23. April 2016

Dreimal Radeln von Dr. Paul Philippi

Man sagt mir ein gutes Gedächtnis nach. Im Falle Radeln ist es ungenau. Vor „der Wende“ war ich, so scheint es mir, nur dreimal in der Gemeinde. Das erste Mal 1971. Dieses Datum, meine ich, stimmt sicher. Damals waren wir mit Familie Dr. Mittelstraß unterwegs. Unsere Bezugsperson war der Kurator Georg Binder im Haus Nummer 62. Dann war ich einmal beim jungen Pfarrer Schlosser zu Besuch, dem Sohn des Karl Schlosser und der Dora, geb. Lutsch aus Keisd. Das mag 1973 gewesen sein. Und einmal habe ich in Radeln auch gepredigt. Das kann erst nach 1979 gewesen sein.
Beim zweiten oder beim dritten Mal war es: Da zogen wir an einem hohen Feiertag in die Kirche ein. Nach hergebrachter, ernster Ordnung ging die Gemeinde ganz in Tracht und schweren Schrittes den Weg hinauf und in die Burg hinein. Doch unversehens sahen wir uns in den Mauern der Burg von halb nackten Zigeunerkindern umhopst, fremd und weit weg von dem, was wir zu begehen gerade im Begriffe waren. Es störte mich nicht, dass sie Zigeunerkinder waren. Eher störte uns, dass ihre Eltern und Alten, nur wenig weiter entfernt, uns angafften, unbeteiligt oder ärgerlich, als wären wir Eindringlinge in ein Revier, das jetzt ihnen zugewiesen war.

Wird es ein viertes Radeln geben? Dr. Paul ...
Wird es ein viertes Radeln geben? Dr. Paul Philippi auf der Tagung des Landeskundevereins in Landau/Pfalz (2014). Foto: Konrad Klein
Uns kränkte, dass sie die ernste, die festliche Weise, in der wir uns sammelten, so gänzlich ignorieren durften und dennoch genau dort wohnten, wo wir – wo unsere Vorfahren – den Ort innerer Sammlung für sich, für die Gemeinde, für uns angelegt hatten. Die örtliche Behörde hatte in den überdachten Verliesen der Kirchenburg Romafamilien untergebracht, ohne Rücksicht darauf, dass es sich hier um den Intimbereich der sächsischen, der evangelischen Gemeinde handelte. Oder vielleicht gerade, um den Intimbereich dieser Gemeinde zu sprengen? Um die sächsische Gemeinschaft zu schädigen, um sie zu verbittern, um ihr das Selbstbewusstsein, die Zuversicht zu nehmen?

Ich weiß also nicht mehr: War das 1973 oder war es knapp zehn Jahre später? Ich weiß nur noch, dass ich dieses Beispiel als das einer bewussten Zersetzung des sächsischen Intimbereichs erlebte und es als gezielte Demütigung durch staatliche Steuerung in Bukarest zur Sprache brachte:

Damals hatte ich noch einen guten Kontakt zum Leiter der „Asociația România“, Professor Dr. Virgil Cândea, den ich als eine Art Außenminister des kommunistischen Staates für das westliche Ausland angesehen habe. Er war ein hochgebildeter Mann, Theologe und Byzantinologe. Er war, schien mir, im Herzen „westlich“ gesinnt (was er mir einmal unter Alkohol auch zuflüsterte) – und er besaß dennoch das Ohr hoher Stellen in der damaligen Hierarchie der kommunistischen Partei. In einem Aufsatz über den Charakter siebenbürgischer Kirchenburgen habe ich erzählt, wie ich Cândea 1982 dann nach Birthälm „verschleppt“ habe (Paul Philippi, Geistiger Lebensraum Kirchenburg. In: Kirche und Politik, 2006, Band 2, S. 422-428). Und ich versuchte durch ihn an Kräfte zu appellieren, die dieser offenen (und doch innerrumänisch versteckten) Brüskierung der deutschen Minderheit entgegenwirken wollten und gekonnt hätten. An mir hing damals noch ein wenig die Aura des Heidelberger Universitätsprofessors, der rumänische Kollegen zu wissenschaftlichen Tagungen in den Westen einladen konnte; was immer wieder honoriert wurde. Dass es im Falle Radeln nicht genützt hat, gehört in die Liste der mancherlei Anläufe, die nur Fehlversuche blieben. Und die dennoch geboten waren.

