15. Dezember 2013

40 Jahre neue Heimat Deutschland

In den 1970er Jahren hatten wenige Familien die Möglichkeit, als vollständige Familie von Rumänien nach Deutschland umzusiedeln. Nur ganz bestimmte Schicksale, wie politische Ausweisung oder Menschen mit schweren Krankheiten, konnten mit Hilfe des Roten Kreuzes die Ausreise erhalten. Zu diesen Ausnahmen gehörte unsere Familie. 40 Jahre danach möchte ich gerne darüber schreiben. Es soll kein Buch werden, wie mein Familienbuch, das ich mit 80 Jahren unter dem Titel „Wie Strandsteine am Meer“ veröffentlicht habe.
Was war es, das uns mit unserem ganzen Verlangen aus der alten Heimat forttrieb? War es der große Drang nach Freiheit, die materielle Not, die Familienzusammenführung mit unseren Brüdern, die wir nach dem Krieg über 20 Jahre nicht mehr gesehen hatten? Wir sind unserem Schicksal zutiefst dankbar, dass Deutschland für unsere Familie die neue Heimat geworden ist. Was auch das Schicksal im Laufe der vielen Jahre an Freud, Leid, Krankheit und Hoffnung uns immer wieder beschert hat, wir haben es in diesen 40 Jahren nie bereut, hier, gemeinsam mit unseren Kindern, die Heimat gefunden zu haben.

Als Harald, unser Sohn, ein Jahr alt war, reichten wir zum ersten Mal die Akten ein, weil wir nicht wollten, dass er in einem kommunistischen Land voller Lügen, Hass und Schmähungen gegen die Deutschen aufwächst. Wir erhielten die Ausreise erst 15 Jahre später, wo es längst nicht mehr nur um die Freiheit ging, sondern um unser Leben. Ich wurde nach Carmens Geburt schwer leberkrank (Leberzirrhose) und die Hoffnung, in Rumänien geheilt zu werden, gab es nicht. Doch inzwischen war auch meine Mutter an Krebs erkrankt, sodass alles über uns zusammenbrach. Nun wussten wir überhaupt nicht mehr, ob wir noch fort wollten. Dass der Allmächtige, einen Tag bevor wir die Pässe bekamen, sie erlöste, glich einem Wunder! Die Angst, auch ich würde sterben und müsste Karl mit zwei kleinen Kindern allein lassen, ließ mir keine Ruhe. So habe ich 1973 mit dem Mut der Verzweiflung eine Reise nach Bukarest angetreten und eine Audienz bei der damaligen Ministerin Elena Ceaușescu, Gattin des damaligen Staatschefs, erzwungen. Ich hatte ein schriftliches Bittgesuch eingereicht, auf dessen Antwort ich unbedingt warten wollte. Außer meinem Gatten Karl wusste niemand, dass ich nach Bukarest geflogen war.

Unseren Kindern, Nachbarn, Freunden wurde gesagt, dass ich nach Klausenburg in die Klinik zur Untersuchung müsste. Nach drei Tagen wurde ich mit einer Eskorte von Soldaten mit aufgepflanzten Gewehren zu Elena Ceaușescu eingelassen. Wie mir die Knie zitterten, wie meine Stimme immer wieder versagte, wie meine Tränen über die Wangen liefen, lässt sich nicht erzählen. Sie verzog keine Miene, hörte mich aber an, und anhand der Fragen, die sie mir stellte, erkannte ich, dass sie über alles Bescheid wusste. Meine Audienz war beendet, mit den Worten: „Niemand darf von dieser Audienz erfahren. Mein Gatte muss wieder im Land sein und in drei Monaten bekommen Sie den Bescheid.“ Auf den Knien dankte ich ihr, wurde von Soldaten aufgescheucht und wieder mit Eskorte aus dem Palast hinaus geleitet.

Karl kam aus Deutschland zurück, er wollte eigentlich ein paar Monate bleiben, um Geld zu verdienen und uns abzukaufen. Doch wir erhielten erst in November 1973 die Pässe, die nur noch eine Gültigkeit von drei Wochen hatten. Monatelang hatten diese in irgendeiner Schublade des Geheimdienstes gelegen und erst am 25. November kam die Benachrichtigung.

Meine liebe Mutter lag im Sterben. Wir sollten in drei Wochen die Wohnung auflösen, unsere Mutter würdig begraben, alle Ämter erledigen wie Staatsbürgerschaft zurückgeben, mit viel Geld Flugtickets in Bukarest besorgen, von überall Bescheinigungen erhalten, dass wir keine Schulden haben und vieles mehr. In jedes Gesuch mussten wir ein paar 100-Lei-Scheine hineinlegen, damit die Beamten nicht wieder die Akten in ein Fach legten, um es irgendwann zu erledigen. Wir hätten bestimmt nicht alles in dieser kurzen Zeit erledigen können, wäre nicht mein Bruder Michael aus Stein gekommen, um uns zur Seite zu stehen, und unsere Freunde, die alle mithalfen.

