22. Mai 2002

Otto Schily: "Europa sollte etwas vom Geist der Toleranz der Siebenbürger aufnehmen"

Als anderswo blutige Religionskriege geführt wurden, praktizierten die Siebenbürger Sachsen mustergültige religiöse Toleranz und gegenseitigen Respekt. Dies erklärte Bundesinnenminister Otto Schily am 19. Mai beim Heimattag der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl. Die Europäische Union werde „hoffentlich auch etwas von dem Geist der Toleranz der Siebenbürger Sachsen aufnehmen“, sagte Schily. Er würdigte die „großartige Integrationsleistung“ der Siebenbürger Sachsen in Deutschland und sicherte ihnen weitere Unterstützung zu. Der SPD-Politiker will sich dafür einsetzen, dass Hermannstadt und Dinkelsbühl zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt werden.
Liebe Siebenbürger Sachsen, liebe Bürgerinnen und Bürger von Dinkelsbühl!
Ich betrachte es als eine große Ehre, dass ich heute an Ihrer eindrucksvollen Kundgebung im wunderschönen Dinkelsbühl teilnehmen darf. Dass Sie das schon seit über einem halben Jahrhundert so halten, hier in Dinkelsbühl zu Gast zu sein, beweist, dass die Siebenbürger Sachsen etwas von Kunst und Tradition verstehen. Es ist eine gute Verbindung zwischen Dinkelsbühl und der Siebenbürger Kulturtradition.
Bundesinnenminister Otto Schily bei seiner Festrede vor der Schranne in Dinkelsbühl. Foto: Günther Melzer.
Bundesinnenminister Otto Schily bei seiner Festrede vor der Schranne in Dinkelsbühl. Foto: Günther Melzer.


Ich beglückwünsche Sie auch zu dem Motto, das Sie gewählt haben, nämlich, dass Sie auf die Jugend und die Zukunft der Jugend setzen. Denn die Jugend verkörpert Zuversicht und Optimismus. Und manchmal denke ich: In Deutschland brauchen wir auch so etwas wie Optimismus. Mit Pessimismus kommt man im Leben nicht weiter. Deshalb brauchen wir diese Kräfte in der Jugend, und es ist schön zu sehen, was sich hier an Bewegung entwickelt. Allerdings bauen wir die Zukunft auf der festen Grundlage der großartigen und reichen Tradition unserer Vorfahren.
Sie wissen, dass ich vor einigen Wochen Rumänien und Siebenbürgen besuchte. In Hermannstadt, der traditionsreichen Stadt in Siebenbürgen, war ich sehr beeindruckt von dem schönen Stadtbild und den Menschen, die ich kennen lernen durfte. Und besonders stolz bin ich darauf, dass man mich zum Ehrenbürger Hermannstadts ernannt hat. Deshalb komme ich zu Ihnen quasi auch als Siebenbürger. Die Altstadt von Hermannstadt gehört, wie die meisten von Ihnen wissen, zu den bedeutendsten und besterhaltenen Ortskernen nicht allein Siebenbürgens oder Rumäniens sondern ganz Südosteuropas. Die Stadt hat Verbindungen in die gesamte kulturelle Landschaft Europas, bis hinein in die Toskana, eine Kulturlandschaft, der ich verbunden bin.
Und deshalb glaube ich, wäre es ein gutes Vorhaben, wenn wir von dieser wunderbaren Pfingstversammlung weggehen und sagen, wir, Hermannstadt und Dinkelsbühl, verbünden uns und ergreifen eine gemeinsame Initiative. Einerseits treten wir an die rumänische Regierung heran und sagen, sie soll einen Antrag stellen, um Hermannstadt zum Weltkulturerbe erklären zu lassen, und wir können gleichermaßen eine Initiative unterstützen, damit Dinkelsbühl zum Weltkulturerbe erklärt wird. Herr Bürgermeister Sparrer, Sie haben mich auf Ihrer Seite!
Volker Dürr (links), Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen, überreichte Bundesinnenminister Otto Schily den Bildband „Siebenbürgen im Flug“ mit prächtigen Luftbildaufnahmen. Foto: Günther Melzer
Volker Dürr (links), Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen, überreichte Bundesinnenminister Otto Schily den Bildband „Siebenbürgen im Flug“ mit prächtigen Luftbildaufnahmen. Foto: Günther Melzer

