8. Juni 2015

Eine Konferenz in Berlin beschäftigte sich mit dem Erbe der kommunistischen „Giftschränke“

Die Tagung mit dem Titel „Aus den Giftschränken des Kommunismus – Methodische Fragen zum Umgang mit den Überwachungsakten in Südost- und Mitteleuropa“, die vom 28. bis 30. April im Auditorium des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand, zog eine Zwischenbilanz über die Aufarbeitung kommunistischen Erbes. Im Mittelpunkt dieser vom Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München (IKGS), dem Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität (ENRS) organisierten Konferenz standen Minderheitengruppen aus Rumänien und Ungarn.
Nach der Eröffnung der Veranstaltung und Grußworten des Direktors der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), Björn Deicke, folgte eine Reihe von Länderberichten, in denen der Stand der Aufarbeitung in Albanien, Deutschland, der Republik Moldau, Rumänien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn vergleichend referiert wurde. Unter den Vortragenden befanden sich der Präsident des Nationalen Rates für das Studium der Archive der Securitate (CNSAS), Dragoș Petrescu, der Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, sowie der bekannte ungarische Zeithistoriker Krizstián Ungváry. Wie die Referenten feststellten, hatte in vielen Ländern Deutschland als Modell in der Aufarbeitung gedient. Die Umsetzung sei jedoch nicht überall im gleichen Maße geglückt. Rumänien kann im internationalen Vergleich der „Transformationsländer“ eine positive Entwicklung vorweisen, während andere Staaten wie die Republik Moldau und Albanien noch am Anfang des Aufarbeitungsprozesses der Geheimdienstarchive stehen oder wie Ungarn bzw. Tschechien von einer politisch bedingten Stagnation betroffen sind.

Der zweite Teil der Tagung ging anhand konkreter Fallbeispiele aus der DDR-Forschung sowie Rumänien und Ungarn auf methodische, aber euch moralische Fragen zum Umgang mit Überwachungsakten aus der kommunistischen Periode ein. Die Initiatoren der Veranstaltung, die Literaturwissenschaftlerin Michaela Nowotnick (Institut für deutsche Literatur an der HU Berlin) und der Historiker Dr. Florian Kührer-Wielach (IKGS München), hatten sich bei der Konzeption der Tagung von den sehr kontroversen Fällen rumäniendeutscher Autoren wie Oskar Pastior und Eginald Schlattner inspirieren lassen, um Fragen zu stellen, die weit über die Belange dieser Gruppe hinausgehen und von allgemeiner gesellschaftlicher Gültigkeit sind: Was sagt der Inhalt einer Überwachungsakte tatsächlich über die kommunistische Epoche und ihre Akteure aus? Lassen sich Opfer- und Täterrollen immer eindeutig zuordnen? Wo endet die Aufarbeitung zum Wohle der Gesellschaft und wo beginnen persönliche Rachefeldzüge?
Werkstattgespräch mit Vertreterinnen und ...
Werkstattgespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der rumäniendeutschen Forschung und Publizistik, von links: Diskussionsleiterin Michaela Nowotnick, Autor und Literaturwissenschaftler Joachim Wittstock (Hermannstadt), Historiker und Archivleiter Thomas Șindilariu (Kronstadt), Literaturkritiker und Übersetzer Gerhardt Csejka (Berlin), Journalistin und Historikerin Hannelore Baier (Hermannstadt) Foto: © IKGS
Aus diesem Ansatz heraus war es naheliegend, einen vergleichenden Schwerpunkt auf das Thema „Minderheiten und Randgruppen“ im Donau-Karpatenraum und in der DDR-Forschung zu legen, um ältere Erkenntnisse und Ansätze zu hinterfragen und neue Möglichkeiten zur Erforschung des Inhalts dieser „Giftschränke“ vorzustellen. Eine Sektion zur „Überwachungsakte als wissenschaftliche Quelle“ setzte sich mit den vielfältigen, zum Teil noch ungenutzten Möglichkeiten auseinander, Überwachungsakten als ergiebige Quelle für die Erforschung der kommunistischen Periode zu verwenden. Dr. Corneliu Pintilescu (Hermannstadt) brachte in diesem Zusammenhang des Bild einer Matroschka: Wie beim Auseinandernehmen einer Steckpuppe müssten die Forscher mit den Informationen, die die Überwachungsakten liefern können, umgehen.

Weitere Vorträge, die sich vorwiegend den deutschen Minderheiten in Rumänien und Ungarn sowie der ungarischen Minderheit in Rumänien widmeten, zeichneten sich durch ihre innovativen Ansätze aus. So wurden auch vermeintliche „Randthemen“ wie Homosexualität in der DDR oder alternative Musikkultur im Rumänien der 1980er Jahre aufgegriffen. Nicht zuletzt am Beispiel von Überwachungsmaßnahmen der Ungarndeutschen in Südungarn wurde deutlich, dass die Funktionsweise der Geheimdienste, ihre suppressiven und zerstörerischen Absichten sowie das damalige ideologische System nicht zu verstehen sind, wenn die Forschung nicht einen genaueren Blick auf das Schicksal der Minderheiten wirft. Eine umfassende und tiefgreifende Erforschung der kommunistischen Periode kann jedoch nur gelingen, wenn verschiedene Quellengattungen – von Archivalien über audiovisuelle Dokumente bis hin zu Zeitzeugenberichten – konsultiert werden.

Einen Höhepunkt der Veranstaltung stellte das „Werkstattgespräch“ mit Vertreterinnen und Vertretern der rumäniendeutschen Forschung und Publizistik dar. Mit der Journalistin und Historikerin Hannelore Baier (Hermannstadt), dem Literaturkritiker und Übersetzer Gerhardt Csejka (Berlin), dem Historiker und Archivleiter Thomas Șindilariu (Kronstadt) und dem Autor und Literaturwissenschaftler Joachim Wittstock (Hermannstadt) versammelte die Diskussionsleiterin Michaela Nowotnick vier Generationen des rumäniendeutschen Kulturlebens und der Wissenschaft, um über den praktischen Umgang mit Überwachungsakten in Forschung und Publizistik zu diskutieren. Auch im Rahmen dieser äußerst aufschlussreichen „Tiefenbohrung“ am Beispiel der rumäniendeutschen „Mikrogesellschaft“, deren Vorteil für die Wissenschaft gerade ihre relative Überschaubarkeit ist, wurde die Unzuverlässigkeit der Akten hinsichtlich des Faktischen festgestellt: Die Securitate habe (Täter-)Rollen zugeteilt, sodass die Akten nicht dazu dienten, Menschen als komplexe Persönlichkeiten abzubilden. Vielmehr seien die Bestände angelegt worden, um individuelle Schuld zu generieren. Die Diskussionsrunde stellte einhellig fest, dass diese Art von historischer Quelle nur dann zu verstehen sei, wenn der heutige Benutzer danach frage, was die Securitate mit ihren Niederschriften überhaupt bezweckt habe.

Wie im weiteren Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu zeigen sein wird, entbinden die Schwierigkeiten bei der Interpretation von Überwachungsakten jedoch keineswegs von der moralischen Verantwortung handelnder Akteure.

Florian Kührer-Wielach


Weitere Informationen, das vollständige Programm der Konferenz, Abstracts und Beiträge zum Nachhören sowie Fotos und Pressestimmen sind auf dem Konferenzblog www.giftschrank.net zu finden.

Schlagwörter: Tagung, Berlin, Securitate

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