28. Juni 2009

Ausstellung in München: Monte Verità – Berg der Siebenbürger

Vom 1. Juli bis 30. November 2009 wird in der Monacensia, im Hildebrandhaus über dem Isarhochufer, Maria-Theresia-Straße 23, in München eine Ausstellung über den Monte Verità und Schwabing zu sehen sein (Eröffnung am 30. Juni, 19 Uhr). Monte Verità oder „Berg der Wahrheit“ – der Name bezeichnet jene Siedlung von Reformern, Aussteigern, Kulturrebellen bei Ascona, die, was wenige wissen, mehrheitlich von Siebenbürgern und Siebenbürgerinnen gegründet und aufgebaut worden ist.
Ihr Anreger und Antreiber war der in Kronstadt geborene Maler und Dichter Gusto Gräser, der im Frühjahr 1899 seinen Weg in die Hauslosigkeit antrat: besitzlos wandernd, nur seiner inneren Stimme gehorchend. Ihm folgte sein älterer Bruder Karl, ein Berufsoffizier. Die beiden suchten Genossen, um im Süden eine Kolonie alternativen Lebens in Licht, Luft und Sonne zu gründen, eine Insel der Freiheit, der Naturfrömmigkeit und der Brüderlichkeit. In drei aus Siebenbürgen stammenden Schwestern fanden sie Gesinnungsverwandte: Ida, Jenny und Lilly Hofmann. Auf der Suche nach eigenem Land wanderte die kleine Gruppe im Herbst 1900 von München aus über die Alpen an den Lago Maggiore. In Monte Trinità über Locarno stießen sie auf eine andere Siebenbürgerin, die Fabrikantengattin Albine Neugeboren. Der jüngste Gräserbruder, Ernst, schloss sich zeitweise ebenfalls der Gemeinschaft an. Also: drei Brüder Gräser, drei Schwestern Hofmann, Frau Neugeboren. Sieben Siebenbürger pflanzten die Fahne des naturfrommen „Neuen Menschen“ auf dem Weinberg von Ascona.

Zu ihnen gesellte sich später der Tänzer, Choreograph und Tanztheoretiker Rudolf von Laban de Váraljá, dessen Mutter aus Kronstadt stammte und der in den Karpaten die wesentlichen Eindrücke seiner Jugend empfing. Durch ihn wurde der Monte Verità zur Wiege des Ausdruckstanzes.
„Roue Oriflamme“ oder „Goldflammendes Rad“, ...
„Roue Oriflamme“ oder „Goldflammendes Rad“, Metallplastik von Hans Arp (1887-1996) auf dem Monte Verità von Ascona.
Warum Siebenbürger? Was trieb sie an, den kühnen Ausbruch aus der damaligen Kultur zu wagen? Hatten sie mehr als andere Grund dazu? – Offensichtlich. Nirgendwo sonst in Mitteleuropa hatte sich eine so weitgehend geschlossene, religiös geprägte Stammes- und Bauernkultur erhalten wie gerade in Siebenbürgen. Der Name sagt es schon: Burgen des Glaubens, wehrhafte Kirchenburgen in einem feindlichen oder zumindest andersvölkischen Umland. Eine Kampf- und Notsituation. Daher äußerste Disziplinierung in der Gemeinschaftsordnung, in Kirche, Schule und Nachbarschaft. Durch Privilegienverlust noch mehr in die Enge gedrängt, angesteckt auch vom autoritären Stil des reichsdeutschen Wilhelminismus, wurde die einst behütende Mutter Kirche-und-Schule gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur bedrückenden Zwangsanstalt. Dagegen rebellierte der junge Gusto Gräser, dagegen rebellierten die Sensiblen und Begabten. Künstler waren die Beteiligten fast alle: die Maler-Dichter Ernst und Gusto, die Pianistin Ida, die Opernsängerin Jenny, die Schriftstellerin Hilde Neugeboren, der Tänzer und Maler Rudolf von Laban. Eine Elite sprengte den Panzer der Konvention. Aber nicht etwa, um den Verlockungen der Moderne in die Falle zu gehen, nicht um ihr Heil in der Anpassung an Mechanik, Materialismus und Atheismus der industriellen Zivilisation zu suchen. Sondern abgestoßen von dieser anderen Art der Versklavung suchten sie einen dritten Weg. Einen Weg, der ihnen ermöglichen sollte, die Glaubenskraft und den hohen Mut der Väter auch in einer veränderten Welt zu bewahren. Einen dritten Weg nicht nur zwischen Kapitalismus und Kommunismus, den beiden Idolen der Zeit, sondern einen solchen jenseits von technokratischer Moderne sowohl wie von klerikokratischer Vergangenheit. Den Anstieg zu diesem Dritten nannten sie „Berg der Wahrheit“.

Von daher die Anziehungskraft dieser wirtschaftlich ständig scheiternden Ansiedlung auf dem Weinberg von Ascona. Die Unzufriedenen und Unterdrückten kamen, vor allem aber die denkfähige, suchende, die sensible und aufbegehrende Intelligenz: Erich Mühsam, Hermann Hesse, Hugo Ball, Ernst Bloch, Gerhart Hauptmann, Hans Arp, Martin Buber, Ernst Toller, Else Lasker-Schüler … – Die Namen sind Legion. Namentlich während des Ersten Weltkriegs sammelte sich hier der Widerstand gegen Chauvinismus, Militarismus, Krieg. Mitten im tödlichen Schlachten feierten Rudolf von Laban und Mary Wigman im August 1917 tanzend das „Sonnenfest“ des Lebens. Sie tanzten es vor der Felsgrotte Gusto Gräsers, jenes Dichterpropheten, der nicht etwa den Weltuntergang, sondern eine Blütezeit verkündete: „Erdsterns Dochblüthezeit“.