Leider ist im vergangenen Jahrhundert viel von der einst so blühenden siebenbürgischen Kulturur verloren gegangen. Das Jahrhundert der Weltkriege, der nationalsozialistischen Massenverbrechen, der Vertreibungsverbrechen und verbrecherischen Herrschaftssysteme hat auch den Siebenbürger Sachsen viel Leid zugefügt. Die verstärkten Unterdrückungsmaßnahmen der Ceausescu-Diktatur haben schließlich viele Siebenbürger Sachsen veranlasst ihre angestammten Siedlungsgebiete zu verlassen. Sie haben aber damit nicht die Bindungen zu Ihrer alten Heimat und ihre jahrhundertealte reiche Kultur aufgegeben. Und ich will Sie ermutigen, darin nicht nachzulassen.
Sie haben in Deutschland eine neue Heimat gefunden und ich will Ihnen, in Anknüpfung an das, was Sie, lieber Herr Dürr, gesagt haben, für Ihre großartige Integrationsleistung, für Ihren großen Beitrag beim Aufbau der deutschen Demokratie, der Wirtschaft, aber auch der reichen deutschen Kultur ganz herzlich danken. Und Sie können sich darauf verlassen, dass der Bundesinnenminister Sie in Ihrer Arbeit auch weiterhin in Zukunft nach Kräften unterstützen wird!
Der tragische und fatale Grundirrtum des vergangenen Jahrhunderts war die wirklichkeitsfremde Vorstellung, Kultur, Wirtschaft und staatsrechtliche Ordnung müssten deckungsgleich in einem homogenen, nationalen Einheitsstaat verschmolzen sein. Dieser fatale Grundirrtum führte in nationalistische Überheblichkeit und Chauvinismus, Hass und Feindschaft und massenmörderische Kriege. Er führte zur Unterdrückung von Minderheiten und in die Zerstörung gewachsener multiethnischer Kulturlandschaft.
Dabei hätte gerade Siebenbürgen den Einsichtigeren als Lehrbeispiel dienen können, wie unterschiedliche Kulturen in einem Staat friedlich und in wirtschaftlichem Wohlstand zusammenleben können. Das ist europäische Kulturtradition in bestem Sinne, wie sie beispielsweise auch in der Schweizer Eidgenossenschaft verwirklicht ist. Es stimmt eben nicht, wie man immer wieder von falschen Propheten hört, dass Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, Sprache, Kulturtradion und Religionszugehörigkeit nicht friedlich zusammen leben. Das Gegenteil ist richtig. Die Siebenbürger haben über Jahrhunderte das Gegenteil bewiesen. In Zeiten, in denen anderswo blutige Religionskriege geführt wurden, praktizierten die Siebenbürger Sachsen mustergültige religiöse Toleranz und gegenseitigen Respekt, und daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Das neue Europa, die Europäische Union, die dem friedlichen und respektvollen Zusammenleben der europäischen Völker verpflichtet ist, wird hoffentlich auch etwas von dem Geist der Toleranz der Siebenbürger Sachsen aufnehmen.
Nach dem Schrecken der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts können wir froh und unendlich dankbar sein, dass Europa inzwischen ein Hort des Friedens geworden ist, mit wachsendem Wohlstand und stabilen demokratischen Strukturen, sozialem Ausgleich und einer einzigartigen Vielfalt der Kulturen.
Aber der Bau des Europäischen Hauses ist noch nicht abgeschlossen. Die Erweiterung der Europäischen Union steht noch bevor. Sie wird uns noch viele Arbeit und Anstrengungen abverlangen. Die Siebenbürger Sachsen können zu diesem Aufbauwerk aufgrund ihrer Tatkraft, Traditionspflege und Toleranz einen überaus wertvollen Beitrag leisten, auch dadurch, dass sie die Reformbemühungen in ihrer alten Heimat unterstützen.
Bei meinem Rumänienbesuch habe ich eine Reihe von Gesprächen führen können mit dem rumänischen Premierminister Adrian Nastase und meinen Innenministerkollegen Ioan Rus. In den Gesprächen wurde übereinstimmend festgestellt, dass sich die deutsch-rumänischen Beziehungen seit Unterzeichnung des Deutsch-Rumänischen Freundschaftsvertrages vor zehn Jahren, in dem auch der Schutz der deutschen Minderheit verankert ist, deutlich verbessert und intensiviert haben. Dies beruht zu einem nicht unerheblichen Teil darauf, dass die rumänische Regierung anerkennenswerterweise bemüht ist den Schutz und die Gleichstellung der deutschen Minderheit zu gewährleisten. Das hat sich auch an kürzlich durch das rumänische Parlament verabschiedeten Beseitigung der Benachteiligung von Rumäniendeutschen bei der Bodenrückgabe gezeigt. Auch in meiner Rede vor dem rumänischen Parlament habe ich die Bedeutung des Schutzes der Minderheiten hervorgehoben. In den Beratungen des EU-Konvents zur Erarbeitung einer europäischen Verfassung wird sich Deutschland ebenfalls dafür einsetzen, dass die Minderheitenrechte in der künftigen europäischen Verfassung fest verankert werden.
Bundesinnenminister Otto Schily mit Agnethler Trachtenträgern beim Heimattag 2002 in Dinkelsbühl. Foto: Walter Fielk
Bundesinnenminister Otto Schily mit siebenbürgisch-sächsischen Trachtenträgern der HOG Agnetheln beim Heimattag 2002 in Dinkelsbühl. Foto: Walter Fielk

