2. Mai 2008

Notorische Grenzgänge - rumäniendeutsche Literaturtagung in Bad Kissingen

Vierzig Literaturwissenschaftler und Nachwuchsgermanisten (Studierende und Doktoranden) aus Norwegen, Ungarn, Rumänien, Österreich und Deutschland debattierten vom 10. bis 13. April in der Bildungsstätte „Der Heiligenhof/Akademie Mitteleuropa“ über Grenzüberschrei­tungen, Zwischenräume, Identitätsoptionen. Rumäniendeutsche Literatur im norwegisch-rumänisch-deutschen Dialog und stellten neueste Forschungsarbeiten vor. Die Tagung war der Schlussstein eines dreiteiligen Zyklus von wissenschaftlichen Begegnungen in Bergen (April 2007), Bukarest (November 2007) und Bad Kissingen, dem bekanntesten Kurbad Deutsch­lands.
Diese Konferenzen wurden in gemeinschaftlicher Zusammenarbeit des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig Maximilians-Universität München mit dem Institut für Germanistik der Universität Bergen, dem Institut für Germanistik der Uni­versität Bukarest und dessen Exzellenz- und Forschungszentrum „Paul Celan“ geplant und durchgeführt. In Bad Kissingen kam zu den Ver­anstaltern der Stiftungslehrstuhl der Bundes­re­publik Deutschland „Deutsche Literatur im südöstlichen Europa“ an der Babeș-Bolyai-Univer­sität Klausenburg hinzu. Federführend bei der Konzeption für den deutschen Teil war Peter Motzan (IKGS), für Norwegen Sissel Laegreid und für Rumänien George Guțu.

Gelegentlich hört man den Vorwurf, die ru­mäniendeutsche Literatur sei selbstreferentiell, eine mit sich selbst beschäftigte, beinahe esoterische Schriftsteller-, Kritiker- und Lesergrup­pe. Dass dies nachweislich nicht stimmt, zeigt das internationale Interesse an der rumäniendeutschen Literatur, das vor allem der Bekannt­heit und Bedeutung zeitgenössischer deutschsprachiger Autoren wie Paul Celan, Rose Aus­länder, Herta Müller, Richard Wagner, Hans Ber­gel und Franz Hodjak, um nur einige zu nen­nen, zu verdanken ist. So wurden die Werke Herta Müllers in rund 20 Sprachen übersetzt (auch in alle skandinavischen Sprachen). Die nor­wegischen Gäste hatten demzufolge an dieser Autorin ein besonderes Interesse, die rumänischen Germa­nis­ten vorwiegend an den Schrift­stellern siebenbürgisch-deutscher Her­kunft.
Tagungsteilnehmer beim Stadtbummel auf dem ...
Tagungsteilnehmer beim Stadtbummel auf dem Rathausplatz in Bad Kissingen. Foto: Gustav Binder
Den Reigen der Referate eröffnete Sigurd Scheichl (Innsbruck) mit dem Beitrag: Kom­mentieren als Überschreiten von Verstehens­grenzen. Muss man südöstliche Autoren kommentieren? Stefan Sienerth (München) referierte über Adolf Meschendörfer und Skandinavien. Adolf Meschendörfer hatte als Herausgeber der Literaturzeitschrift „Die Karpathen“ moderne skandinavische Literatur, insbesondere Knut Hamsun, rezipiert und ihr bedeutende Impulse zu verdanken. Auch in Meschendörfers erstem Roman „Leonore“ ist der Protagonist ein Wel­ten­­bummler aus Skandinavien, der sich der Liebe wegen in Kronstadt niederlassen möchte.