Gusto Gräser war die prägende Persönlichkeit  von ...
Gusto Gräser war die prägende Persönlichkeit von Monte Verità, dem „Berg der Wahrheit“.
Der Berg hatte sich gewandelt. Was als lebensreformerische Praxis begonnen hatte –Vegetarismus, Nacktkultur, freie Liebe, Selbstarbeit, Gartenbau, Gleichberechtigung der Frau, Abbau von Herrschaft –, suchte nun seine geistige Verankerung in Theosophie, Anthroposophie, Philosophie, Dichtung und Kunst. Ida Hofmann etwa, zunächst Feministin und Darwinistin, mauserte sich zur Theosophin und Freimaurerin. Gusto Gräser ging seine eigenen Wege. Sein Aufenthalt auf dem Berg dauerte nicht allzulang. Die „vernünftigen“ Anpasser, die Kompromissbereiten warfen ihn hinaus. Gusto wanderte weiter als der wandelnde und leibhaftige „Berg der Wahrheit“. Andere, die Sesshaften, eben jene, die meinten, in einer maßvollen Anpassung ans Übliche Sicherheit zu finden, gingen zugrunde. So auch Karl, der sich ein Besitztum schuf und seinem aus dem Haus vertriebenen Bruder Gusto schrieb: „Dein Streben scheint mir nicht schlecht, im Gegentheil, aber himmelschreiend maßlos und darum eitel, unwahr, unwirklich. Ohne Besitz kannst Du ja nicht leben. Du bist ein von Schönheit und Güte Besessener.“

Karl starb vierundvierzigjährig im Irrenhaus, seine Lebensgefährtin Jenny Hofmann starb im Irrenhaus. Der verbürgerlichte Bruder Ernst starb sechzigjährig an Krebs. Ida Hofmann starb zweiundsechzigjährig in Brasilien. Nur der besitzlose, allseits verachtete und vertriebene Gusto überlebte, wurde trotz äußerster Not in ungeminderter Schaffenskraft achtzig Jahre alt. Der Aufstieg zum Monte Verità war kein Spaziergang gewesen, die Suche nach neuen Lebensformen forderte ihre Opfer. Die Wenigen, die sich diesem „Narrenhaus“ zu nähern wagten, die Dichter, Denker und Künstler, waren klug genug, ihre Besuche und die Wurzel ihrer Erkenntnisse geheim zu halten. Anonym und verschlüsselt, in Gedichten, Romanen und Aktionen, verbreitete sich die Botschaft vom Berg, überlebte im Untergrund und tauchte in den Siebzigerjahren, plötzlich aktuell geworden, wieder an die Oberfläche: als Alternativbewegung, als Umwelt- und Friedensbewegung. Jetzt erwies sich: Die „Narren“ von einst hatten die Zukunft vorweggenommen.

Drei Bücher, die man „Bibeln“ genannt hat, stehen stellvertretend für die Wirkungen, die vom Berg der Siebenbürger ausgingen: Ernst Blochs (des damals noch antibolschewistischen Philosophen) Geist der Utopie, 1917 in Locarno-Monti im Hause Neugeboren abgeschlossen, wurde als „Bibel des Expressionismus“ gefeiert. Hermann Hesses Roman Demian, in dem er seinem Freund und Lehrer Gusto Gräser ein Denkmal setzt, machte als „Bibel der Jugendbewegung“ Furore. Rudolf von Labans Die Welt des Tänzers von 1920, in dem er seine auf dem Monte Verità gewachsene Tanzphilosophie entwirft, galt bald als „Bibel des Ausdruckstanzes“. Drei Grundthemen des Berges sind damit angedeutet: der nie erlahmende Mut zur Utopie, die Suche nach dem eigenen Selbst, die ekstatische Hingabe ans Hier und Jetzt im Bild des zum Tanz begeisterten Leibs.

Gräser, der Unbehauste, Verlachte, der Kriegsdienstverweigerer, der Mystiker, der prophetische Dichter, dessen Werk erst jetzt aus der Versenkung auftaucht – er wird schon heute in Romanen, Gedichten, Liedern, Theaterstücken, Ausstellungen und Filmen als ein Bahnbrecher gefeiert. Man sieht ihn als den „Gandhi des Westens“ oder als „Urvater der Grünen“. In Boston wurde 1993 eine Oper uraufgeführt, in der er „in einer finalen Apotheose durch das von zwei Weltkriegen verwüstete Europa wandert als lebendiger Geist des Widerstands“. Er hat den „Berg der Wahrheit“ nicht nur überlebt, er hat ihn höhergebaut in Wort und Tat.

Hermann Müller

Eine Ausstellung zum Thema „Freie Liebe und Anarchie. Schwabing – Monte Verità. Entwürfe gegen das etablierte Leben“ zeigt die Monacensia (Maria-Theresia-Straße 23 in München- Schwabing) vom 1. Juli bis 13. November. Eröffnung ist am 30. Juni um 19.00 Uhr.

Schlagwörter: Gräser, München, Kronstadt, Philosophie

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