17. Februar 2016

Adolphe Binder wird neue Intendantin des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch

Wuppertal am 1. Februar 2016. Es geht heiter los im Schauspielhaus auf der Kulturinsel am Wupperbogen. Die Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen Christina Kampmann begrüßt auf dem Podium zu ihrer Linken „die junge Dame neben mir“. Die derart charmant Eingeführte muss herzlich auflachen: Adolphe (mit betontem auslautenden „e“) Binder trägt offenes dunkelbraunes Haar, eine weiße Bluse unter dem dunklen Nadelstreifen-Blazer. Die 46-jährige gebürtige Kronstädterin strahlt, schmeichelfrei, Vitalität und weibliche Eleganz aus, wirkt dynamisch, temperamentvoll, entschieden präsent. Bei dieser Pressekonferenz wird Frau Binder, derzeit noch künstlerische Direktorin der Danskompani an der Staatsoper in Göteborg, als designierte Intendantin der Tanztheater Wuppertal Pina Bausch GmbH mit Tätigkeitsbeginn ab Mai 2017 vorgestellt; ähnlich einer Initiation soll sich eine neue Beziehung öffentlichkeitswirksam entfalten, dauerhaft und nachhaltig, keine Frage.
Neben Adolphe Binder sitzt Andreas Mucke, der Ende September 2015 gewählte neue Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal, die 95 Prozent der GmbH hält. Er habe „ein sehr gutes Gefühl“, offenbart der SPD-Politiker, und sei davon überzeugt, „dass wir die richtige Wahl getroffen haben“. Die Gespräche hätten gezeigt, „dass sie das hier auch mit Enthusiasmus, mit Freude machen wird, und mit Können. Ich glaube auch, dass die Chemie zwischen Wuppertal und Frau Binder stimmen wird“. Diese Überzeugung bestätigen ihrerseits der Geschäftsführer der Tanztheater Wuppertal Pina Bausch GmbH Dirk Hesse, der auf den einstimmigen Beschluss des Beirats verweist, sowie Wuppertals Stadtdirektor und Kämmerer Dr. Johannes Slawig, der Planungssicherheit mindestens bis zum Jahr 2022 garantiert.

„Wichtigstes Tanzensemble der Welt“

Auf die weihevollen „Vorschusslorbeeren“ erwidert Adolphe Binder: „Ich freue mich tatsächlich, in mediterranere Gefilde zu ziehen aus dem hohen Norden - Göteborg ist die regenreichste Stadt Skandinaviens –, in die regenreichste Stadt Deutschlands. Vor allen Dingen freue ich mich, das kann ich kaum in Worte fassen, dieses unglaublich ikonenhafte, traditionsreiche und aus meiner Sicht wichtigste Tanzensemble der Welt leiten zu dürfen.“ Dass sie, wiewohl ursprünglich dem Schauspiel zugeneigt, sich seit nunmehr über 20 Jahren im Tanz engagiere, verdanke sich im Wesentlichen „der Arbeit von Pina Bausch, dem Sehen von Pina Bauschs Kunst“. Es sei ihr „immer eine große Inspiration gewesen, mich an dem Mut und an der Kraft, an der Neugierde, Offenheit und Weltoffenheit von Pina Bausch zu erinnern“, die sie „zwei oder drei Mal persönlich getroffen“ habe. Bei ihrer im Rahmen des Berufungsverfahrens erfolgten Begegnung mit dem über 60-köpfigen Ensemble habe sie ein „sehr gutes, warmes Willkommensgefühl“ verspürt. Sie betrachte es als „Herausforderung“, das „Erbe“ von Pina Bausch, ein „unglaublicher Schatz, der sich über vierzig Jahre angereichert hat in dieser Stadt“, zu bewahren und seine weltweite Bedeutung zu festigen. In der beginnenden Vorbereitungs- und Konzeptphase gehe es um ein gemeinsames Entwickeln, darum, Expertise zusammenzubringen.
Adolphe Binder: Ab Mai 2017 leitet die ...
Adolphe Binder: Ab Mai 2017 leitet die künstlerische Direktorin und Dramaturgin das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Foto: Mats Bäcker / Göteborgs Operan
Es ist wahrhaftig ein immenses Vermächtnis, das Pina Bausch uns hinterlassen hat. Die Stücke der 2009 gestorbenen Wuppertaler Tanzkünstlerin (1940 in Solingen geboren) werden weltweit aufgeführt. Pina Bausch hat, so urteilt der Choreograf und Tanzkritiker Norbert Servos, „ein Werk geschaffen, das einen unbestechlichen Blick auf die Wirklichkeit wirft und zugleich Mut macht, zu den eigenen Wünschen und Sehnsüchten zu stehen“. Mithin werden hohe Erwartungen an die neue Intendantin gerichtet. Zur Personalie gibt die Webseite des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch unter anderem bekannt: „Adolphe Binder ist in Rumänien geboren und in Deutschland aufgewachsen, sie war u. a. Dramaturgin an der Deutschen Oper in Berlin, Tanzchefin an der Komischen Oper Berlin und als Kuratorin und Programmdirektorin für viele internationale Tanzorganisationen verantwortlich. Seit 2011 leitet sie die GöteborgsOperans Danskompani mit 38 Tänzerinnen und Tänzern aus 17 Ländern, ist Teil der dreiköpfigen Intendanz und initiiert zahlreiche nationale und internationale Projekte.“ NRW-Kulturministerin Christina Kampmann unterstreicht: „Mit Adolphe Binder kommt eine international renommierte Persönlichkeit des zeitgenössischen Tanzes nach Nordrhein-Westfalen. Wir trauen ihr zu, das international besetzte Ensemble auf hohem Niveau weiterzuentwickeln und in die Zukunft zu führen“. Sie sei „eine exzellent vernetzte Kommunikatorin, die ihre Anliegen begeisternd vertritt und eine große Bereicherung für das Tanzland Nordrhein-Westfalen darstellt“. Ihre Wurzeln finden sich in Siebenbürgen.

