24. Oktober 2012

Wo die Liebe hinfällt. Es war Liebe auf den ersten Blick

Über die 44 Siebenbürger Sachsen, zum Großteil Kleinprobstdorfer, die im Juli 2011 eine Reise in die alte Heimat machten, hat Maria Grigori in dieser Zeitung schon berichtet. Im folgenden Text geht sie mit literarischem Spürsinn und viel Humor einer leidenschaftlichen Beziehung nach, „welche beiderseits von kollektiven Liebespartnern gelebt“ wurde.
Die leise Vorahnung einer großen Liebe schlich sich ein, kurz nachdem wir die ungarisch-rumänische Grenze passiert hatten. Daselbst schlug die Schicksalsstunde für den Beginn einer leidenschaftlichen Beziehung, welche beiderseits von kollektiven Liebespartnern gelebt werden sollte.

Auch wenn es anfangs keiner wagte, sich dazu zu bekennen, so kam er von den seltsam prickelnden Empfindungen, die sich im Laufe einer Woche beständig festigen sollten, nicht los. Schon am Rande der Autobahn hatten sie, die einen Liebespartner, ein Auge auf uns geworfen, wohlwissend welche Liebesgabe der besonderen Art sie für uns bereithielten, das Geheimnis, was das Objekt der Begierde für die meisten von uns werden sollte, noch nicht preisgebend.

Bald zeigte jedoch einer der kollektiven Liebhaber von der anderen Seite, unser Reiseleiter H. F., Mut und sagte präzise wie ein neuer Lautsprecher am Bahnsteig jede Schafherde und jedes einzelne Schaf, geografisch genauestens lokalisiert, an, wobei die Schafe entlang der Autobahn nur der Vorläufer in einer Kette, geschmiedet aus unzähligen Liebesringen, sein sollten.

Auf unserer Wegstrecke durch das Landesinnere zeigten sich die friedlichen Tiere immer häufiger und pünktlich zum ersten Frühstück stand ihr Liebesgeschenk auf dem Büffettisch bereit: KÄSE, SCHAFSKÄSE wurde zum Schlagwort unserer Reise schlechthin. Einmal direkt in Kontakt damit gekommen, einmal die ersten Bissen davon genussreich verzehrt, bedeutete den Beginn einer regelrechten Abhängigkeit von diesem für uns unentbehrlich gewordenen Produkt, die nie enden sollte. Die Liaison zwischen dem Käse und den in die Heimat angereisten Kleinprobstdorfern wurde offiziell. Nach und nach trauten sich alle Käse-Verliebten ihre erhabenen Gefühle zum Käse öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Der Käse erfüllte seine Ganztagsfunktionalität: als Begrüßung am neuen Morgen, als treuer Begleiter, wenn wir unterwegs waren, als Stärkung beim Abendessen, als Gute-Nacht-Kuss für so viele erwachsene Verliebte. Käse wurde zum Stoff sinnlicher Träume in den heißen Julinächten 2011 in der alten Heimat.

Uns Käsemenschen war klar, dass wir uns auf keinen Fünftagesflirt einlassen wollten, hegten wir doch Gefühle, welche tief verwurzelt auf dem Grund unserer Käseseele lagen. Es musste gehandelt werden, ganz eindeutig war diese Erkenntnis. Es begann das Taktieren, das Überlegen, das Vorbereiten, das geistige und psychische Training, eine ausgesprochene Logistik dafür, wie wir diese Beziehung weiterführen, wie wir unseren heiß geliebten Käse über die Grenzen nach Deutschland schleusen konnten.

