Blick zurück: die ersten Eindrücke in Deutschland

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seberg
schrieb am 21.06.2013, 01:30 Uhr (am 21.06.2013, 01:33 Uhr geändert).
1969 stiegen wir am Frankfurter Flughafen aus dem Flugzeug, das uns aus Bukarest gebracht hatte, ich glaube, es war eine Tupolew.
Ein „Verwandter“ begrüßte uns (die „Familienzusammenführung“ war fingiert), er überreichte uns die vorbereiteten Papiere, erklärte uns alles Weitere und brachte uns dann zum Bahnhof für die Weiterfahrt mit dem Zug nach Nürnberg in eine sog. Auffanglager für Aussiedler.

Während der Zugfahrt von Frankfurt nach Nürnberg schaute ich ständig aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft, auf die Feldern, die Wiesen, die bewaldeten Hügel, die begradigten Wasserläufe und die Ortschaften mit roten Kirchtürmen und dachte immer nur: sieht alles aus wie eine Puppenlandschaft...alles irgendwie gestriegelt oder gemalt, alles wie buntes Puppenspielzeug.

In Nürnberg ging ich nach Anmeldung und Unterbringung die ersten paar hundert Meter allein durch eine Straße, entlang an dunkelfarbigen alten Gemäuern auf der Suche nach Zigaretten und bat jemanden, mir zu zeigen, wie man eine Schachtel Zigaretten aus einem Automaten holte...
Das war vor 43 Jahren...

Slash
schrieb am 21.06.2013, 18:10 Uhr
16 Jahre später kam ich auch in Nürnberg an. Todmüde aber erleichter stand ich vor dem "ghişeu" der Durchgangsstelle für Spätaussiedler, einem Hochhaus nicht weit entfernt vom Reichparteitagsgelände und wartete auf das übliche Aufnahmeprozedere. Über dem Schalterfenster hing ein Schild darauf war zu lesen: "Ganz Deutschland ist ein Irrenhaus, doch hier ist die Zentrale!"
Der Spruch bewahrheitete sich in den darauffolgenden Tagen, in denen man mit einem gelben - und meine auch grünen - Laufzettel durch viele Türen gehen und ebenso viele Fragen beantworten mußte. Als Tapetenwechsel holte mich eine Bekannte ab, um mir den berühmten Christkindlesmarkt zu zeigen. Schlimmer als in der "Zentrale" kann es ja gar nicht werden, dachte ich mir happy über ihr Angebot. Doch den Tag werde ich wohl nie vergessen, war ich doch gerade aus der Dunkelheit angereist, so fand ich mich plötzlich zwischen Massen von hell leuchtenden Glühbirnenketten auf einem großen Platz mit unzähligen Verkaufsständen wieder. Diese überboten sich in der Vielfalt von "Dingen die die Welt nicht braucht". Meine Bekannte führte mich die vielen Gänge zwischen den mit Weihnachtsschmuck und sonstigem bunten Krimskrams überladenen Stände rauf und runter, bis mir von Licht, Farben, Drehorgelklängen, sowie unbekannten Gerüchen beinahe übel wurde. Durchgefroren mit meinen nur leicht gefütterten Ostblockstiefeln war ich obendrein. Um mich aufzuwärmen wurde ich in einen Laden hereingezerrt, dessen Waren mich nur noch fassungslos dastehen ließen. Überall glitzerte es grell. Ich wäre beinahe gegen eine Glasvitrine gerannt, weil ich nur noch an die Decke starrte. An Nylonfäden, an der Decke befestigt hingen lauter Kugeln, Sterne, Igeln, Minihäuser und viele andere kleine Gegenstände, die aus purem Glas hergestellt und von grellen Halogenstrahler beleuchtet wurden, die den Raum zum glitzernden Eiskristall werden ließen, beinahe so als habe man mehrere Discokugeln gleichzeitig in Betrieb genommen. Da die Glasvitrinen ähnlich dekoriert und ausgestattet waren, fühlte ich mich betört und schaffte es nur voll konzentriert den Weg durch den Laden zu fädeln. Später hatte ich dieses Gefühl einmal auf der Kirmes im Spiegellabyrinth.
Doch lange hielt ich es in der Glitzerwelt nicht aus und wollte nur noch raus an die kalte Winterluft. Wir landeten vor einer Würstchenbude, doch mein Hunger war verflogen. Ich mußte an meinen zurückgelassenen Freundeskreis denken, der sich diesen Stromverbrauch und Überfluss an Schrott gar nicht vorstellen konnte. Sehr wahrscheinlich saß ein Teil meiner Freunde bald vor einem ärmlichen Weihnachtsessen, während hier die Leute losziehen und sich in Weihnachtsstimmung einen absoluten Dreck kaufen, ein Glas-Scheißerchen, das von der Decke herunterhängt, womöglich bald zerbricht und sein Geld nicht wert war. Mir war alles andere als weihnachtlich zumute!
Jedenfalls führte dieser Tag dazu, daß ich bis heute schnell meinen Weihnachtsmarktkoller kriege, um die Glas-Scheißerchen-Buden immer noch einen weiten Bogen mache, ok, ab und zu gönne ich mir 1-2 Tassen Glühwein, (manches muss man sich halt schöntrinken) vielleicht mal `ne Bratwurst, aber gewinnbringend bin ich für die Aussteller keinesfalls!
MomoB
schrieb am 21.06.2013, 19:49 Uhr
Sehr wahrscheinlich saß ein Teil meiner Freunde bald vor einem ärmlichen Weihnachtsessen, während hier die Leute losziehen und sich in Weihnachtsstimmung einen absoluten Dreck kaufen, ein Glas-Scheißerchen, das von der Decke herunterhängt, womöglich bald zerbricht und sein Geld nicht wert war. Mir war alles andere als weihnachtlich zumute!