Die Idee von Gemeinschaft gemeinsam neu definieren


Adolphe Binder ist 1969 in Kronstadt geboren, in der burzenländischen Gemeinde Schirkanyen aufgewachsen (der Ortsname wird erstmals 1235 in einer Papsturkunde Gregor IX. als „Sarcam“ erwähnt), in Kronstadt zur Schule gegangen. Ihre Großeltern hat sie nicht mehr kennengelernt; sie fielen nach dem Zweiten Weltkrieg der Russlanddeportation zum Opfer, starben getrennt voneinander in sibirischen Arbeitslagern. Im Juni 1978 reist Adolphe Binder mit ihrer Familie – dem aus Kirchberg stammenden Vater Andreas Binder (von Beruf Dreher), Mutter Sieglinde, geborene Zerbes (Schneiderin) und Bruder Erhard - nach Deutschland aus. In Hannover studiert sie Literatur, Geschichte und Politik, arbeitet erst als Schauspieldramaturgin, später als Projektmanagerin des Kulturprogrammes der Expo in Hannover, danach an der Komischen Oper Berlin und zudem in ihrer 2004 in Berlin gegründeten, auf die kreative Unterstützung und Realisierung von Kunst- und Kulturprojekten spezialisierten Agentur BPB. Seit 2011 leitet sie an der Staatsoper in Göteborg die Danskompani, die Arbeitssprache ist Englisch. In einer Beziehung lebend, wohnt und wirkt die künstlerische Direktorin und Dramaturgin (der Deutschlandfunk bezeichnete sie in einem Bericht fälschlich als „Marketing-Frau“ und „Managerin“) in der schwedischen Metropole, während ihr Vater bei Hannover lebt. Ihre Mutter ist bereits 1998 verstorben.

Die elektronische Kontaktaufnahme zu der vielbeschäftigten Künstlerin erweist sich als angenehm unkompliziert. Die Siebenbürgische Zeitung ist ihr nicht nur ein Begriff, sie genießt offensichtlich auch ihre Wertschätzung – keine Selbstverständlichkeit in diesen Tagen, wo andernorts „Lügenpresse, Lügenpresse!“ laut skandiert wird. Gerne ist sie bereit, die nachfolgenden Fragen zu beantworten, der knappen Ressource Zeit zum Trotz („Bei mir brennt grad die Hütte. Es ist mir jedoch wichtig“).


Auf Ihrem Lebens- und Karriere-Weg von Kronstadt nach Wuppertal liegen verschiedene europäische und auch außereuropäische Stationen. Was hat sich die Künstlerin Adolphe Binder an Prägendem aus Siebenbürgen bewahrt?

„Ich war 9 Jahre alt, als wir Siebenbürgen verließen. Ich habe also meine prägenden Kinderjahre in Rumänien verbracht, zwischen Kronstadt und Schirkanyen. Ich bin als Mensch, als Mädchen dort geformt und all das fließt in mein Denken, meine Haltung und meine Reflexion, in sämtliche künstlerische Prozesse ein. Der Sinn von Zugehörigkeit und Empathie, Gerüche und Klänge, Mischung von Kulturen und deren Einflüsse. Musik. Die Erinnerung an Menschen (und deren hartes Leben).
Das gespaltene Verhältnis zu Autorität in einer Diktatur, das Bewusstsein von Einschränkung, von Freiheit und die Sehnsucht danach, die Erfahrung und die Energie der Menschen um einen, Verlust, Schmerz, Hoffnung. Auch die unterschwellige Angst der Menschen und die Kontrolle. Der protestantische Fleiß und der Wille und Wunsch, etwas zu bewegen, sich auszudrücken, unzensiert. Vor allem aber vielleicht der Mut, in Neues, Unbekanntes zu gehen, gespeist aus der Erfahrung, dass nichts bleibt wie es ist und alles ständig fließt. Der Schmerz des Zurücklassens und der anfänglichen Verlorenheit aller Migranten. Und sicher auch eine Portion Dankbarkeit. All das fließt in mein ‚Schaffen‘ ein.“


Im 7. Jahr nach dem Tod der Choreografin Pina Bausch werden Sie ab Mai nächsten Jahres in Wuppertal ein legendäres Ensemble leiten. Was bewegt Sie vorausblickend am stärksten bei dieser neuen Herausforderung? Welche Akzente wollen Sie in Wuppertal setzen?

