10. Juni 2016

Sachen zum Lachen: Public Viewing oder das Popa Filip-TV

Die Deutschen haben alles erfunden, das Auto, die Gastarbeiter, die Ausländer, die Wutbürger, die Lochkarte. Eine Sache haben sie sogar zweimal erfunden. Den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Hoffe nicht, dass sie das als Patent angemeldet haben. Und jetzt auch noch das Public Viewing. War Heinrich Heines „Deutschland ein Wintermärchen“ (1844) noch eine Einzelleistung, so war das Löw‘sche Sommermärchen, die Austragung der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland, eine kollektive Leistung der Fußballer und der Fans. Wir aus dem Osten hatten schlechte Erfahrungen mit der Kollektiv-Wirtschaft, führte sie schließlich zum kollektiven Untergang des Systems. Auch hatten wir ständig Angst vor Menschenanhäufungen, war doch das Motto der Securitate: „Wo drei Leute zusammen stehen, ist einer davon unser Mann.“
Dennoch liegen die Ursprünge des Public Viewing (kurz: PV-TV) in Großkopisch in Siebenbürgen. Vor langer Zeit, als die Telefone noch griffig wie ein Ochsenknochen und nicht flach wie ein Knäckebrot, die Fernseher noch richtige Schränke und nicht flache Bilderrahmen waren, lebte zwischen zwei Hügeln im Karpatenbogen ein besonderer Menschenschlag, die Großkopischer. Die Großkopischer hatten noch keinen Fernseher, und der Fernseher hatte noch keine Großkopischer gesehen. Man munkelte, dass jenseits des Berges in Birthälm schon ein solch teuflischer Bilderkasten aufgetaucht sei. Die Großkopischer schweiften nicht so gerne in die Ferne, ihnen wäre statt eines Fernsehers ein Nahseher viel lieber gewesen. Man blieb unter sich, heiratete über die Straße, hielt Grund und Boden zusammen – die Inzucht blühte. Mitten in dieser Idylle tauchte in den sechziger Jahren eine solch teuflische Kiste ausgerechnet bei einem orthodoxen Popen auf, genannt Popa Filip. Er war eine etwas zwielichtige Gestalt mit langem Rauschebart, als Zigeunerpfarrer verschrien. Statt von seinen gläubigen Schäfchen zu leben, bestritt er seinen Lebensunterhalt von der Bienenzucht. Mir war er viel lieber, als der steife rumänische Otoi, der sich als Einziger beim Cornel im Krämerladen selbst bedienen durfte und nie Schlange stand.

Die Großkopischer waren irritiert und haben diese Kiste lange ignoriert. So wie sie es seit Jahrhunderten gewöhnt waren, den Feind aus ihren Wehrtürmen zu beobachten, so gingen sie auch angesichts jeder technischen Revolution vor. Sie beobachteten! Diese Vorgehensweise klauten dann die Japaner und Chinesen. Sie beobachteten mehr als genau und klauten und bauten nach, vom Dübel bis zum Mikrochip, als praktizierte Industriespionage. Früher waren die Siebenbürger Sachsen nicht nur konservativ, sondern auch innovativ. Sie erfanden den automatischen Scheibenwischer, den Kindergarten, die moderne Homöopathie und die Rakete. Hermann Oberth, einer der Väter der Raumfahrt, wurde samt seinem Schüler Wernher von Braun und samt seinem Know-how nach Amerika entführt. Dieses Ereignis bremste den Erfindergeist der Siebenbürger Sachsen sehr.

Wir Kinder waren aber an der besagten Flimmerkiste sehr interessiert, insbesondere wenn sie Stadiongeräusche von sich gab. Es war ein lauer Sommerabend, wir spielten barfuß Fußball auf der Straße, als ein seltsames Flimmern und Geschrei aus Popa Filips Haus drang. Wie einst die Schafhirten dem Stern von Bethlehem gefolgt waren, so folgten wir den Strahlen, die aus dem Fenster drangen. Für uns geübte Kletterer war es ein Leichtes, die Häuserwand hochzuklettern, um dem magischen Licht zu folgen. Wir drückten unsere frechen Kindernasen an die Fensterscheiben und starrten im wahrsten Sinne des Wortes zum ersten Mal in unserem Leben in die Glotze. Besagtes Gerät sah aus wie ein großes Radio, man konnte die Spieler nicht nur hören, man konnte sie auch halbwegs sehen. Mit dem halbwegs Sehen war es dann auch gleich vorbei, da eine derbe Männerhand meinen zarten Hosenboden erfasste und mich auf den Boden der Tatsachen holte.