Viele unserer Käsemenschen hatten Bekannte in verschiedenen siebenbürgischen Ortschaften, von wo aus für unsere zukünftige Käseaktion agiert werden konnte. Sie alle zeigten höchste Einsatzbereitschaft, um den Käsekauf zu organisieren. Das Geschäft mit dem Käse nahm seinen Lauf. Es wurde vielerorts Käse bestellt und gekauft. Die Begeisterung und Hingabe, die dabei unter Beweis gestellt wurden, waren beeindruckend. Ob das nun in Dunesdorf bei H. T. geschah, der mit weiten Schritten und großen Käselaiben in den Händen über seinen gepflegten, einladenden Hof einherschritt und großzügige Scheiben portionierte, ob nun rumänische Freunde sich bei unseren Kleinprobstdorfern im Hotel Edelweiß einfanden und ihre Käsegeschenke verteilten oder ob eigens am letzten Morgen die Käsefrau aus Großprobstdorf anreiste – jeder kleine oder größere Käsehandel nahm euphorische Züge an. Etwas aufwändiger und nervenaufreibender gestaltete sich der Handel mit der für den Abreisetag bestellten Bäuerin aus dem vorhin erwähnten Nachbardorf. Die Verantwortung für diesen „Deal“ lag in den Händen von H. B. Per Votum wurde beim Abendessen feierlich festgelegt, wer denn Interesse am Großprobstdorfer Käse habe und es wurde arithmetisch genauestens ermittelt, was an Transportlasten auf die Bäuerin zukommen würde. Trotz pedantischer Planung hatte sich ein kleiner Fehler eingeschlichen, für den unser gutmütiger H. F. büßen musste. Er selber hatte zwar bei der Großprobstdorferin keinen Käse bestellt, aber mit Sicherheit seine anonymen Käsequellen auch ausgeschöpft. Nichtsdestotrotz wurde er in das Käsekapitel des letzten Tages mit einbezogen.

H. F. noch in seinen Käseträumen schwelgend, wird jäh aus denselben gerissen, als die Türklingel ihm mit ihren schrillen Klängen Angst und Schrecken einjagt. H. F. springt orientierungslos aus dem Bett, versucht sich in Zeit und Raum zurechtzufinden, alle Käsewahrnehmungen aus dem Traum auszublenden und macht schon einen wilden Satz zur Türe, besinnt sich aber in letzter Sekunde, dass er sich in diesem Trancezustand nicht zeigen kann. Zudem vermisst er ein wichtiges Zubehör, welches sich nämlich im Badezimmer befindet. H. F. will keinesfalls Makel an seinem jugendlichen Erscheinungsbild erkennen lassen und eilt deswegen zum Wasserglas ins Badezimmer. Dort ruhen sich nämlich seit dem Vorabend seine Zähne von allen Käsestrapazen der letzten Tage aus. H. F. greift entschlossen ins Glas, jedoch der Griff ist zu rabiat und leidet unter frühmorgendlichen Störungen in der Feinmotorik. Die Zähne landen nicht im Mund, sondern in dem Abfluss des Waschbeckens. (So erzählt es die Legende.) Die Türklingel wird immer penetranter, der Klingler immer nervöser und der zahnlose Mann auf der anderen Seite der Türklingel immer gereizter.

Er bekennt Farbe, geht mit ödem Ober- und Unterkiefer zur Türe, um nach dem Grund des stürmischen Betätigens der Türglocke zu fragen. Ihm gegenüber steht H. B., der H. F. fürsorglich daran erinnert, die Käsefrau sei zur Stelle, er möge sich an der improvisierten Käsetheke einfinden. H. F. platzt der Kragen, die Leber, der Magen, der gesamte Verdauungsapparat rebellieren. Er verspürt nur noch, wie sich ein übler Nachgeschmack von Käse in seiner unbemannten Mundhöhle ausbreitet. Außerdem hat er überhaupt keine Bestellung bei dieser Lieferantin aufgegeben!!! Das ist doch unerhört! Er muss sich jetzt doch dringend um seine Zähne kümmern, sie aus dem Abfluss des Waschbeckens befreien, ansonsten fährt er noch ohne Zähne, aber mit viel Käse im Gepäck nach Deutschland zurück. Was soll der ganze Käse?!

