25. September 2001

Hermann Gross: Nestor der südosteuropäischen Wirtschaftsforschung

Eine telefonische Anfrage nach dem Befinden des Seniors der siebenbürgisch-deutschen Wirtschaftswissenschaftler, Prof. Dr. Hermann Gross (98), war Anlass zu einem spontanen Besuch im Marienstift von Gauting, einem gepflegten und von kroatischen Krankenschwestern des Franziskanerordens geführten Caritas-Altenheim.
Es gehe ihm gut und er sei liebevoll umsorgt, hatte der über 98-jährige Professor am Telefon gesagt, und er würde sich auf einen Besuch nach seinem obligaten Nachmittagsschlaf freuen. Im Rollstuhl sitzend und am Schreibtisch die Tageszeitung lesend, empfing der alte Herr den "jugendlichen Besucher" mit freundlicher Geste zum Platz nehmen. Er lese täglich die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine, dazu eine Reihe anderer Publikationen. Die frisch eingetroffene Siebenbürgische Zeitung, die obenauf lag, veranlasste ihn, sich lobend über die Aufmachung und die Qualität unseres Blatts zu äußern. Weil diese Zeitung so vieles über Siebenbürgen und Rumänien berichte, lese er sie Wort für Wort.
Der gebürtige Kronstädter und Sohn des langjährigen Rektors des Honterusgymnasiums, Julius Heinrich Gross (1855-1931), hatte bereits 1922 seine Heimat verlassen und hat sich dank seiner Fähigkeiten als Hochschullehrer für Volkswirtschaftslehre, speziell im Bereich der Wirtschaftspolitik Südosteuropas, außerordentlich verdient gemacht. Er bewältigte erfolgreich doppelte Professuren an den Universitäten und Hochschulen in Leipzig, Kiel, Wien und München und wurde für seine Verdienste hoch geehrt, darunter 1974 mit dem Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis seiner Landsleute.
Der Besuch bot Gelegenheit mit dem sehr interessierten Senior über Vorhaben wie die Schriftenreihe "Geschichte der Siebenbürger Sachsen und ihrer wirtschaftlich-kulturellen Leistungen" von Dr. Michael Kroner zu sprechen, in dessen letztem, dem Heft 10, auch die Verdienste von bedeutenden Siebenbürger Sachsen gewürdigt werden sollen, die außerhalb Siebenbürgens gewirkt haben.
Zweifellos gehört auch Prof. Dr. Hermann Gross zu dem Kreis dieser Persönlichkeiten. Auch ein alter guter Bekannter von ihm, sein ehemaliger Assisstent in Kiel, Prof. Dr. Bruno Knall, gebürtiger Hermannstädter und ehemaliger Hochschullehrer für Entwicklungsökonomie der Universität Heidelberg, ist eine solche Persönlichkeit. Über den engen Freund konnte der Besucher dem Professor berichten, dass Professor Knall zurzeit nach einem Schlaganfall in der Pflegeabteilung des Siebenbürger Altenheims auf Schloss Horneck in Gundelsheim betreut wird.
Während des Gesprächs geriet der Gastgeber ins Schwärmen und schwelgte in alten Erinnerungen aus seiner Kinder- und Jugendzeit in der Kronstädter Vorstadt und in der Schule. Erzählungen über das Mitmachen im Coetus, als Centurio mit der Kassenverwaltung betraut, den Besuch des Gymnasiums mit zwei Mädchen in der Jungenklasse und das Tragen eines Flaus, den die Mutter gebraucht gekauft hatte, sprudelten aus seinem guten Langzeitgedächtnis hervor. In seinem späteren Leben war die Zeit in Wien die vielleicht interessanteste und kulturreichste Zeit, die er als "ewiger Junggeselle" wie seine Freunde und Bekannten ihn bezeichneten, erlebte. Lebhaft erinnerte er sich an seine guten Beziehungen zur Wiener Theaterkasse, dank deren er sogar gebürtigen Wienern öfters Karten für begehrte Veranstaltungen besorgen konnte. Auch lud er damals großzügig Siebenbürger Studenten bei derartigen Anlässen ein.
Jedoch das größte Glück seines Lebens sei, dass er die beste Frau gefunden und mit 46 Jahren geheiratet habe, nämlich Gertrud, geborene Hagemann, die Mutter seiner beiden Kinder Andreas und Barbara. Frau und Kinder betreuen ihn liebevoll und aufopfernd in enger Zusamenarbeit mit dem Personal des Altenheimes. Bis zu sieben Stunden täglich verbringt seine Frau mit ihm, führt ihn im Rollstuhl spazieren und kümmert sich rührend um ihn.
Als Fazit seines Lebens gibt der greise Professor dem Besucher mit auf den Weg, er habe "ein unheimlich abwechslungsreiches und lebendiges Leben" gehabt, es auch "genossen und immer versucht das Beste herauszuholen".

Walter Klemm


(Siebenbürgische Zeitung, Folge 15 vom 30. September 2001)

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