18. Januar 2015

Die rumänische Revolution – 25 Jahre danach

Ein Vierteljahrhundert ist nach dem dramatischen Sturz des kommunistischen Regimes in Rumänien am 22. Dezember 1989 vergangen. Nur wenige Monate später veröffentlichte Anneli Ute Gabanyi das weltweit erste Buch zu diesem Thema mit dem Titel „Die unvollendete Revolution. Rumänien zwischen Diktatur und Demokratie“. Wir nehmen diese historische Zäsur zum Anlass, um die Verfasserin zu fragen: Was wissen wir heute über die immer noch kontrovers diskutierten Ereignisse, die im „Winter des Missvergnügens“ vor 25 Jahren zu einem blutig verlaufenen Volksaufstand, zur Flucht des Diktators Nicolae Ceaușescu und seiner Exekution führten und mehr als tausend Opfer forderten? War das, was damals geschah, eine Revolution? Und: Kann die rumänische Revolution heute, 25 Jahre danach, als vollendet gelten?
Von Tschu En Lai (1898-1976), dem chinesischen Premierminister, ist überliefert, dass er auf die Frage, was er denn von der Französischen Revolution von 1789 halte, geantwortet habe, er finde es noch zu früh, sich dazu ein Urteil zu bilden. Auch 25 Jahre danach geben diese Vorgänge in Rumänien immer noch zahlreiche Rätsel auf, obwohl zu diesem Thema seither mehr als 400 Bücher und Tausende von Aufsätzen von Zeitzeugen, Wissenschaftlern und Politikern erschienen sind.

Revolution oder nicht?

Interessanterweise spielt heute die Frage nach dem Revolutionscharakter der Ereignisse, die sich im wunderbaren Jahr („annus mirabilis“) 1989 in den ehemaligen Staaten des Ostblocks abgespielt haben, mit Ausnahme Rumäniens in der öffentlichen Debatte in Warschau, Prag oder Budapest praktisch keine Rolle. In Polen spricht man von „den Ereignissen“ oder bestenfalls „den Wahlen“ von 1989, in Tschechien ist von den „Novemberereignissen“ oder schlicht „den Ereignissen“ die Rede, während in Ungarn mangels anderer relevanter Geschehnisse die Umbettung der Gebeine des Revolutionshelden von 1956, Imre Nagy, als das hervorstechendste Ereignis des Jahres 1989 gewertet wird. Im deutschen Sprachgebrauch war für die Entwicklung in der DDR lange Zeit der von Egon Krenz geprägte Begriff der „Wende“ vorherrschend, der erst in den letzten Jahren in der staatlichen Gedächtniskultur der Bundesrepublik Deutschland von dem offiziellen Terminus der „friedlichen Revolution“ verdrängt wird. In Rumänien dreht sich die immer noch erstaunlich rege Debatte um Fragen wie: War das, was in Rumänien geschehen ist, ein Aufstand (der mit der Revolution gleichgesetzt wird) oder ein Staatsstreich; war er das Werk (ausschließlich) der Rumänen oder waren auch ausländische Akteure – und welche – beteiligt?

Tatsache ist: Gemessen an den wissenschaftlichen Kriterien, die gemeinhin zur Definition von Revolutionen dienen, fand in allen Staaten des ehemaligen sowjetischen Herrschaftssystems ein grundlegender und unumkehrbarer Wandel der Gesellschafts- und Herrschaftsstruktur sowie des politischen und Wirtschaftssystems statt. Keinen Konsens gibt es unter Wissenschaftlern hingegen darüber, ob eine Revolution unbedingt mit der Androhung oder der Anwendung von Gewalt einhergehen muss. Folgt man der Einschätzung jener Wissenschaftler, die der Meinung sind, dass eine Revolution notwendigerweise mit Blutvergießen einhergehen muss, dann war die ­rumänische Revolution zugleich die einzige „klassische“, sozusagen die „revolutionärste“ Revolution des Jahres 1989 in Ostmitteleuropa.
Ein in Brand gestecktes Milizfahrzeug war das ...
Ein in Brand gestecktes Milizfahrzeug war das Revolutionsfanal in Hermannstadt. Das Foto wurde vom damaligen Theologiestudenten Kilian Dörr aus einem Fenster des Theologischen Institutes am 21. Dezember 1989 aufgenommen. Foto: Bildarchiv Konrad Klein

Der rumänische Sonderfall

Während die Revolution in den anderen mittel- und osteuropäischen Staaten unblutig verlief – als präventiver legaler Machtwechsel in Polen und Ungarn und als erzwungener Rücktritt der Machthabenden in der DDR, der Tschechoslowakei und Bulgarien – erfolgte in Rumänien ein revolutionärer Staatsstreich, in dessen Verlauf der Diktator verhaftet, in einem summarischen Schauprozess abgeurteilt und hingerichtet wurde. Vorausgegangen war dem Staatsstreich ein Aufstand der Bevölkerung im westrumänischen Timișoara/Temeswar und in weiteren Städten, den die Architekten des Staatsstreichs – Ceaușescu-feindliche Eliten aus Partei, Armee und Geheimdiensten – provoziert und danach für ihre Zwecke nutzbar gemacht hatten. Die Aufständischen und mit ihnen quasi die gesamte rumänische Bevölkerung wollten ein Ende des kommunistischen Systems, die Putschisten hingegen lediglich die Abschaffung des reformfeindlichen nationalkommunistischen Ceaușescu-Regimes und die Etablierung eines aufgeklärten, sowjetfreundlichen Reformmodells nach dem Vorbild von Gorbatschows Perestrojka.