Im Bus donnert er wie käsewahnsinnig ins Mikrophon, nachdem er uns die Panne vom letzten Morgen geschildert hat: „Ech kun det Wiurt Kes nemi hiren!“ („Ich kann dieses Wort Käse nicht mehr hören!“)

Ich selber bin auch keine Käseaktivistin, aber allein schon, wenn das Wort Käse fällt, schmunzele ich heimlich und habe noch einen Verbündeten im Bus, dem es ähnlich ergeht.

Die ganze Situation mit dem Leitmotiv „Käse“ offenbart allmählich skurrile Seiten. Ich bin überrascht darüber, wie unsere Hausfrauen schon in Deutschland für den Transport ihres Liebhabers vorgesorgt haben. Die einen haben Handtücher, die anderen Küchentücher, Taschen und Dosen mit auf die Reise genommen. Der Käse wird eingewickelt, zweifach, dreifach isoliert, gestreichelt, liebkost und mit einer weiteren reisefesten Schicht abgedichtet. Dann wird er im Sonderabteilgepäckraum des Busses verstaut. Von dort aus sendet er uns hin und wieder wohlbekannte Käsedüfte in das Innenleben der oberen Busetage. Wir saugen sie in die noch nicht vom Käsebazillus belasteten Lungenteile ein und lassen unseren Magen mit einem leisen Knurren die Liebesgrüße erwidern.

K., unser Busfahrer , spielt plötzlich in dem Sketch mit, kommt ihm doch eine Protagonistenrolle zu, weil ohne seine Zustimmung der Käse in Rumänien bleiben müsste und dem Verderben preisgegeben wäre. K. fährt den Käse bei tropischen Temperaturen von 40 Grad durch rumänische, ungarische und deutsche Lande, obwohl er auch eindringlich mahnt und warnt, dass mit dem Überschreiten der Grenzen das Überleben des Käses nicht garantiert sei.

Für unsere Käsemenschen besteht aber keine ernsthafte Gefahr mehr. Sie haben ihren Geliebten/ihre Geliebte in das gelobte Land geführt und den Bund fürs Leben geschlossen. Jeder Käsemensch wird zu Hause vor seinem eigenen Altar ein originelles Versprechen abgeben und sein höchst individuelles Ritual dabei feiern.

In Nürnberg angekommen darf ich selber auch noch an einer kleinen Bündnizeremonie teilnehmen. Ich übernachte bei N. K. und darf ihr beim Auspacken, Waschen, Abklopfen, Drehen und Wenden des stattlichen Käselaibes zur Hand gehen. Dabei fühle ich mich sogar wohl und merke, dass ich blitzartig auch noch aus der passiven Käserolle in eine kleine aktive geschlüpft bin. Als Belohnung erhalte ich von N. K. ein Stück Käse, welches weiter nach Ebersberg und dann nach Waldkraiburg reist, geschenkt.

Noch in Nostalgien schwelgend, stelle ich mir vor, dass der rumänische Käse ausschließlich mit rumänischen Tomaten gut schmecken würde. Es ist Montag Nachmittag. Ich begebe mich auf den Weg ins rumänische Geschäft „La coana mare“ in Waldkraiburg. Zu meiner Enttäuschung hat es an diesem Tag geschlossen. Ich gebe nicht auf, ein dunkler optimistischer Käsedrang ermutigt mich im Unterbewusstsein dazu. Ich drücke gegen die Türe und sie geht tatsächlich auf. Drinnen ist es dunkel. Aber einer muss doch da sein, denke ich mir. Ich rufe. Hinter einem Regal antwortet eine Männerstimme.

