26. März 2015

Ein Leben im Glückszeichen der Freundschaft: Zum Tod des Philosophen Walter Biemel

Der bedeutende Philosoph und Kunsttheoretiker Walter Biemel, Träger des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreises 1997, ist am 6. März 2015 im Alter von 97 Jahren in Aachen gestorben. Einen Nachruf auf den Denker, Lehrer, Musiker, Kunstkenner, Schachspieler, Sportler, Zauberer, Philantrop, Mäzen und den besten Freund, den man sich vorstellen kann, zeichnet im Folgenden eine langjährige Weggefährtin aus Aachen.
Geboren ist Walter Biemel am 19. Februar 1918 in Topčider bei Belgrad, aufgewachsen im siebenbürgischen Kronstadt mit drei älteren Brüdern in einer Familie, in der Musik, Literatur und Kunst eine Heimstatt hatten. Sein Vater war Professor für Geige und Präsident der Philharmonie in Kronstadt; Walter spielte schon früh Geige, doch es war die Bratsche, die ihn sein Leben lang begleitete. Nach dem Besuch des Honterusgymnasiums studierte er ab 1937 Philosophie, Psychologie, Soziologie, Kunstgeschichte, Germanistik und Pädagogik an der Universität in Bukarest. Seinen hochbegabten ältesten Bruder Rainer, der schon während der Schulzeit nach Frankreich ging, betrachtete der junge Biemel als sein Vorbild; dieser habe ihm nach dem Ende des Studiums geraten, weiterzulernen, und zwar beim besten Philosophen.

So ging der junge Wissenschaftler 1942 zu Martin Heidegger nach Freiburg im Breisgau. Der Lehrer wurde zum lebenslangen Freund. Seiner Philosophie galten später viele Aufsätze und Bücher von Walter Biemel, von denen die 1973 erschienene Monographie Martin Heidegger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten wohl am bekanntesten wurde.

Da die Universität Freiburg 1944 kriegsbedingt geschlossen wurde, konnte Walter Biemel seine Dissertation über den Naturbegriff bei Novalis dort nicht abschließen. Mit seiner Frau Marly Wetzel, die ebenfalls bei Heidegger studiert hatte, siedelte er nach Löwen in Belgien über, um am Edmund-Husserl-Archiv der dortigen Universität zu arbeiten. In dieser Zeit gab er mehrere Bände der Husserliana heraus und promovierte mit der französisch geschriebenen Dissertation Le concept du monde chez Heidegger.

Ab 1952 baute er in Köln ein Husserl-Archiv auf. 1958 habilitierte er sich mit der Schrift Die Bedeutung von Kants Begründung der Ästhetik für die Philosophie der Kunst und erhielt daraufhin einen Lehrauftrag für Philosophie an der Kölner Musikhochschule.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Biemel ...
Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Biemel
Als ihn vier Jahre später, 1962, ein Ruf an die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule erreichte, verlegte das Ehepaar Biemel den Wohnsitz nach Aachen. Hier wirkte Walter Biemel als Professor für Philosophie entscheidend am Aufbau der Philosophischen Fakultät mit.

Ein letzter Wechsel erfolgte 1976, als Walter Biemel den Lehrstuhl für Kunstphilosophie an der Düsseldorfer Kunstakademie übernahm. Der Schwerpunkt seiner Lehre verlagerte sich nun von der Phänomenologie auf die Auseinandersetzung mit der Kunst. Aus den Kontakten zu Künstlern erwuchsen manche tiefe und langjährige Freundschaften. Auch nach der Emeritierung im Jahr 1983 nahm Walter Biemel mit nicht nachlassender intellektueller Neugier bis ins hohe Alter rege an der Diskussion von Fragen der Philosophie und Kunst teil, hielt zahlreiche Vorträge und erweiterte stetig die Liste seiner Publikationen.

Das breite Spektrum von Biemels Denken wird ebenso wie seine Vertrautheit mit verschiedenen Kulturen ­besonders deutlich in seinen Gesammelten Schriften, die in zwei stattlichen Bänden 1996 erschienen sind und in deren erstem Band die Phänomenologie im Zentrum steht, während der zweite Band Texte zur Kunst bzw. zum Zusammenspiel von Kunst und Philosophie versammelt. Eine große Spannweite der Themen spiegeln auch die Titel seiner Bücher, darunter die Monographie Jean-Paul Sartre (1964), Philosophische Analysen zur Kunst der Gegenwart (1968) und Zeitigung und Romanstruktur. Philosophische Analysen zum modernen Roman (1986). Hierher gehören auch seine Übersetzungen von Martin Heidegger und Karl Jaspers ins Französische. Als Herausgeber und Mitherausgeber von Gesamtausgaben – in erster Linie von Martin Heidegger und Husserl – sowie Festschriften für Heidegger, Jan Patocka und Ludwig Landgrebe gab er seiner Verbundenheit mit Kollegen und Freunden Ausdruck.

