der katastrophalen Arbeitsbedingungen eines Hausarztes in Saderlach, Erinnerungen an Schikanen bei der Verzollung des Ausreisegepäcks neben einer kurzen Geschichte der „Aktionsgruppe Banat“, der Erfahrungsbericht einer Mediascher Chemikerin und Abgeordneten in der „Großen Nationalversammlung“ neben der Erzählung eines Deutschlehrers über Drangsalierungen durch die Securitate.

Eingeleitet werden die Texte von fünf Lebensberichten, die der Journalist Walther Konschitzky in den 1970er und 1980er Jahren im Banat aufgezeichnet und in der Reihe „Dem Alter die Ehr“ in der Bukarester Tageszeitung Neuer Weg veröffentlicht hat. Sie beinhalten Schilderungen nicht aus den Jahren des Kommunismus, sondern sie wollen „Einblick“ geben, wie es im Vorwort des Bandes heißt, in eine „Zeit lange davor“, da sie „aufschlussreich“ seien „für die Erfahrungswelten und Wertvorstellungen der Großelterngeneration“ (S. 5). Abgesehen davon, dass sie den im Untertitel des Buchs fixierten zeitlichen Rahmen sprengen, ist allerdings nicht anzunehmen, dass die „Erfahrungswelten und Wertvorstellungen“ einer schwäbischen Gemüsebäuerin, eines Mannes, der sich legendär verklärt an den „Ozeanflieger Georg Endresz“ erinnert, oder eines Färbergesellen aus Perjamosch die gleichen waren, wie die der übrigen, im Untertitel benannten „Rumäniendeutschen“, etwa einer Bauersfrau im Burzenland, eines Handwerkers in Mediasch oder eines Unternehmers in Temeswar. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Herausgeber in diesem Fall bloß dem befreundeten Journalistenkollegen und verdienstvollen Volkskundler ihre Reverenz erweisen wollten.

Erinnerungen sind subjektiv befrachtet. Erfahrenes wird überhöht oder heruntergespielt, Erlebtes bloß lückenhaft bewahrt oder in Teilen verdrängt. Was Erinnerungen indes wertvoll macht, ist ihre Authentizität. Und dort, wo die Texte des Bandes authentisch sind, dort überzeugen sie und werden als Fragmente eines realistischen Geschichtsbilds wahrgenommen. Mitunter können sie sogar beeindrucken und berühren. Das tun etwa die Geschichten der Ilse Wanek und Magdalena Rotaru, die holzschnittartig sparsam aus den Jahren der Russland- und Bărăgan-Deportationen berichten (S.74-89), sowie die des Johann Steiner, der das Leben der in die Donautiefebene Verbrachten aus dem Gesichtswinkel eines Kindes schildert (S. 530-537). Erschütternd ist der Bericht von Friedrich Resch und Engelhard Mild über 13 in rumänischen Gefängnissen verbrachte Jahre (S. 223-234), auf groteske Weise unterhaltsam Wendel Orners Wiedergabe der absurden, unverhohlen nationalistischen Urteile und Verfügungen einer höchstparteilichen „Kontrollbrigade“ in Billed (S. 561-569) und bedrückend die Schilderung des katholischen Geistlichen Anton-Joseph Ilk, der sich in der Sathmarer Diözese bis tief in die Nachwendejahre hinein weniger dem rumänischen als vielmehr dem magyarischen Chauvinismus kirchlicher Potentaten ausgesetzt sah (S. 570-584).
Eduard Morres: Der unglückselige Brief, Öl, 120 x ...
Eduard Morres: Der unglückselige Brief, Öl, 120 x 90 cm, 1956, Eduard Morres Stiftung, Zeiden. Foto: Zeidner Fotoarchiv, verwaltet von Udo Buhn
Nicht in allen Texten finden sich übrigens die Zwänge, die Angst, der Terror der Machthaber, Not und Bedrängnis wieder, die in den Jahren des Nationalkommunismus vorherrschend waren. Es gab auch Menschen, die in einer meist familiär bewahrten Idylle Zuflucht fanden wie Erika Neumann, für die im Rückblick „die Waagschale mit den schönen Stunden (…) die vollere“ (S. 130) ist, oder wie der Schulmann Hermann Baier, der sich während seiner vieljährigen, erfolgreichen Laufbahn stets „auf der Sonnenseite“ (S. 208 ff) gewusst hat. Ihre Erzählungen sind deshalb kaum weniger authentisch und glaubwürdig als die anderen. Es gab im ­Herrschaftssystem des osteuropäischen und rumänischen Totalitarismus auch Nischen, in denen sich der Einzelne mit etwas Glück einrichten und sich eine relativ erfüllte Existenz aufbauen konnte.