Das Schwerste, was wir tun mussten, war Abschied zu nehmen von unserer Familie, von Freunden und Kollegen. Auch Harald sollte noch konfirmiert werden, denn wir wussten nicht, ob wir in ein Bundesland mit evangelischen oder katholischen Schulen kamen. Am 18. November 1973 saßen wir im Flugzeug. Mein Bruder Michael kam mit uns nach Bukarest, um uns beim Passamt beizustehen und Sachen, die wir nicht mitnehmen durften, wieder zurückzubringen. Mir schlug das Herz bis an den Hals, denn wir waren jetzt staatenlos.

Der Flug in die Freiheit war unendlich schön, die Sonne ging über den Karpaten auf und färbte die Wolken in glühendes Leuchten. Harald ging es schlecht, er erbrach sich, das Bordpersonal half uns mit Tüten und legte ihn ganz hinten hin, wo freie Plätze waren. Als wir mit Zittern und Zagen in Frankfurt landeten, die Treppen vom Flugzeug herunterstiegen, Harald als Erster mit seiner Schwester Carmen an der Hand, kniete dieser nieder, küsste den Boden und rief: „Wir sind in der Freiheit!“ Karl und mir rollten die Tränen, Carmen sah uns mit großen Augen an und klammerte sich an ihren Vater. Welch ein Glück, das Rote Kreuz zeigte uns den Weg zum Terminal. Zwischen den vielen Hunderten von Menschen hörten wir eine bekannte Stimme, die rief: „Sind hier Landsleute aus Heltau?“ Herr Bücher aus Heltau, der seit seiner Ausreise auf dem Flughafen arbeitete, kam täglich zu dem Flugzeug, das aus Rumänien ausflog, und fragte nach Landsleuten. Gott hatte uns einen Engel geschickt. Unsere Kinder hatten Hunger, wir hatten keine deutsche Währung, außer 10 DM, die uns das Rote Kreuz schenkte. Rumänisches Geld mussten wir bis auf den letzten Pfennig am Flughafen Bukarest abgeben. Wir durften keine Briefe, keine Fotos, kein Geld, keine Schmucksachen bei uns haben. Für zwei Schlafdecken, zwei Kissen als Übergewicht mussten wir 5000 Lei zahlen. Ich zitterte am ganzen Körper, denn ich hatte ein paar Mikrofilme mit Geburtsscheinen, Trauschein, Taufschein und noch andere wichtige Filme in meinen BH eingenäht. Wir mussten durch ein Tor mit einem Scanner, der aber Gott sei Dank nur bei Metall aufleuchtete. So hatte ich ganz wenige unserer Dokumente gerettet.
Katharina und Karl Gaadt (vorne links) feierten ...
Katharina und Karl Gaadt (vorne links) feierten dessen 80. Geburtstag am 8. November 2012 mit Kindern und Enkeln in Nordheim.
Die ersten Jahre in Deutschland waren nicht leicht. Wir kamen ins Übergangswohnheim nach Heilbronn am Neckar, wo drei Familien in einem Apartment lebten und mit gemeinsamer Küche und Bad auskommen mussten. Jede Familie hatte ein Zimmer mit Hochbetten. Karl versuchte gleich Arbeit zu bekommen. Da es aber in Heilbronn und Umgebung keine Textilfabriken gab, arbeitete er bei einer Baufirma als Maurer. Zahllose Formulare mussten bearbeitet werden, für jedes Familienmitglied in mehrfacher Ausführung. So war ich am Anfang ständig unterwegs. Es ging um Einbürgerung, Staatszugehörigkeit, Sozialamt, Anerkennung als Deutsche, Rückführungskosten. Es ging auch darum, die richtigen Schulen für unsere Kinder zu finden, und darum, in den Beruf zurückzukehren. Alle diese Hürden hätten wir nicht geschafft, wenn nicht die Diakonie, der BdV und die Siebenbürger Landsmannschaft uns unterstützt hätten. Das Amtsdeutsch machte uns schwer zu schaffen, so ist wohl so mancher Fehler passiert, der sich später nicht mehr berichtigen ließ. Die erste große Aufklärung erhielten wir wohl im Übergangswohnheim Nürnberg, wo wir auch gleich als Mitglieder des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland aufgenommen wurden. Das war Dezember 1973, heute genau vor 40 Jahren. Die Diakonie, an der Spitze Diakon Werner Siemiatkowski, im Übergangswohnheim Herr Hager, Herr Sauter mit Frau Markus und Savitza, nahmen uns unter ihre Fittiche. Ihnen haben wir zu verdanken, dass wir unsere Wege in der neuen Heimat gefunden haben. Auch 40 Jahre danach haben sich Freundschaften erhalten, mit Werner und Inge Siemiatkowski, Kränzchen-Freundschaften, gute Nachbarschaften.