Lucia Nicolau (Bukarest) beschäftigte sich mit der Prosa des siebenbürgisch-sächsischen Pfar­rers und Autors Andreas Birkner. Raluca Ră­dulescu (Bukarest), die kürzlich über das Werk Hans Bergels an der Universität Bukarest promoviert wurde, referierte zum Thema Heimat und weite Welt. Hans Bergels Roman „Der Tanz in Ketten“. Maria Irod (Bukarest) hinterfragte Dieter Schlesaks Begriff des „Zwi­schen­schaft­lers“ und analysierte „Augenöf­fnung“ und „Nicht-nur-Schreiben-wollen“ im Grenz­raum der Sprache. András Balogh (Buda­pest/Klau­senburg) hatte sich das neueste literarische Prosawerk Joachim Wittstocks, „Die uns angebotene Welt“, vorgenommen. Balogh vertrat die Ansicht, dass das Werk, das die Stu­dienjahre des Autors und mehrerer siebenbürgisch-sächsischer junger Leute in Klausenburg nach dem Ungarnaufstand zum Thema hat, nicht als Schlüsselroman zu bewerten sei, sondern als eine dokumentarisierte Fiktion jener spätstalinistischen Jahre der politischen Pro­zes­se u. a. auch gegen Angehörige der deutschen Min­derheit (Schwarze-Kirche-Prozess, Schrift­stel­lerprozess u. a.). Daniela Ionescu (Bu­karest) stellte Überlegungen zu Franz Hodjaks Roman „Grenzsteine“ an, einem Roman, in dem die Vorkommnisse bei der Visaerteilung auf dem Gelände der deutschen Botschaft in Bukarest zum Zweck der Ausreise aus Rumä­nien Anfang der 1990er Jahre ins Absurde überspitzt werden.

Iulia-Karin Patrut (Trier) untersuchte Richard Wagners „Zigeuner“ auf dem Hinter­grund deutsch- und rumänischsprachiger Re­präsentationstraditionen. Sowohl im politisch-analysierenden, essayistischen als auch in den belletristischen Werken Wagners ist die Pro­blematik der „Zigeuner“ in Südosteu­ropa präsent. Im jüngsten Roman Wagners „Das reiche Mädchen“ werden die elementaren Kul­tur­kon­flikte einer von „Multikulti“-Idealen und „Gut­men­schentum“ geprägten Ethnologin und eines Rom, Bürgerkriegsflüchtling aus Jugosla­wien, thematisiert. Ulrich van Loyen (München) be­schäftigte sich mit Richard Wagners Abschied von der postkommunistischen Moderne. Ioana Crăciun-Fischer (Bukarest) stellte Rezeptions­ästhe­tische Überlegungen zur rumänischen Di­mension der Lyrik Rolf Bosserts an, ihre Kol­legin Mariana Lăzărescu (Bukarest) analysierte Wortspiel und Witz in den Texten Hellmut Sei­lers. Der Präsident des rumänischen Ger­ma­nistenverbandes, George Guțu (Buka­rest), stellte den zu spätem Ruhm gelangten Buko­winer Autor jüdischer Herkunft Moses Rosen­kranz an­­hand seiner autobiographischen Auf­zeich­nungen vor.

Von den norwegischen Gästen aus Bergen befasste sich Sissel Laegreid mit der Poetik der Grenze und der Entgrenzung bei Paul Celan, Siri Stromsnes mit dem Bild und Selbstbild der Frau in Herta Müllers „Reisende auf einem Bein“, Espen Ingebrigtsen mit der performativen Gedächtniskritik in Herta Müllers Essays. Torgeir Skorgen verglich die Poetik der Grenze bei Hölderlin und Paul Celan. Michael Grote (Bergen), obzwar Literaturwissenschaftler, mach­te auf die 1973 in Kronstadt geborenen, ungemein erfolgreichen zeitgenössischen Künst­ler(zwillinge) Gert und Uwe Tobias aufmerksam. Die beiden Brüder arbeiten auch mit The­men ihrer Herkunftslandschaft.

Neben den Vorträgen der arrivierten Wissen­schaftler und Hochschullehrer präsentierten sich drei von 17 teilnehmenden Studenten mit den Projekten wissenschaftlicher Abschlussar­beiten. Albert Weber (München) berichtete über sein Vorhaben, Das Bild Rumäniens in den bundesdeutschen Medien im Jahr 1989 zu analysieren, Orsolya Lénárt (Budapest) über die Er­stellung einer Fachbibliographie zum Un­garn­bild in der Literatur des 17. Jahrhunderts, und Bálint Walter (Budapest) über Auto­bio­graphie und Fiktion in literarischen und biographischen Auskünften von Franz Hodjak.

Auf besonderes Interesse stieß die von George Guțu moderierte Lesung von Hans Bergel (Grö­benzell). Die persönliche Begegnung mit dem kreativen Autor war beeindruckend. Stefan Sienerth bedankte sich stellvertretend bei Ber­gel für alle untersuchten Autoren. Eine Doku­mentation und Publikation der Tagungs­beiträge im Verlag des IKGS ist für 2009 eingeplant.

Gustav Binder

Schlagwörter: Tagung, Bad Kissingen, IKGS, Literaturgeschichte

Bewerten:

15 Bewertungen: +

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.