Einige Jahre vorher (1968) hatte ich durch Vermittlung von Bischof Müller in Klausenburg die Bekanntschaft mit Herrn Dogaru gemacht, dem Präsidenten des Kultusdepartements, der bei Müller und bei Albert Klein ebenfalls als „Herr“ galt. Dem hatte ich von Cândeas Bukarester Amtssitz aus und durch dessen Vermittlung per Telefon das Fehlen eines sächsischen Bauernhauses im „Muzeul Satului“ angezeigt. Dogaru lud mich sofort zum Vortrag in sein Büro ein. Dort wies ich auf den prägenden Einfluss hin, den der Typ des sächsischen Bauernhofes in der Landschaft Siebenbürgens ausgeübt habe. Warum fehlte es im Bukarester Dorfmuseum? Das liege auf der selben Linie wie die Bezeichnung der Bücher in ungarischer und deutscher Sprache, die, obwohl in Rumänien verlegt, in den Bukarester Buchhandlungen unter „limbi străine“ ausgestellt wurden. Was ich ebenfalls als unangemessen und als permanent kränkend empfand. Dogaru meinte: Selbstverständlich gebe es auch das sächsische Bauernhaus im Dorfmuseum und ließ sich telefonisch sofort mit dessen Direktor verbinden. Ich sehe noch, wie Herrn Dogarus Gesicht am Telefon lang und länger wurde, als jener Direktor ihm bestätigte, was ich gesagt hatte: Es gebe im Museum kein sächsisches Bauernhaus. Dogarus Versicherung, dies werde nun korrigiert, war ich zwar geneigt als Geste seines guten Willens ernst zu nehmen, doch habe ich die Verwirklichung seiner „Zusage“ für sehr unwahrscheinlich gehalten, zumal mir das Gewicht des Kultusdepartements im Konzert der Parteihierarchie geringer zu sein schien, als es das nach der Meinung unserer Kirchenleitung war. (Diese meine Meinung hat sich dann bestätigt, als es 1983 um meine endgültige Rückkehr nach Rumänien ging.)

Und Radeln? Zuerst hat es seinen Pfarrer verloren. Einen Nachfolger gab es nicht mehr. Dann sind seine Sachsen ausgewandert. Dann kam, viel, viel später, der Rock-Star. Als Retter? Als Chance eines Neubeginns anderer Art? Als Geste guten Willens? Als Symbol der neuen Zeit? Wird es ein viertes Mal Radeln geben? – 2015 fiel der Turm der Kirche ein. Eine Warnung? Ein Zeichen der Zeit; ein Zeichen der Zukunft? Ein Aufruf? Ein Aufruf wozu? Bis zu der Zeit der Bischöfe Friedrich Müller und Albert Klein hätte man es als Ruf zum Gebet verstanden; zum Bußgebet; als einen Ruf um Wegweisung – zu dem, „der Wolken Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn“.

Dr. Paul Philippi

Schlagwörter: Paul Philippi, Radeln

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Neueste Kommentare

  • 23.04.2016, 11:33 Uhr von getkiss: Schön, das Herr Dr. Philippi die Pfarrersfamilie Schlosser und dessen Pfarrersohn erwähnt. ... [weiter]
  • 23.04.2016, 09:32 Uhr von Äschilos: Wo bleibt denn der bisher doch recht optimistische Professor? [weiter]

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