„Die Aufgabe und wunderbare Herausforderung wird sein, den unglaublichen Schatz, den Pina Bausch über 40 Jahre und mit ebenso vielen Stücken geschaffen hat, zu bewahren und auf hohem künstlerischen Niveau am Leben zu erhalten und in die Zukunft zu bringen, damit das Oeuvre nicht verloren geht. Tanz als flüchtigste Kunstform existiert ja nur im Moment seiner Aufführung, umso wichtiger ist dies. Es ist mir aber auch wichtig zu vergegenwärtigen, dass Tradition jedoch vor allem das Weiterreichen der Flamme ist, also des Geistes Pina Bauschs, die diese tolle Bühnenkunst ermöglichte. Ihre Weltoffenheit, ihre Courage, ihre Neugierde auf Neues und ihren Mut, andere Kunstformen zu umarmen. Auch ihre Unbedingtheit, zu dem zu stehen, was sie für richtig hielt, anfänglich gegen viel Unmut des Publikums. Diesen Esprit in der Öffnung der Compagnie für andere Künstler und eine neue Ära neu anzufachen, das ist sehr spannend. Auch im Hinblick auf den Bau des Pina-Bausch-Zentrums. Die nationalen und internationalen Tourneen werden ebenso eine Rolle spielen, wie das Wiederentdecken ihrer Methodik, auch angesichts von Residenzen im Ausland.“


Wir erleben in Europa gegenwärtig, als Reaktion auf die Flüchtlingsströme, eine Renaissance der Grenzen, ein Wiedererstarken von Nationalismus und nationalem Egoismus. Davor genossen wir Reisefreiheit, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer. Die Vision von einem Europa ohne Grenzen verblasst, Abschottung nimmt zu. Mit welchen Sorgen, Hoffnungen, Erwartungen betrachten Sie die aktuellen Entwicklungen?

„Ich habe mich in meinem Leben viel mit Grenzen und deren Überschreitung auf allen Ebenen beschäftigt: im Semantischen, Topographischen, Geschlechtlichen, Medizinischen, mit Biopolitik und ‚gated communities‘ und anderem mehr. Ich arbeite derzeit mit Menschen in meiner Compagnie, die aus 17 Ländern kommen. Ich kann mir nichts Bereichernderes vorstellen. Mein Leben war eines von Grenzgängen und von Zwischenräumen, von Nomadentum und dem „weder hier noch dort“. Hier ist es, wo Kreativität passierte.
Angst und Gier führen wieder zu mehr Verschlossenheit. Ich finde vieles, was passiert und geschürt wird, sehr bedrohlich und versuche, Weltoffenheit und Durchlässigkeit zu leben und auf die Bühne zu bringen. Migration und Bewegung ist so alt wie die Menschheit, sie hat alle evolutionären Prozesse und Innovationen angestoßen. Die Welt ist wieder in Bewegung und es kommen neue Zeiten, andere Menschen, vieles wird sich verändern, man wird es nicht verhindern und soll es auch nicht. Wir werden daran wachsen und das ist wunderbar. Viele werden Dinge und überkommene Ideen loslassen müssen, auch die Idee des Nationalstaats. Leben ist nur, wo Durchlässigkeit ist, wo Sauerstoff, also Frischluft `rein kann und Räume nicht hermetisch abgedichtet werden. Veränderung ist etwas Positives. Man muss den Menschen die Angst vor dem Fremden nehmen. Das ist sicherlich nicht einfach, aber unabdingbar. Die Idee von Gemeinschaft muss gemeinsam neu definiert werden. Es ist eine riesige Herausforderung, aber wir müssen uns ihr anders stellen als durch Abwehr.“


Uns bleibt nur, der herausgeforderten Künstlerin für ihre neue Aufgabe in Wuppertal weiterhin fruchtbares Schaffen zu wünschen, und dem neugierigen, weltoffenen Menschen Adolphe Binder ein kulturfreundliches Klima in einer offenen und toleranten Gesellschaft.

Christian Schoger


Schlagwörter: Tanz, Theater, Wuppertal, Binder, Rumänien, Deportation, Führungswechsel, Führung, Nordrhein-Westfalen, Kronstadt, Schirkanyen, Bausch

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Neueste Kommentare

  • 17.02.2016, 08:35 Uhr von bankban: Ganz, ganz vielen Dank für dieses Kurzinterview mit einer Künstlerin, deren Namen ich (Schande) ... [weiter]

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