Die in Rumänien verbliebene deutsche Minderheit hat sich nach der Aussiedlungswelle zu Beginn der neunziger Jahre inzwischen stabilisiert. Nach Schätzungen gehören ihr rund 80 000 Menschen an. Die Aussiedlung ist nahezu beendet. im Jahre 2001 kamen nur etwa 400 Spätaussiedler aus Rumänien. Die Altersstruktur unter den Deutschen in Rumänien ist jedoch leider ungünstig. Gerade aus der mittleren Generation sind viele Familien nach Deutschland ausgesiedelt, aber eine junge zahlenmäßig geringe, aber sehr aktive Generation wächst nach, das lässt uns hoffen. Erfreulicherweise gibt es auch heute ein durchaus lebendiges Kulturleben in Rumänien, insbesondere in Siebenbürgen und dem Banat.
Es gibt deutschsprachige Kindergärten und Schulen mit Deutsch als Unterrichtssprache, deutschsprachige Studiengänge an Universitäten, deutsche Tageszeitungen und deutschsprachiges Theater. Die Deutschen in Rumänien haben sich in einer demokratischen Selbstverwaltungsorganisation zusammengeschlossen, dem Demokratischen Forum der Deutschen in Rumänien mit Sitz in Hermannstadt, zu dessen neuem Vorsitzendem im April dieses Jahres der Bürgermeister von Hermannstadt, Klaus Johannis, gewählt wurde. Das Forum hat einen Vertreter im rumänischen Parlament, es ist einigen weiteren kommunalen Selbstverwaltungen vertreten, die gemeinnützigen Stiftungen der deutschen Minderheit zur Förderung der regionalen Wirtschaft arbeiten zunehmend erfolgreich, so dass nicht unerhebliche Rückflussmittel auf neue Projekte verwendet werden können. Diese Mittel sind in Begegnungsstätten, Altenheime, soziale Projekte, aber auch in die Förderung von Wirtschaft, Landwirtschaft und Gewerbe geflossen. Dabei sind die Hilfen so konzipiert, dass sie entsprechend den Grundsätzen der Hilfenpolitik der Bundesregierung immer auch dem rumänischen Umfeld zugute kommen, damit nicht Neid und Missgunst aufkommen können.
An herausragenden Vorhaben der jüngsten Zeit will ich nur zwei Beispiele nennen. Erstens den Aufbau der Begegnungs- und Übernachtungsstätte in Mediasch zu einer staatlich anerkannten Bildungseinrichtung für Lehrer. Sie ist für die deutsche Minderheit und die Wahrung ihrer Identität von großer Bedeutung. Hierdurch werden grundlegende Möglichkeiten der landesweiten Aus- und Fortbildung von Deutschlehrern in Rumänien geschaffen. Und zweitens der Ausbau des ehemaligen Pfarr- und Waisenhauses in Hermannstadt zum Kultur- und Begegnungszentrum „Friedrich Teutsch“ der Evangelischen Kirche Augsburger Bekenntnisses. Deutsche und Mitbürger anderer Muttersprachen können sich hier begegnen, Verständnis für Gemeinschaft untereinander entwickeln und Zugang zu Geschichte, Kunst und Kultur der Siebenbürger Sachsen finden.
Alles das sind ermutigende Zeichen für das Fortbestehen einer für Rumänien auch künftig bedeutsamen deutschen Minderheit. Diese deutsche Minderheit kann ebenso wie die Siebenbürger Landsmannschaft eine wichtige Brückenfunktion wahrnehmen. Rumänien strebt den Beitritt zur Europäischen Union an und hat auch schon Fortschritte erzielt auf dem Weg dahin. Deshalb ist es für Rumänien, aber auch für Deutschland und andere Staaten der Europäischen Union wichtig, sich darauf zu besinnen, dass Minderheiten kulturelle Brücken bilden, ob dies nun deutsche oder andere ethnische Minderheiten sind. Die neue rumänische Regierung weiß sich einer modernen und weltoffenen Minderheitenpolitik verpflichtet und ist sich dieser Brückenfunktion der Minderheiten zunehmend bewusst. So hat der rumänische Informationsminister Vasile Dancu im März dieses Jahres Gespräche mit Vertretern der Landsmannschaften der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben geführt und eine engere Zusammenarbeit zwischen der rumänischen Regierung und den Landsmannschaften bezüglich der Fördermaßnahmen zugunsten der deutschen Minderheiten angeregt. Das begrüße ich außerordentlich und möchte es hervorheben.
Für Europa bieten sich daher die schönsten Perspektiven für die Zukunft. Ich bin überzeugt, dass die Jugend, gerade auch die Jugend der Siebenbürger Sachsen, frei von Vorurteilen der Vergangenheit und unbelastet von schmerzlichen Erfahrungen der Vergangenheit, die Erfahrungen der Vergangenheit als Lehre verstehen und ihre Möglichkeiten in der Europäischen Union nutzen wird - damit unsere Heimat Europa, die wir in den europäischen Verträgen als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts definieren, damit dieses Europa der Zukunft ein Garant des Friedens, des wirtschaftlichen Wohlstandes und der kulturellen Vielfalt bleibt und sein wird.

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