Wir mussten eine Anstellung finden, um so schnell wie möglich eine Wohnung zu bekommen, damit unsere Kinder einen Tisch zum Lernen und Spielen hatten. Ich selber bemühte mich um eine Anstellung an einer wissenschaftlichen Schule, damit ich meine Fächer Mathe und Physik unterrichten konnte. Aber vor allem musste ich gesund werden, um überhaupt eine Anstellung anzustreben. Ich hatte viel Glück, dass ich durch die Diakonie auf eine Aufbauwoche nach Bad Teinach kam und durch die Verbindung zu Dr. Bran in eine Privatklinik nach Bad Mergentheim kam, wo die ersten Leberzellenimplantate mein Leben retteten. So konnte ich mich im September 1974 am Justinus-Kerner-Gymnasium, wenn auch nicht mit vollem Lehrauftrag, anstellen lassen. Verbeamtet wurde ich leider mit 47 Jahren nicht mehr, weil man im Lehramt nur bis 40 verbeamtet wird. Auch das Referendariat musste ich hier nochmals ablegen. Die Akten, die durch die Botschaft geschickt wurden, sind in Deutschland nie angekommen. Die großen Schwierigkeiten machten uns am Anfang die Sprache, viele Schüler und auch Lehrer sprachen nur schwäbisch. Ich musste verdammt aufpassen, um sie zu verstehen. Als „Rumänendeutsche“, wie wir genannt wurden, gab ich mir sehr große Mühe, akzentfrei zu sprechen. Dazu kam, dass das Justinus-Kerner-Gymnasium bis dato keine Frauen für die Fächer Mathe und Physik angestellt hatte, weil diese Fächer vor 40 Jahren noch als Männer-Domäne galten. Unter den Lehrern gab es auch wunderbare Kollegen und Kolleginnen, die mich unterstützten. Das größte Plus für mich war, dass ich das Vertrauen der Schüler gewann und all die Jahre ein gutes Verhältnis zu ihnen hatte. Karl bekam eine Anstellung als Mechaniker beim Krankenhaus am Gesundbrunnen, was uns ermöglichte, auch nach einer Wohnung zu suchen.

In einem neuen Hochhaus, nur 100 Meter vom Spital entfernt, bezogen wir unsere erste Wohnung. Auch unsere Kinder hatten ihre Schwierigkeiten, denn wir waren mitten im Schuljahr fort, und haben sie gleich in die jeweiligen Klassen, die sie in Rumänien besucht hatten, eingeschrieben. Die Lehrpläne, der Stoff, die Schüler – alles war anders. Auch sie hatten schwer zu kämpfen, um als Deutsche anerkannt zu werden. Besonders Harald hätten wir unbedingt in die 7. statt 8. Klasse des Robert-Mayer-Gymnasiums einschreiben sollen. Durch Freunde von Harald erfuhren wir vom evangelischen Gymnasium in Hilden, NRW, wo auch die rumänische Sprache als Fremdsprache anerkannt wurde. Mit einer Aufnahmeprüfung wurde er dort angenommen und hat dort das Gymnasium abgeschlossen.

Die ersten Jahre gab es noch viele Schwierigkeiten, die jeder von uns bewältigen musste. Ich musste jedes zweite Jahr eine Leberzellenimplantation über mich ergehen lassen. Karl hatte schon in den ersten Monaten die Fahrprüfung gemacht. Auch waren uns unsere Familienangehörigen in Rumänien sehr wichtig, die wir, so oft es ging, mit ganz vielen Schwierigkeiten besuchten. Nach vielen Jahren als Familie in Deutschland vereint zu sein, ist ein Geschenk, das mit nichts aufzuwiegen ist. Ein großer Verlust für uns war der Tod meines Bruders Andreas, ein weiterer großer Verlust war der plötzliche Tod meines Bruders Michael, der Kriegsinvalide war und 20 Jahre gekämpft hatte, um die Ausreise zu erhalten.

Nun sind Karl und ich die nächsten, die von dieser Welt Abschied nehmen. Wir können nur dankbar zurückblicken. Wir haben glücklich verheiratete Kinder, die ihren eignen Weg und Beruf gefunden haben. Wir haben Enkelkinder, die wir über alles lieben. Wir haben wunderbare Neffen und Nichten, Großneffen, die uns sehr nahe stehen, gute Nachbarn und ein schönes Zuhause. Wir haben uns durch die Diakonie, die Landsmannschaft, HOG in die Gesellschaft eingebracht. Der einzige Wermutstropfen ist, dass wir in Deutschland alle weitläufig verstreut leben und vor allem unsere Kinder nur noch selten besuchen können. „Des Lebens ungetrübte Freude, die ward noch keinem Sterblichen zuteil.“

Katharina Gaadt

Schlagwörter: Zeitzeugenberichte, Integration

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