In deiner rührenden Erzählung fehlt nur noch das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern.

Bei uns in Rumänien Weihnachten war eine magische Zeit voller Farbe, Colinde, gutes Essen, wie bei jeder vernünftigen orthodoxen Familie. Und keiner war irgendwie ein privilegierter der Nomenklatur. Anderes habe ich es auch nicht gekannt.

Als ich in Nürnberg ankam, hatte ich keinen Pfennig in der Tasche um zu telefonieren, dass ich früher angekommen bin. Ich sprach eine Gruppe Leute im Bahnhof an , ich wusste nicht einmal wie man hier telefoniert. Sofort hatte ich etwa 10 DM Münzen in der Hand und mit dem Telefon hat es auch geklappt. Fahrend mit einer Luxuslimousine bei 200 km/h über eine superglatt asphaltierte Autobahn (nicht wie Heute), habe ich gelernt die Vorteile der westlichen Welt zu schätzen. Nachts durch eine menschenleere Stadt zu fahren und überall in den Schaufenster Lichter zu sehen, überall Leuchten, war ein magisches Moment das ich nie vergessen werde.


sibihans
schrieb am 21.06.2013, 20:30 Uhr
So spannend wie Slasch werde ich es nicht beschreiben aber wir sind auch ende November nach De. gekommen und in Frankfurt am Main war auch schon alles vorweihnachtlich eingerichtet. Da wir vom Vater abgeholt wurden hat er uns auch in die Fußgängerzone geführt, damit wir uns was kaufen konnten für unterwegs. Da war es auch so wie von Slasch beschrieben auf dem Christkindlesmarkt. Als wir aber abends aus Mediasch mit dem Zug nach Bukarest fuhren, da brannte in Mediasch eine einzige Birne in der ganzen Stadt, über dem Eingang der Miliz. Nächsten Tag um 15.00 Uhr waren wir dann in Frankfurt. Was mich noch mehr beeindruckt hat waren die vielen Autos auf dem Frankfurter Kreuz, da war Stau. So viele Autos auf einem Haufen hatte ich mein Lebtag noch nicht gesehen.
Slash
schrieb am 21.06.2013, 20:35 Uhr (am 21.06.2013, 20:35 Uhr geändert).
Bei uns in Rumänien Weihnachten war eine magische Zeit voller Farbe, Colinde, gutes Essen, wie bei jeder vernünftigen orthodoxen Familie.

Na klar, die Schichtarbeiter fanden auch, daß es reine Magie war, voller Farben, Colinde und gutem Essen, arbeitend (und frierend) in ihrer Spätschicht am Band oder einer kalten Halle, während die Familie nicht vollzählich Weihnachten feiern durfte.... Oft war man auf das Wohlwollen eines Chef de echipă oder Direktor angewiesen, um vielleicht um 22 Uhr die Spätschicht früher verlassen zu können. Währendessen anscheinend eine vernünftige orthodoxe Familien, n-au avut greţuri şi au bagat la maţ - poftă bună!
TAFKA"P_C"
schrieb am 21.06.2013, 20:41 Uhr (am 21.06.2013, 20:43 Uhr geändert).
Bei uns in Rumänien Weihnachten war ...

Sorry, verstehe ich nicht. Wo meinst du, saßen Slash Freunde vor dem ärmlichen Essen? In Deutschland?

