12. Juli 2023
Streifzug durch die Europäische Kulturhauptstadt Temeswar: Eine Erlebnisreportage von Helmut Heimann
Da bin ich wieder. Mein neunter Besuch in Temeswar seit der Auswanderung vor 33 Jahren. Nicht viel, aber passend für einen Streifzug. Weil der Blick durch die seltenen Besuche geschärfter für Veränderungen und Vergleiche ist. Nach vier Jahren bin ich erneut in der Stadt, wo ich von 1984 bis 1990 als Redakteur der Neuen Banater Zeitung gearbeitet und gelebt habe. In den seither vergangenen fast vier Jahrzehnten hat sich vieles verändert.
![Abenddämmerung auf dem Domplatz in Temeswar ...](/bild/artikel/normal/2023/temeswar_abenddaemmerung.jpg)
Ich mache mich rechtzeitig auf den Weg, bevor die Dunkelheit anbricht – und vielleicht das Licht ausgeht wie in der Oper während der Eröffnungsfeier des Kulturhauptstadtjahres. Dominic Fritz versuchte die Panne herunterzuspielen: „2007 in Hermannstadt war es genauso.“ Was der Bürgermeister nicht sagte oder wusste: Hermannstadts Kulturhauptstadtjahr hatte ein ganz anderes Motto („Stadt der Kultur – Stadt der Kulturen“) als Temeswar („Lass dein Licht leuchten“). Aber wie soll das Licht leuchten, wenn der Strom ausgerechnet in der Stadt mit der ersten elektrischen Straßenbeleuchtung Europas ausfällt?
In Genf beginnen viele Stadtführungen an der Blumenuhr. Temeswar hat auch eine, also nichts wie hin. Generationen von Landsleuten kennen und lieben das Wahrzeichen zwischen dem Continental-Hotel und Bega-Kaufhaus. Bei seinem Anblick fühle ich mich an das Lied „Halt die Welt an“ von Vicky Leandros erinnert. Darin sang die Griechin vor 54 Jahren: „Stopp die Zeiger der Uhren“. An der Blumenuhr ohne Blumen können die Zeiger nicht gestoppt werden, weil es keine mehr gibt. Drei Jahre nach Vicky trällerte die nicht minder berühmte Corina Chiriac zur gleichen Melodie „Opriţi timpul“ (Stoppt die Zeit). Die Worte passen zur Blumenuhr wie die Faust aufs Auge. Kaputtes Zählwerk, fehlendes Zifferblatt und brüchiges Mauerwerk haben ihre Zeitmessung seit mehr als 30 Jahren gestoppt. Aber es tut sich was. Ein Privatverein hat Spenden für die Reparatur des Zählwerks gesammelt. Immerhin ein Silberstreif am Horizont!
![Blumenuhr ohne Blumen und Zeiger ...](/bild/artikel/normal/2023/blumenuhr.jpg)
Es kann nur besser werden – und wird es auch. Auf dem Domplatz schlägt das Herz von Temeswar. Meines hüpft vor Freude beim Anblick von so viel Habsburger Schick. Die altehrwürdige Domkirche hat sich fein herausgeputzt, strahlt von innen und außen in neuem Glanz. Bunte Häuserfassaden ziehen den Blick magisch an. Die Gebäude in Schönbrunner Gelb und anderen Pastellfarben sind ein Augenschmaus. Sie säumen pittoreske Plätze und bilden ein architektonisches Ensemble mit unverwechselbarer Identität. Barock- und Jugendstilarchitektur vom Feinsten. Lebendige Straßencafés und schnuckelige Gaststätten schmiegen sich heimelig an die malerischen Gebäude. Ich fühle mich wie in Wien mit den berühmten Schanigärten. Nicht umsonst wird Temeswar Klein-Wien genannt. So schön und lebhaft war der Domplatz in den 1980er Jahren nicht, als ich in der Begastadt lebte und arbeitete.