Ich wusste es doch, die Käseleidenschaft lässt mich nicht im Stich. Dem Mann hinter dem Regal erkläre ich einfach, ich sei von einer eindrucksvollen Siebenbürgenreise zurückgekehrt, habe Käse mitgebracht und bilde mir ein, ich müsse zum Abendbrot unbedingt auch rumänische Tomaten essen. Ich kann den Mann noch immer nicht erkennen, ich höre bloß Geräusche im Laden. Plötzlich erscheint er an der Tür, hält mir Tomaten hin. Als ich frage, was ich dafür schuldig sei, antwortet er: „Nu costă nimic, doamnă. Vă doresc poftă bună!“(Sie kosten nichts. Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.) Ich bin beeindruckt und zu Tränen gerührt. Zu Hause genieße ich mit allen Sinnen den rumänischen Käse und die rumänischen Tomaten.

Wochen später unternehme ich eine Wanderung rund um den Egglburger See in Ebersberg und denke bei der herbstlichen Stimmung oft an die siebenbürgischen herbstlichen Wälder. Die Melancholie nimmt mich gefangen und in der schwermütigen Erinnerung fest verankert raunt der Liebhaber Käse mir schmeichelhafte Worte zu.

Ich setze mich auf eine Bank am See. Eine ältere Dame verwickelt mich in ein Gespräch, in dem sie mir unter anderem die Frage stellt, wo denn meine schöne Sprache herkomme. Sie erzählt mir, sie stamme aus dem Sudetenland. Sie denke öfter an den „brânza“, den sie dort vor Kriegsbeginn als Kind liebend gerne gegessen habe. In Deutschland habe sie viele verschiedene Käsesorten ausprobiert, aber keine schmecke wie die „brânza“. Glücklicherweise habe sie vor kurzem an der Käsetheke eine freundliche Verkäuferin kennengelernt. Die habe ihr versprochen, wenn sie nach Hause nach Siebenbürgen fahre, bringe sie ihr von dort das Originalprodukt mit. Die siebenbürgische Verkäuferin hielt Wort, die Kundin bekam ihren Käse in einwandfreiem Zustand, zudem noch durch den Fleischwolf getrieben. Letztere war selig, sie hatte ihren alten Liebhaber – wohl einen Verwandten des unsrigen – nach Jahrzehnten wiedergefunden.

Auch wenn H. F. das Wort Käse nicht mehr hören kann, es handelt sich eben um eine Droge, die, wenn man sie nicht zu sich nimmt, zu gefährlichen Entzugserscheinungen bei den Konsumenten führen kann. Dabei darf er auch nicht vergessen, dass er derjenige war, der als erster seine Liebeserklärung an die Tiere, die uns diesen wertvollen Stoff liefern, publik machte.

Oft wenn ich abends im Bett liege und mein Blick auf den Himmel mit den Schäferwölkchen gerichtet ist, lasse ich mich mit diesen treiben und von ihnen auf einen weiten Weg mitnehmen. Auf meiner Traumreise geschieht ein Wunder. Aus den vielen Käsestücken, welche K. in seinem „Schmetterling“-Bus transportiert hat, werden Schafe und die fahren einfach in einem Anhänger mit, ließ uns doch der hohe Symbolgehalt, der sich in dem Namen des Reiseunternehmens verbirgt, schon von Anbeginn auf Schützenhilfe hoffen. Der „Schmetterling“-Bus erweist sich seiner Begriffsbezeichnung gemäß als verwandlungsfähiges Transportmittel: Er zieht Tiere im Schlepptau mit, er befördert ganze Käseberge anstelle von Koffern.

So wie eben aus den Eiern, die die Schmetterlinge legen, Raupen werden, aus denen wiederum Schmetterlinge schlüpfen, vollzieht sich nach ähnlichem Prinzip in unserem Sinne die perfekte Metamorphose: Aus dem Käse werden Schafe, aus den Schafen wird Käse… und so bilden die Käsemenschen, der Käse und die Schafe eine unzertrennliche Einheit.

Maria Grigori, Waldkraiburg

Schlagwörter: Reisebericht, Reise, Siebenbürgen, Humor

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