Welches waren die Gründe für die Besonderheiten des Machtwechsels im Zuge der rumänischen Revolution? Um es gleich zu sagen: Die Einmaligkeit des Umsturzes in Rumänien ist die unmittelbare Konsequenz spezifischer historischer Gegebenheiten einerseits sowie andererseits des außenpolitischen „Sonderweges“, den die politische Führung Rumäniens seit Beginn der 1960er Jahre eingeleitet hatte.

In Rumänien, dem einzigen Ostblockland, dessen Bevölkerung von seiner Zugehörigkeit zu einer westeuropäischen Sprachenfamilie und einem westlichen Kulturkreis geprägt ist, stand die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung dem nach 1945 von sowjetischen Besatzungstruppen oktroyierten System von Anfang an feindlich gegenüber. Sowjetische Studien stuften Rumänien als das schwächste Glied in der Kette der Staaten von RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) und Warschauer Pakt ein. Da sich die Rumänen längst vom Sozialismus verabschiedet hätten und sich der lateinischen (westlichen) Welt zugehörig fühlten, könne man nicht ausschließen, dass das Land im Falle einer Krise direkt in den Westen abdriften und sogar aus dem Warschauer Pakt austreten könnte.

Mit dem 1958 erfolgten Abzug der sowjetischen Truppen und der Einleitung einer national gefärbten Autonomiepolitik hatte sich die kommunistische Führung Rumäniens an die Spitze der Opposition der Bevölkerung gegen die sowjetischen Besatzer gestellt. Die rumänische Führung opponierte gegen die von der Sowjetführung geplante verstärkte Integration und Spezialisierung der RGW-Staaten und setzte auf eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den entwickelten westlichen Staaten. Nachdem aber der rumänische Staats- und Parteichef im August 1968 den Einmarsch der Waschauer-Pakttruppen in die Tschechoslowakei nicht nur auf das Schärfste verurteilt, sondern auch eine grundsätzliche Kritik der sowjetischen Außenpolitik vorgetragen hatte, setzte die Sowjetunion alle ihr zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung, um das Ceaușescu-Regime intern zu destabilisieren.
Anneli Ute Gabanyi überreicht beim Heimattag 1990 ...
Anneli Ute Gabanyi überreicht beim Heimattag 1990 in Dinkelsbühl Außenminister Hans-Dietrich Genscher ihr Buch „Die unvollendete Revolution“. Foto: Konrad Klein

Der Niedergang des Regimes

Erste Erfolgte erzielte sie bei der Kooptierung von Vertretern der rumänischen Streitkräfte. Ein Jahr nach einem ersten Putschversuch durch den Kommandeur der Garnison Bukarest General Ioan Șerb im Jahre 1971 wurde ein neues Verteidigungsgesetz verabschiedet und 1974 eine neue Verfassung erlassen, die dem Staatspräsidenten das Oberkommando über die Streitkräfte des Landes übertrug. Anders als im Falle der anderen Ostblockstaaten, deren Streitkräfte unter dem Oberkommando des Oberbefehlshabers des Warschauer Pakts bzw. des sowjetischen Staatspräsidenten standen, konnte die Sowjetunion nicht unmittelbar in die Geschicke Rumäniens eingreifen.

Widerstand regte sich nach 1971 auch in Parteikreisen, wo sowjetloyale Funktionäre ebenfalls in Opposition traten. Spätestens mit der Flucht des stellvertretenden Leiters des Auslandsaufklärung Mihai Pacepa im Jahre 1978 in die USA wurde der Widerstand von Teilen der Sicherheitskräfte gegen Ceaușescu auch nach außen hin dokumentiert. In dem Maße, wie die rumänische Parteiführung Nationalismus und den Personenkult um Ceaușescu in den Rang einer staatlich verordneten Ideologie erhob, verlor die Partei auch den Rückhalt unter Intellektuellen und Künstlern. Dissidenten meldeten sich zu Wort. Die Öl- und Finanzkrise Ende der 1970er Jahre führte dazu, dass Rumänien – als einziges Ostblockland – seine Devisenschulden an seine westlichen Gläubiger zurückzahlen mussten. Die Spar- und Schuldentilgungspolitik des Regimes zeitigte verheerende Folgen für die Bevölkerung.

Während sich der Druck der Sowjetunion auf Rumänien, das sowjetische Reformmodell von Glasnost und Perestrojka zu übernehmen, laufend verstärkte, verlor das Land zugleich seinen außenpolitischen Rückhalt im Westen. Nach dem Machtantritt Gorbatschows wurde Rumänien nur noch als Störfaktor des west-östlichen Interessenausgleichs wahrgenommen.