Im Zentrum begegne ich Banater Musikanten, die mit ihren Kapellen in Temeswar und den umliegenden Ortschaften auftreten. Das bekannteste Blasorchester der Welt ist nicht darunter, obwohl der Auftritt der Egerländer Musikanten fast schon in trockenen Tüchern war. Vor drei Jahren sagte mir Ernst Hutter, Nachfolger des legendären Dirigenten Ernst Mosch, auf dem Weg zu Proben mit der SWR Big Band (der er zwischenzeitlich nicht mehr angehört) im Funkhaus der Villa Berg im Stuttgarter Osten, dass Vorgespräche für einen Auftritt in Temeswar liefen. Verständlich, spielen mehrere Banater Schwaben und ein Siebenbürger Sachse bei den Egerländern. Die geforderte Gage von 40.000 Euro konnte halbiert werden. Doch weil sie im Voraus gezahlt werden sollte, lehnten die privaten Geldgeber ab. Schade!
Ich nähere mich dem Opernplatz. Die Tauben sind noch da, die vielen Fußballanhänger von einst nicht. Sie trafen sich täglich bei den „porumbeii“, den Tauben, und diskutierten hitzig. Diese Schlagabtausche waren allerbeste Comedy und Kabarett in einem. Kein Wunder, dass die Fans fehlen. Worüber sollen sie auch reden? Poli und Ripensia sind in die 3. Liga abgestiegen. Bei ihren letzten Heimspielen waren 200 Zuschauer, so viele wie früher bei Ogorul in meinem Geburtsort Großjetscha in der Dorfliga.
Ich kann nicht glauben, dass Temeswar, wo vor 124 Jahren die Wiege des rumänischen Fußballs stand, zum ersten Mal ohne Mannschaft in der 1. und 2. Liga ist. Und steige die hundert Treppen des fünfstöckigen Metallgerüstes hoch, eine mit 1.306 Pflanzen begrünte Baumschule. Vielleicht kann ich aus 26 Metern Höhe doch noch ein Fußballteam entdecken. Für alle Fälle nehme ich ein Fernglas mit. Oben fallen mir fast die Augen aus dem Kopf – doch trotz Gucker ist weit und breit keine Mannschaft in Sicht. „Unvorstellbar, dass eine Marke wie Poli in so eine Situation geraten ist. Schuld sind vor allem die Behörden“, kritisiert Srdjan Luchin. Er ist in Temeswar geboren und weiß, wovon er spricht. Luchin spielte sechs Jahre bei Poli, später bei Dinamo, wurde Meister mit Steaua. „Fußball hat in Temeswar keine Priorität“, kritisiert der ehemalige Nationalspieler. Während UTA im benachbarten Arad eine Million Euro pro Jahr aus dem Stadtsäckel bekommt, gibt‘s in der Begastadt nichts für den Fußball – und viele Temeswarer müssen ausgerechnet ins verfeindete Arad fahren, wenn sie Erstligafußball sehen wollen. Früher unvorstellbar!
![Die mit 1306 Pflanzen begrünte Baumschule auf dem ...](/bild/artikel/normal/2023/temeswar_baumschule_2023.jpg)
Auf meinem Streifzug muss ich an einen Spruch des spanischen Schriftstellers Miguel de Cervantes denken: „Der Weg ist immer besser als die schönste Herberge.“ Ich gelange an ein anderes Temeswarer Symbol und reibe mir verwundert die Augen. Der renovierte Fischbrunnen wurde mit 178 Tagen Verspätung in Betrieb genommen, aber die Fontänen sprudeln wie eh und je. Die neue Form ist elegant und schwungvoll, andere vergleichen sie mit einem Topf für sarmale (Krautwickel). Geschmäcker sind eben verschieden.