– Derbedeilor, îmi murdăriți fațada căsii (Strolche, ihr verdreckt meine Hausfassade). Al cui esți? (Wem gehörst du?)

– Eu sânt a lui domnu Mauer (Ich bin vom Herrn Mauer), stammelte ich. Das heidnische Gesicht des Herrn Popa Filip nahm wieder christliche Züge an, seine Hand tätschelte meine Haare.

– Poți să intri, tatăl tău mi-a salvat cu o injecție un porc (Du kannst reinkommen, dein Vater hat mir mit einer Spritze ein Schwein gerettet) Er schob mich sanft ins vollgestopfte Haus. Auf ein paar Quadratmetern saß zusammengepfercht eine Menschenmenge, die sonst nur in ein Fußballstadion passt.

– Bagă-te sub masă (Kriech unter den Tisch), sprach Popa Filip. Ich kroch zu den anderen Rotznasen, mit denen ich mich noch am Vortag geprügelt hatte und wurde Teil des Public Viewing (PV-TV). Es war die Urform des kollektiven Fernsehens. Unzählige Augenpaare starrten auf den kleinen Kasten, der gleichmäßig Schnee- und Flohgestöber über den Bildschirm verteilte. Die weiß gekleideten Spieler sah man nicht. Auch den Fußball sah man nur zur Hälfte, da er schwarzweiß war. Aber die Atmosphäre war grandios. Grandios bis zu dem Augenblick, da einer rief:

– Ce dracu pute aici așa? (Was zum Teufel stinkt hier so?) Alle begannen zu schnüffeln, schnüffeln war man ja in diesem Land gewöhnt! Ich schnüffelte nicht, spürte ich doch hautnah die Ursache. Der Geruch entströmte den Zehenzwischenräumen meines linken Beines. Feucht, kalt und glitschig, klebte der Kuh- oder Büffel-fladen (Kaibesch), den man als Barfußfußballer auf der Straße nicht immer ausdribbeln konnte. Käsefüße waren Eau de Cologne dagegen. Gleichzeitig mit dem Geruch stieg auch die Angst an mir hoch, dass mein PV-TV nun beendet wäre. Ich schob schnell das linke Bein unter das Rechte, legte beide Hände tellerförmig darüber und verzog keine Miene.

Glücklicherweise fiel ein Tor. In dem Torjubel ging der Geruch unter. Ich konnte das Spiel zu Ende sehen. Das ist auch der Grund, warum ich mich auch heute so sehr freue, wenn ein Tor fällt. Es neutralisiert den Geruch.

Jahre später, man schreibt das Jahr 2006, ich sitze allein vor einem großen, farbenfrohen Fernseher in brillanter HD-Qualität und schlafe mitten im Fußballspiel ein. Das Bild ist grandios, die Stimmung aber nicht. Ich erinnere mich an unser Popa Filip TV-Ereignis und laufe auf die Straße. Dort finde ich Gleichgesinnte vor einer großen Leinwand, sie jubeln und zittern gemeinsam! Ich setze mich dazu, verstecke mein linkes Bein unter dem Rechten, lege die Hände tellerartig darüber. Die Stimmung ist grandios, das Fußball-Sommermärchen nimmt seinen Lauf.

Hans Mauer

Schlagwörter: Humor, Fußball, Fernsehen

Bewerten:

19 Bewertungen: ++

Neueste Kommentare

  • 11.06.2016, 23:09 Uhr von Johanna Ziegler: Sehr witzig und glaubwürdig geschildert. Habe sofort auch ein Plätzchen ergattert unter dem Tisch ... [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.