3. August 2015

Letzter Band von Miklós Bánffys Siebenbürger Geschichte erschienen

Nach dem Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 ist die über viele Jahre immer prekärer gewordene politische Lage in Europa zum Zerreißen gespannt – einen Monat später beginnt der Erste Weltkrieg. In Ungarn allerdings will man das Zusteuern auf die Katastrophe bis zuletzt nicht wahrhaben: „Eine erschütternde Tragödie, als Franz Ferdinand in der gleichen Minute mit seiner Frau gestorben war, dem einzigen Wesen, das er jemals geliebt hatte. Ihn allerdings hatte auch niemand geliebt. Die ungarische Öffentlichkeit atmete gleichsam auf, als die Nachricht von seinem Tod eintraf. Daran, dass dieser Mord einen Krieg verursachen könnte, dachte in der Bevölkerung niemand …“, heißt es im dritten und letzten Band von Miklós Bánffys Siebenbürger Geschichte, „In Stücke gerissen“. In ihm schildert der Autor die letzten vier Jahre vor Ausbruch des Krieges und das Schicksal der Figuren, die aus den Vorgängerbänden „Die Schrift in Flammen“ und „Verschwundene Schätze“ bekannt sind.
Schon der Titel macht deutlich: Im Finale der Trilogie geht etwas kaputt, wird etwas auseinandergerissen. Die Doppelmonarchie der Habsburger, die alte Ordnung auf dem Balkan, in Europa, Asien, Afrika löst sich auf; die Welt zahlt einen hohen Preis und ist nach dem Ende des Kriegs 1918 eine andere. Natürlich weiß der Leser, worauf die Geschichte seit dem ersten Band zusteuert. Bánffys Verdienst besteht darin, ihn dennoch voller Spannung und mit eindrucksvoller Sprachgewalt zum bekannten Ende hinzuführen. Langeweile kommt höchstens bei den wieder sehr ausführlichen politischen Passagen auf, aber auch diese liest man anders, versucht historische Zusammenhänge herzustellen, Motive und Gründe für das damalige Vorgehen zu finden. Wie gut, dass Bánffys „In Stücke gerissen“ kurz nach Ablauf des Gedenkjahrs 2014 erschienen ist – die 100 Jahre nach Weltkriegsbeginn zu Hauf zum Thema erschienene Literatur ist noch frisch im Gedächtnis.

Bálint Abády und seine Geliebte Adrienne Milóth haben sich nach ihrer leidenschaftlichen Liaison aus reiner Vernunft getrennt und begegnen sich in der ersten Szene von „In Stücke gerissen“ nach über einem Jahr zum ersten Mal wieder. Bálint kommt ein wenig zu spät zur Premiere von „Madame Butterfly“ in Klausenburg und erblickt im Publikum unerwartet Adrienne – und das ausgerechnet während des Liebesduetts „Vogliatemi bene, un bene piccolino“ (Lieb mich ein bisschen, nur ein kleines bisschen) zum Ende des ersten Akts, „eine von Leidenschaft pulsierende Melodie, ein wild sehnsüchtiger Zwiegesang der Liebe“. Man kann diesen Auftakt kitschig finden, aber Miklós Bánffys atmosphärisch dichte Beschreibung der Szene und sein Gespür für die Gemütslage seines Protagonisten sorgen dafür, dass man sich selbst im Zuschauerraum wähnt, in einem samt­gepolsterten Stuhl, elegante und darum ein wenig steife Garderobe tragend, die Musik im Ohr und den Duft von schweren Parfüms und Theaterschminke in der Nase. Bálint flüchtet umgehend aus der Oper, aber Adrienne hat ihn natürlich ebenso gesehen wie er sie und bestellt ihn später zu sich. „Auf einmal umfingen ihn die Arme der Frau, sie drückte ihn mächtig an sich wie eine Ertrinkende den Lebensretter, und ihre Lippen verschmolzen in einem langen, unendlichen Kuss. Der Plastron des Frackhemds knackte leise zwischen ihnen.“ Die lange unterdrückte, aber nie vergessene Liebe flammt wieder auf, aber man ahnt sehr bald, dass auch sie nicht überdauern, dass auch sie „in Stücke gerissen“ wird.