Der Einsatz von Gewalt

Die Revolution forderte einen schweren Blutzoll. Anstelle der im Schauprozess gegen Ceaușescu behaupteten 60000 kamen „nur“ 1104 Menschen (Wehrpflichtige und Offiziere eingeschlossen) ums Leben, „nur“ 3352 wurden verletzt. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass es vor dem Zeitpunkt der Flucht Ceaușescus am 22. Dezember 1989 landesweit 162 Tote und 1107 Verletzte gab, die weitaus größere Zahl von Menschen jedoch erst getötet (942) oder verletzt (2245) wurde, nachdem der kommunistische Diktator ausgeschaltet worden war.

Im Zuge der Provokation und des Einsatzes von Gewalt kamen neueren Quellen zufolge sowohl Angehörige des sowjetischen Militärgeheimdienstes GRU (heute würde man sagen: „grüne Männchen“) zum Einsatz als auch von westlichen Diensten eingeschleuste Agenten. Nach der Ausschaltung Ceaușescus nutzte die an die Macht gelangte Junta unter dem sowjetloyalen Verteidigungsminister Nicolae Militaru Hinweise auf angeblich auf dem Territorium Rumäniens operierende ausländische „Terroristen“ als Vorwand für ein Eingreifen der an den Grenzen Rumäniens bereitstehenden Warschauer-Pakt-Truppen bzw. sowjetischer Truppen in Rumänien. Dank der Standfestigkeit des damaligen Generalstabschefs Stefan Gușa, der die Angebote östlicher „Verbündeter“ ablehnte, wurde dieses Szenario allerdings nicht Wirklichkeit.

Bleibt noch die Frage, weshalb allein in Rumänien das Staatsoberhaupt eines Warschauer-Pakt-Staates im Zuge der Revolution physisch eliminiert wurde. Die Antwort ergibt sich logisch aus der anfangs dargestellten militärpolitischen Besonderheit Rumäniens vor 1989. Anders als in allen anderen Ostblockstaaten, wo die Sowjetunion – um es mit den Worten der prominenten amerikanischen Politikwissenschaftlerin Valerie Bunce zu sagen – nur den Teppich unter den Füßen der kommunistischen Führung wegziehen musste, um sie zu entmachten, war der rumänische Staatschef zugleich auch der Oberbefehlshaber der nationalen Streitkräfte. Nur wenn der Oberbefehlshaber vor den Augen der Nation liquidiert wurde, so die Überlegungen der Putschisten, würden Soldaten und Geheimdienstler, denen andernfalls das Kriegsgericht gedroht hätte, keinen Widerstand gegen die Entmachtung Ceaușescus leisten.

Am Ende wurde das Ziel der Putschisten, das die Organisatoren des als Volksaufstand getarnten Staatsstreichs verfolgt hatten – die Beibehaltung des kommunistischen Systems, wenn auch mit menschlichem Antlitz, und der Verbleib Rumäniens in der Einflusszone der Sowjetunion – nicht erreicht. Rumänien ist heute ein Land, das sich trotz seiner gewaltbelasteten „Transition“ einem demokratischen, marktwirtschaftlichen Weg verschrieben hat und zu einem Mitglied von EU und NATO geworden ist. Und dennoch ist die traumatische Frage „Wer hat am 22. auf uns geschossen?“ (Cine a tras în noi în 22?) in der rumänischen Öffentlichkeit immer noch virulent. Unter dem Druck einer starken Bürgerbewegung, die sich auch nach zwanzig Jahren für eine vollständige Aufklärung der gewaltsamen Verbrechen während der Revolution einsetzt, gab es seit 1989 Tausende von Verhaftungen, einige hundert Anklagen, aber nur wenige Verurteilungen hochrangiger Akteure. Die kommunistische Partei als solche verschwand 1989, dennoch ist es seither wie überall in den ehemals kommunistischen Staaten Ostmitteleuropas nicht wenigen Vertretern der neuen, aber auch der alten Elite aus Partei, Armee und Geheimdiensten gelungen, ihr politisches Machtkapital in ökonomisches Kapital umzumünzen.

Der am 16. November 2014 neu gewählte rumänische Staatspräsident Klaus Johannis hat es sich zum Ziel gesetzt, den tiefgreifenden Systemwechsel, der im Dezember 1989 von der Bevölkerung gewollt und von den Akteuren des Staatsstreichs verhindert worden war, zu vollenden. Noch vor seiner Amtseinführung stattete er den Kämpfern und Hinterbliebenen des antikommunistischen Aufstandes in Temeswar einen symbolträchtigen Besuch ab. In einem Fernsehinterview sagte er: „Jetzt, nach 25 Jahren, müssen wir das System verändern und deshalb ist der Augenblick gekommen, an dem wir sagen müssen: Stopp. Setzen wir einen Punkt und machen wir einen neuen Anfang“.

Dr. Anneli Ute Gabanyi

Schlagwörter: Revolution, Rumänien, Geschichte, Politik

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