Weniger wirkungsvoll lesen sich allerdings die vielfach in den Band eingestreuten Übernahmen von monographischen Texten aus Heimatbüchern oder sonstige, mit statistischen Daten unterfütterte Auslassungen über Zustände und Entwicklungen in einzelnen Ortschaften, in bestimmten Wirtschaftszweigen oder Betrieben. Zweifellos haben sie dokumentarischen Wert, können aber nicht als das gewertet werden, was man unter „erzähltem“ Leben gemeinhin versteht und für das dieses Buch laut Untertitel gelesen werden will.

Verwunderlich selten finden sich in den Texten detaillierte Schilderungen der im real existierenden Sozialismus Rumäniens allgegenwärtigen Fälle von Unterschleif, Korruption und Vetternwirtschaft. Wenn davon die Rede ist, dann zumeist mit Verweis auf vorhandene Zwänge, unter denen man in eine Opferrolle gedrängt wurde. Dabei waren die Deutschen in Siebenbürgen und dem Banat bei der vorherrschenden Mangelwirtschaft nicht weniger als ihre rumänischen oder ungarischen Mitbürger nicht bloß passiver, sondern oft auch aktiver Teil des Systems und haben es im Alltag vielfach auch weidlich genutzt, was sie, verschämt im Rückblick, gern verschweigen. Hier hätten die Herausgeber vielleicht zusätzlich auf Realitätstreue und Redlichkeit drängen sollen.

Ihrer umfänglichen Textsammlung haben sie eine weiterführende Literaturliste, ein handliches Glossar für nichtrumäniendeutsche Leser mit Erläuterungen zu landes- und zeitspezifischen Fakten und Termini, eine Liste der deutscher Ortsnamen mit ihren rumänischen Entsprechungen, eine Zeittafel von September 1939 bis Januar 2002 und einen, allerdings bescheidenen, Bildteil beigegeben.

Im Vorwort zum Band stellen die Herausgeber fest, das Leben der „Deutschen in Rumänien nach dem Zweiten Weltkrieg“ sei „bisher nicht umfassend dargestellt“ (S. 5) worden. Zwar erheben sie expressis verbis nicht den Anspruch, das mit ihrem Buch tun zu wollen, doch das Adverb „bisher“ lässt auf eine derartig Absicht schließen. Sie erweist sich allerdings als zu hoch gegriffen, weil keineswegs „umfasssend“ im Sinne von „vollständig“. Doch als Versuch der Annäherung an eine komplexe historische Realität mag man das Unternehmen gelten lassen. Es ist das, was ein solches Buch sein kann: ein buntes und durchaus lesenswertes Mosaik aus Teilbildern zur jüngeren Geschichte der deutschen Minderheit in Rumänien.

Hannes Schuster




„Jein, Genossen!“ Rumäniendeutsche erzählen. Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Fall des Eisernen Vorhangs. Herausgegeben von Hans Fink und Hans Gehl. IKGS Verlag, München 2014, 708 Seiten, 39,50 Euro, ISBN 978-3-942739-03-0.

Schlagwörter: Buchvorstellung, Russlanddeportation, IKGS

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