An den Lehrer Walter Biemel in Köln und Aachen erinnern sich frühere Studenten noch heute mit Zuneigung und Bewunderung: seine Seminare haben sie als überaus lehrreich, anregend und prägend erlebt; er habe immer ein offenes Ohr gehabt und sei menschlich und stets fair gewesen, konnte väterlich sein und in Prüfungssituationen die Angst nehmen.

Unterstützt hat er nicht nur seine Studenten, sondern auch Kollegen und viele andere, moralisch und finanziell, wann immer es nottat – stets gemeinsam mit seiner Frau Marly. Er engagierte sich für den tschechischen Philosophen Jan Pa­točka, der nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings 1972 von der Prager Universität vertrieben wurde und sich von da an nur mühsam über Wasser halten konnte, später unter anderem für jüngere Philosophen in Rumänien. Die Biemels holten auch die Tochter der Familie, die ihr Sommerhaus auf Mallorca mitbewohnte und hütete, nach Aachen, finanzierten ihr Musikstudium und förderten sie in jeder Hinsicht.

Walter Biemels Großzügigkeit verdankt schließlich die Stiftung Insel Hombroich bei Neuss seine umfangreiche Bibliothek und sein Archiv mit den Schwerpunkten Phänomenologie und Kunstphilosophie. Diese Schenkung wird dort seit 2014 wissenschaftlich aufbereitet. Der Museumsinsel Hombroich galt von deren Anfängen an Walter Biemels Interesse. Er begründete die Reihe Hombroich : Philosophie und initiierte zahlreiche Symposien zu philosophischen Themen. In dem Essay Das Geschehen der Wahrheit schrieb er, das Besondere der Insel sei, dass sie nicht nur den Kontakt mit den Kunstwerken eröffne, sondern zugleich den Kontakt mit den Künstlern selbst, auch mit Dichtern, die dort als Stipendiaten wohnen, sowie mit Musikern, die Konzerte geben. Insofern sei Hombroich ein Ort des Schaffens, des Betrachtens, des Meditierens sowie des Gesprächs.

Neben der Wissenschaft und der Kunst gehörten die Musik und vor allem die Kammermusik zum Leben von Walter Biemel. Er spielte hervorragend Bratsche und musizierte mit seinen Quartetten in Köln und später in Aachen bis ins hohe Alter. Bezeichnend für seine tiefe Liebe zur Musik und seine Fähigkeit zur Überschreitung von fachlichen Grenzen war jener unvergessliche Moment, als er am Ende eines Vortrags über den Tod das Adagio aus Schuberts letztem Werk, dem von Todesahnung gezeichneten Streichquintett ertönen ließ.

Walter Biemel spielte auch ausgezeichnet und mit Leidenschaft Schach und nutzte dafür jede Situation, sei es eine langweilige Busfahrt oder endlose Fakultätssitzungen. Legendär waren die Schachpartien mit Hans-Georg Gadamer während der Tagungen der Deutschen Phänomenologischen Gesellschaft. Ebenso leidenschaftlich spielte er Tischtennis, immer und überall wo sich die Gelegenheit dazu bot, aber mindestens einmal wöchentlich, auch dies – trotz eines steifen Beins – noch mit über neunzig Jahren. Die auf einen Unfall in der frühen Jugend zurückgehende Behinderung hielt ihn weder vom Skifahren noch vom täglichen Schwimmen im Meer bei Déia ab, ja er gestand ihr zuweilen einen positiven Sinn zu, weil sie ihn zum Beispiel vor dem Militärdienst bewahrt hatte.

Fast jedes Zusammensein mit Walter Biemel war mitgeprägt durch seinen Humor. Unvergesslich sind die Zauberkunststücke und die „Harakiri“-Inszenierungen, mit denen er sowohl bei offiziellen Veranstaltungen als auch bei privaten Festen und geselligen Runden für Überraschung und Vergnügen sorgte.

Walter Biemel hatte die Fähigkeit, die Lichtseiten des Lebens festzuhalten, das, was man im Leben das Glück nennt, und war sich dessen bewusst. Er war auch dafür dankbar, viele Freunde zu haben unter den Kollegen, Künstlern und zahlreichen anderen Menschen, denen er begegnete und mit denen er zu tun hatte. Er schrieb einmal: Mein ganzes Leben stand unter dem Glückszeichen der Freundschaft. Und bei einer Rede auf seine Frau Marly sagte er, Freundschaft sei das höchste Gut, das wir besäßen. Tatsächlich war er selbst außergewöhnlich zur Freundschaft begabt. Diesen begnadeten und treuen Freund haben wir nun verloren.

lh

Schlagwörter: Nachruf, Porträt, Philosoph

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