... ich wusste nicht einmal wie man hier telefoniert.
Das finde ich sehr interessant. Gab es bei dir, in Rumänien, keine Münztelefone?
MomoB
schrieb am 21.06.2013, 20:44 Uhr
Na klar, die Schichtarbeiter fanden auch, daß es reine Magie war

Jeder ist für sein Leben verantwortlich.
In einer orthodoxen Familie wurden alle christlichen Feiertage festlich (mit festlichem Essen) gefeiert, auch wenn sonst man etwas "sparsamer" war. Mit etwas Arbeit, Geduld und Hartnäckigkeit war alles Möglich.
Die Unmengen von Süßigkeiten die ich als Kind bei "Colinde" bekam, waren auch unvergesslich. So weit ich weiß, ihr habt das nicht gekannt.
TAFKA"P_C"
schrieb am 21.06.2013, 20:47 Uhr
Wenn das doch so toll war, wie du das erzählst, dann verstehe ich nicht, warum du das Ganze aufgegeben hast?
Slash
schrieb am 21.06.2013, 20:56 Uhr
Jeder ist für sein Leben verantwortlich.
Darf ich daran erinnern, daß im kommunistischen RO, zumindest zu meiner magischen Zeit, der 24. Dezember ein stinknormaler Arbeitstag war?

@Sibihans, 1 Glühbirne war ja schon luxuriös! Außer bei den normalen orthodoxen Familien, dort strahlte die Magie heraub und erleuchtete ihren Festtagsbraten!
TAFKA"P_C"
schrieb am 21.06.2013, 21:01 Uhr
Darf ich daran erinnern, daß im kommunistischen RO, zumindest zu meiner magischen Zeit, der 24. Dezember ein stinknormaler Arbeitstag war?
Er ist doch früher "getürmt", in der Zeit als er noch täglich im Restaurant essen konnte.
MomoB
schrieb am 21.06.2013, 21:03 Uhr
1 Glühbirne war ja schon luxuriös! Außer bei den normalen orthodoxen Familien, dort strahlte die Magie heraub und erleuchtete ihren Festtagsbraten!

Ich erinnere mich ungerne an jene Hängelampe in Esszimmer, aber sie hatte 6 Arme und natürlich 6 Glühbirnen.
Friedrich K
schrieb am 21.06.2013, 21:10 Uhr
Jeder ist für sein Leben verantwortlich.
aurel übt sich in weisen Sprüchen …

So weit ich weiß, ihr habt das nicht gekannt.
Falls es Ihnen entgangen sein sollte – wir sind mit Rumänen aufgewachsen, haben gemeinsam mit ihnen gelacht, geflucht, gelebt und auch gefeiert. Zum Feiern gehörten auch die „Colinde“. Sie waren für uns nicht die unbekannten Wesen wie die Siebenbürger Sachsen für manche Gestalt aus Dobrudschanistan.

@Slash

Darf ich daran erinnern, daß im kommunistischen RO, zumindest zu meiner magischen Zeit, der 24. Dezember ein stinknormaler Arbeitstag war?.
Nicht jedoch für die aurels die für ihr Leben verantwortlich waren – descurcaret nannten sie das.

Ich erinnere mich ungerne an jene Hängelampe in Esszimmer, aber sie hatte 6 Arme und natürlich 6 Glühbirnen.
Haben Sie sich mal den Kopf angestossen?
TAFKA"P_C"
schrieb am 21.06.2013, 21:11 Uhr (am 21.06.2013, 21:11 Uhr geändert).
Ich erinnere mich ungerne an jene Hängelampe in Esszimmer, aber sie hatte 6 Arme und natürlich 6 Glühbirnen.
und trotzdem ... ich wusste nicht einmal wie man hier telefoniert.
MomoB
schrieb am 21.06.2013, 21:11 Uhr
zumindest zu meiner magischen Zeit

Aus deiner etwas verbitterten Erzählung, fandst du auch in Deutschland „keine Magie“.
Aber wie ich schon sagte, jeder ist für sich verantwortlich und vielleicht für seinen Nachkommen.
Vielleicht nimmst du als Beispiel den Kranich und versuchst dich in solchen magischen, nie enden wollenden Reisen.
MomoB
schrieb am 21.06.2013, 21:22 Uhr
Falls es Ihnen entgangen sein sollte – wir sind mit Rumänen aufgewachsen, haben gemeinsam mit ihnen gelacht, geflucht, gelebt und auch gefeiert

Es ist schwer sich so etwas vorzustellen, so gehässig wie du dich hier aufführst.

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