17. März 2015

Die Welt als Texistenz: Mircea Cartarescus neuer Roman "Die Flügel"

Der rumänische Schriftsteller Mircea Cărtărescu wurde am 11. März mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2015 ausgezeichnet. Den mit 15.000 Euro dotierten Preis erhielt er für seine Romantrilogie „Orbitor“ (Blendend), die er mit einem gewaltigen textuellen Feuerwerk beendet. Der letzte Teil, „Die Flügel“, im Paul Zsolnay Verlag in der Übersetzung von Ferdinand Leopold erschienen, wird im Folgenden von Edith Ottschofski rezensiert.
Im letzten Teil der Trilogie greift der Autor Gestalten aus den ersten beiden Teilen („Die Wissenden“, „Der Körper“) auf, führt Erzählstränge fort oder zu Ende und spinnt neue Geschichten, wie etwa jene um den Vorfahren väterlicherseits seines Erzählers Mircea, einem Alter Ego des Autors. Einen großen Raum nimmt dabei die Schilderung der rumänischen Revolution von 1989 ein, spannend aber auch ins Fantastische und Groteske auswuchernd.

Beeindruckend mischt der Autor die realistisch anmutende Beschreibung des revolutionären Geschehens mit opulenten und skurrilen Szenerien, die vor Epitheta und Synonymen strotzen und die die realistische Schilderung ad absurdum führen. Bezeichnend ist beispielsweise, wie die ganze Meute der Revolutionäre zu einer Zirkustruppe mutiert und sich in einem barbarischen Akt an der Revolution vergreift, wobei sie Zwergmännchen sind, die eine Riesin vergewaltigen, oder wie ein ganzes Heer von lebendig gewordenen Statuen in Richtung Haus des Volkes, dem Domus Aurea der Ceaușescus, aufmarschiert. Oder aber wie Ceaușescu so allgegenwärtig sein kann, weil er zwölf Doppelgänger hat. Und dann erwächst aus dem Brustkorb des zwölften der dreizehnte, der noch älter und vereinsamter ist und die mörderische Schwermut der großen Tyrannen besitzt. Nicht nur, dass die Demonstrationen, die Schießereien und die Flucht der Ceaușescus beschrieben werden, es gibt eine ganze Schilderung des Schicksals des rumänischen Volkes, mit seiner Hungersnot, seiner Angst, der Verfolgung durch die Securitate, der Baumaßnahmen Ceaușescus, der ganze Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht hat, um seinen Palast, das Haus des Volkes, zu bauen. Letzteres spielt eine wichtige Rolle in der Erzählung, die dann in eine gewaltige Apokalypse mündet. Doch der Untergang ist nur die Begrenzung der Erzählung und nur die Voraussetzung für einen neuen Anfang, wie uns der Erzähler hoffnungsfroh verkündet: „denn Abschluss bedeutet der letzte Buchdeckel, der leise über der letzten Seite zugeschlagen wird. Er zerstört den Text nicht, sondern grenzt ihn ab, krümmt ihn nicht in sich selbst, macht ihn rund und ganz wie ein Lebewesen, ein begrenzter aber grenzenloser Gegenstand…“ (S. 645)
Mircea Cărtărescu bei einer vom Paul ...
Mircea Cărtărescu bei einer vom Paul Zsolnay Verlag veranstalteten Lesung in München (2011): Foto Konrad Klein
Wie auch in den ersten beiden Büchern säumen Schmetterlinge und Spinnen den Weg der Erzählung, die immer wieder metaliterarisch ins Buch mit einfließt. Das Buch selber wird hochstilisiert zur Welt, die Welt selber ist das Buch, dieses Buch. Die Welt ist eine „Texistenz“. „Texte in Texten, Texte schreibende Texte, schließlich die kolossale Textur unserer Welt bildend, denn Existenz und Text […] bilden das Wunder […] dessen Name Texistenz sein könnte“ (S. 480).

Und selbst das Haus des Volkes ist errichtet worden „aus dem Erzählbedürfnis des Buches, das in jene Welt einfloss, die ihrerseits ins Buch einfloss, ohne dass man wüsste, wo die Welt endet und wo das Buch anfängt, denn sie waren immer zusammen, das Weltbuch und die Buchwelt…“ ( S. 566). Das klingt zwar zunächst nicht sehr bescheiden, ist aber ein Baustein der Auffassung Cărtărescus, dass jeder Mensch und jedes Lebewesen ein Universum in sich birgt und nach dessen Tod eine ganze Welt einstürzt. Und letztendlich versucht der Erzähler aus der Tiefe des Manuskripts das Wunder des göttlichen Denkens zu verstehen und startet einen Aufruf an den Herrn, fordert ihn auf, zu uns herabzusteigen.

Cărtărescu ist zweifelsohne ein meisterhafter Erzähler der Weltliteratur. Mit seiner Trilogie schuf er ein unvergleichbares Universum, in das es sich lohnt hineinzutauchen und sich von ihm verzaubern zu lassen.

Wissenschaftliche, fantastische, skurrile, ironische, satirische, biblische, metaphysische, märchenhafte und philosophische Passagen sind darin eng verwoben mit autobiografischen Elementen, beginnend mit der Kindheit des Alter Egos des Autors, Mircișor, seinen verschiedenen Wohnorten, seinen Eltern und Vorfahren, seinen Träumen und Gedanken bis hin zu seinem Schriftstellerdasein: „Hast mich ganz hineinprojiziert, in dieses unlesbare Buch, in dem Mircea über Mircea schreibt, der über Mircea schreibt“ (S. 525). In dem Maße, wie die Erzählung fortschreitet, taucht immer wieder auch das Manuskript auf, an dem Mircea schreibt. Die Figuren befinden sich plötzlich im Mittelpunkt der Erzählung, oder aber der Leser wird thematisiert, wie er gerade liest und wie er mit dem Buch und dem Erzähler verschmilzt und ein wunderbares Kind zeugt. Gleichsam wie jenes Kind, das im Meer der lebendig gewordenen Statuen aus dem Hirn Hermans geboren wird und die Krönung der Cărtărescuschen Welt darstellt, denn „Mein Manuskript ist die Welt, und es gibt kein Kamillenblütenblatt und keine Wimper von dir, von dir selbst, der du liest und über der Seite dieses unlesbaren Buches atmest, die nicht hier geschrieben wären…“ (S. 480).
Mircea Cărtărescu beim Signieren in ...
Mircea Cărtărescu beim Signieren in München (2011), links Dr. Hansotto Drotloff, Mitautor einer Mediasch-Monographie. Foto: Konrad Klein
Etwas schwierig wirken manchmal die langen Sätze, wo man nach etlichen Zeilen das richtige Prädikat nachlesen muss, und gegen Ende scheint der Autor sich nicht so richtig entscheiden zu können, sein Universum doch noch abzuschließen, darum wirken die letzten Kapitel etwas langatmiger. Dennoch ist „Die Flügel“ ein sprühender Abschluss der Trilogie. Nachdem schon die ersten beiden Teile preisgekrönt wurden, erhielt der Autor zu Recht soeben den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung für diesen letzten Band.

Edith Ottschofski

Mircea Cărtărescu: „Die Flügel“, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014, aus dem Rumänischen übersetzt von Ferdinand Leopold, 672 Seiten, Preis: 26,00 Euro, ISBN 978-3-552-05689-3.
Die Flügel: Roman
Mircea Cartarescu
Die Flügel: Roman

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Schlagwörter: Rezension, Roman, rumänische Literatur

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