![Der restaurierte Fischbrunnen auf der ...](/bild/artikel/normal/2023/temeswar_fischbrunnen_2023.jpg)
Selbst wenn Phoenix wollte, könnte die Band nicht im großen Temeswarer Stadion musizieren. Seit das Flutlicht vor anderthalb Jahren bei einem Spiel von Poli dreimal hintereinander ausfiel, wurde die Arena für immer geschlossen. Auch dort kann das Licht nicht mehr leuchten. Alles bröckelt und rieselt. Einsturzgefahr! Das wuchernde Unkraut verdeckt einen Teil des Stadionnamens Dan Păltinișanu. Der nicht nur von Statur her große Ex-Spieler würde im Grab rotieren, wenn er den kaputten Zustand sehen würde. Vor 31 Jahren trat Poli hier gegen die beste Mannschaft der Welt an und trotzte Real Madrid ein Unentschieden ab. Zwei Jahre nach der Auswanderung saß ich wieder im Stadion, aber nicht wie früher für die Neue Banater Zeitung (NBZ, 10.000 Auflage), sondern für BILD (5 Millionen Auflage). Ein gewaltiger beruflicher Sprung von einer regionalen zur größten Tageszeitung Europas – als bisher einziger Rumäniendeutscher.
Die andere traditionsreiche Temeswarer Spielstätte wird zwar benutzt, aber nicht mehr für Fußball. Während der Pandemie wurde im CFR-Stadion auf Anordnung des Verteidigungsministeriums ein Lazarett für Coronapatienten errichtet und der Rasen ruiniert, auf dem einst der banatschwäbische Trainer Peter Becker mit seinen Eisenbahnern in der A-Liga spielte. In Temeswar geistert Corona immer noch als Schreckgespenst herum. Der Präfekt bat die Bukarester Behörden, das Lazarett stehen zu lassen, obwohl niemand interniert und der Eingang mit einer Kette verschlossen ist. In Wien oder Dresden droht beim Tragen von Masken wegen Verstoß gegen das Vermummungsverbot eine saftige Geldstrafe. In Temeswar schlottern den Behörden die Knie, dass die ausländischen Touristen das Coronavirus in die Kulturhauptstadt einschleppen könnten.
Seit 60 Jahren wurde in Temeswar kein neues Stadion gebaut, in den letzten zehn Jahren dagegen gleich elf neue in anderen rumänischen Städten, darunter jenes in Hermannstadt. Die zurzeit größte Temeswarer Spielstätte hat eine Kapazität von nur 3000 Plätzen. Jetzt wird mal wieder von einer neuen Arena schwadroniert, wie so oft in der Vergangenheit. Doch die Bürger wollen keine Märchen mehr hören und gingen zu Tausenden auf die Straße. Groß und Klein demonstrierte für bessere sportliche Bedingungen und rief: „Wir wollen Infrastruktur, aber nicht durch Mundpropaganda oder auf dem Papier.“
![Das Alte Rathaus auf dem Freiheitsplatz der ...](/bild/artikel/normal/2023/temeswar_2023.jpg)
Nach 22 Kilometern zu Fuß in fünf Stunden mit vielen Zwischenstopps kreuz und quer durch Temeswar kann ich Dr. Dan Cărămidariu nur zu gut verstehen, der in der Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien schrieb: „Die Stadt startet im Kulturhauptstadtjahr mit fast derselben Infrastruktur, die es schon vor 1989 gegeben hat.“ Mit 860 Plätzen ist der Capitol-Saal der Philharmonie Banatul größter in der Stadt. Weil ihr die Kosten zu hoch waren, lehnte sie ein Angebot des deutschen Stadtplaners und Architekturtheoretikers Manfred Osterwald ab, der in Giroda mit Hilfe ausländischer Investoren einen 2000 Zuschauer fassenden Vorstellungssaal aus Stahlträgern für die Dauer des Kulturhauptstadtjahres errichten wollte.
Das Fazit meines Streifzuges wird durch einen Spruch des deutschen Dichters Gotthold Ephraim Lessing ausgedrückt: „Gute Einfälle sind Geschenke des Glücks.“ Hoffentlich schenkt das Glück Temeswar viele gute Einfälle. Die Stadt könnte sie gut gebrauchen.
Helmut Heimann
Hier können Sie die Zeitungsseite als pdf-Datei herunterladen:Streifzug durch die Europäische Kulturhauptstadt Temeswar. Eine Erlebnisreportage von Helmut Heimann, Siebenbürgische Zeitung, Folge 11 vom 10. Juli 2023, Seite 5
Schlagwörter: Temeswar, Kulturhauptstadt, Banater Schwaben, Helmut Heimann
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