Ähnlich verhält es sich mit Bálints Cousin László Gyerőffy, der im ersten Band als eleganter Lebemann und Gegenentwurf zum ernsthaften Politiker und tüchtigen Gutsbesitzer Bálint eingeführt, dessen Niedergang aber von Bánffy ebendort bereits eingeläutet wird. Spielschulden, Frauengeschichten, Alkoholsucht – unter diesen Umständen kann selbst die ihn in seinen letzten Monaten aufopfernd pflegende und aufrichtig liebende junge Regina Lászlós Ende nicht mehr abwenden. Man beerdigt ihn auf seinen Wunsch in den Kleidern, die er einst bei einem Pferderennen trug und trotz Geldnot niemals verkauft hat: „ein eisengrauer Gehrock (…) sowie eine buttergelbe Zweireiherweste und eine weißgestreifte Hose“, dazu „Lackschuhe mit Knöpfen und sandfarbenem Einsatz im Oberteil“. In der Brusttasche der Weste: der Wettzettel vom Pferderennen. Wer den ersten Band gelesen hat, erinnert sich an Lászlós extravagante Aufmachung und auch daran, dass das Pferd, auf das er gesetzt hatte, verlor – ein Kreis schließt sich.

Unverändert stark sind die Landschaftsbeschreibungen, die nicht nur die Meisterschaft des Autors, sondern auch die seines Übersetzers Andreas Oplatka bezeugen. Wie mit Worten gemalt präsentiert sich die siebenbürgische Natur, sei es ein Sonnenuntergang in Dénestornya, wo das Gut der Abádys steht, oder ein Sonnenaufgang im Gebirge, Ziel eines heimlichen Ausflugs von Bálint und Adrienne. Ihren Höhepunkt und zugleich Abschluss finden diese wortgewaltigen Schilderungen am Ende des Bandes. Ende Juli 1914 hat die Mobilmachung begonnen. Bálint verzichtet auf einen bequemen Schreibtischjob und ist unterwegs, um sich seinem Regiment anzuschließen, als er einen letzten Blick auf seine geliebte Heimat wirft: „Die Stadt und das Tal lagen schon im Schatten. Der Abend brach herein. Der Himmel flammte einzig im Westen. Lange Wolkenfetzen schwebten dahin. Aschfarbene Streifen mit glänzenden Fransen zierten den Horizont. Unter ihnen war alles Feuer, lauter Feuer. Die ganze Welt dort hinten war in Brand geraten. Der untere Rand des Himmels leuchtete blutrot. Flammende Tränen glühten zahllos, blendend, als weine das All über dem Meer von Blut. Träge, violette, dunkle Berge erhoben sich vor dem karmesinroten Himmel. (…) Lange Bergkämme mit Steilhängen. Riesige Särge, die Särge von Völkern. In ihrer unbeweglichen Majestät standen sie dort in der Reihe unter dem Weltenbrand.“ Das Ende der gewohnten Weltordnung und das Ende von Miklós Bánffys Siebenbürger Geschichte kulminieren in dieser apokalyptischen Szene voller Todesmetaphorik. Bálint wird wohl nicht zurückkehren.

Was für ein Glück, dass Bánffys bereits 1934, 1937 und 1940 erschienene monumentale Trilogie wiederentdeckt und durch die ausgefeilte Übersetzung des Historikers und Journalisten Andreas Oplatka auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht wurde. Von den insgesamt knapp 1800 Seiten sollte man sich nicht schrecken lassen, sondern einfach eintauchen in die Welt der ungarischen Aristokratie in Siebenbürgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, über die Graf Miklós Bánffy so kenntnisreich wie poetisch zu erzählen weiß.

Doris Roth


Miklós Bánffy: „In Stücke gerissen“, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2015, 400 Seiten, 26 Euro, ISBN 978-3-552-05633-6
In Stücke gerissen: Roman
Miklós Bánffy
In Stücke gerissen: Roman

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Schlagwörter: Rezension, Siebenbürgen, Roman, Geschichte, Gesellschaft

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