17. Juli 2003

Großzügig den Sinngewinn aus reicher Kunsterfahrung verschenkt

In Gundelsheim ist am 8. Juli der bekannte siebenbürgische Musikerzieher, Chorleiter und Komponist Ernst Irtel im Alter von 87 Jahren verstorben. Der am 9. Februar 1917 in Mühlbach Geborene hatte an der Klausenburger Musikakademie studiert und war ab 1945 begnadeter Musiklehrer und Chorleiter an Gymnasien in Hermannstadt, Schäßburg und Mediasch. Nach seiner Aussiedlung 1987 lebte er als immer noch musikerzieherisch aktiver Rentner im Heimathaus Siebenbürgen auf Schloss Horneck in Gundelsheim, wo am 12. Juli eine Gedenkveranstaltung für den Verstorbenen stattfand.
Dabei hielt Pfarrer Lothar Schullerus die christliche Andacht, das Beileid der Landsmannschaft und ihres Verbandsvorsitzenden Volker Dürr, der Irtel noch im Vorjahr für dessen Verdienste um die siebenbürgisch-deutsche Kultur mit der "Stephan Ludwig Roth"-Medaille ausgezeichnet hatte, bekundete die stellvertretende Bundesvorsitzende Karin Servatius-Speck. Eine Gedenkansprache im Namen der ehemaligen Schüler und der Freunde Irtels hielt der Journalist und ehemalige Chefredakteur dieser Zeitung, Hannes Schuster. Seine Rede wird hier im Wortlaut wiedergegeben.

Immer wieder dieses harte Erschrecken, diese jähe Betroffenheit ist es, die uns unerbittlich anfällt, wenn ein uns naher Mensch aus dem Leben hingegangen ist in das endgültige Nichtsein. Um so mehr aber erfasst uns Ratlosigkeit, wenn wir, wie diesem Toten, der uns Lehrer war und den wir Freund nennen durften, in den späten Monaten, Wochen und Tagen seiner letzten Leiden, seiner schwindenden Kraft und seiner wachsenden Ängste, wenn wir ihm zu dieser seiner schweren Zeit allzu fern gewesen sind, die wir, eng verhaftet dem eigenen Alltag, nicht oft genug zu den kleinen Gesten gefunden haben, mit denen wir ihn hätten wissen lassen können, dass wir, wenn auch nur für Augenblicke und in Gedanken, bei ihm waren. Ohne die Versicherung solch geleisteten Beistands stehen wir heute da und ohne uns auf die von ihm wohl erhoffte, tätige Anteilnahme berufen zu können: mit leeren Händen.

Ernst Irtel. Foto: Kurtfritz Handel
Ernst Irtel. Foto: Kurtfritz Handel

Sind sie denn wirklich leer, diese unsere Hände? Hat nicht er schon vor langer Zeit und in vielen Jahren hineingelegt in sie gewichtige Teile seines eigenen Selbst: die eigene Freundlichkeit, die eigene Zuneigung, die eigenen Entdeckungen des Schönen und Guten? Doch! Ernst Irtel tat das immer wieder, hat es immer wieder getan für uns und unzählig Andere: Seine großzügigen Schenkungen an Sinngewinn aus der Musik, aus Kunst- und Literaturerfahrung sind zahllos und unverloren. Und wenn wir heute, in dieser Gedenkstunde, unsere Erinnerung befragen, steigen sie herauf, werden gegenwärtig, und mit ihnen erkennen wir: sie sind und bleiben in unserem Besitz.

Unvergängliches Eigentum sind uns seine Musikstunden an den Schulen in Hermannstadt, Schäßburg und Mediasch, die gewinnende Lebendigkeit seines Unterrichts mit den vielen Klangbeispielen, die er am Klavier sitzend oder auf erstklassigen Tonträgern uns darbot, untermalt von seinen oft leidenschaftlichen, dann wieder geistreich vergnüglichen Zwischenrufen, mit denen er uns Motive, Themenführung, Modulationen oder kontrapunktische Strukturen entdecken ließ. Manchem von uns war es zudem vergönnt, in freien Stunden sein schmales, aber für alle stets offenes Zimmerchen in der Schäßburger Schulgasse aufzusuchen und, mit Blättern aus seiner Partiturensammlung auf den Knien, die Klangwelten einer Fuge, einer Sinfonie oder Sonate auch mit den Augen in sich aufzunehmen. Mir selber unvergesslich ist der Abend des 5. November 1955, als wir, meine Familie und einige Freunde, in der elterlichen Wohnung zusammensaßen vor Ernst Irtels Rundfunkgerät, damals eine kostspielige und zudem genehmigungspflichtige Seltenheit in sächsischen Häusern. Der Lehrer hatte sein Radio bei schützender Dunkelheit zu uns herüber gebracht, denn aus Wien wurde Beethovens "Fidelio" übertragen, in jener grandiosen, inzwischen längst historisch gewordenen Aufführung, mit der die Wiener Staatsoper nach ihrer Zerstörung durch den Krieg und ihrem Wiederaufbau neu eröffnet wurde. Ein Hauch von großer Welt und großer Kunst wehte uns an, die wir verdammt worden waren zur Armseligkeit und Kulturferne der alles beengenden Nachkriegsjahre und nun, wenn auch nur für Stunden, staunend hineinhören durften in dieses überwältigende Kulturereignis von europäischem Rang.

Doch es mussten nicht unbedingt solch großartige Gelegenheiten sein, mit denen der begnadete Musikerzieher bleibende Kunsterlebnisse vermittelte. Dazu angetan waren genau so gut seine Musikvorträge, die er bescheiden "Komponistenstunden" nannte, sie als solche in Schäßburg auf den Weg brachte, danach in Mediasch fortsetzte und sie auch hier auf Schloss Horneck bis nur wenige Wochen vor seinem Tode zu halten pflegte. Tausendfach und abertausendfach sind durch ganze fünf Jahrzehnte, fast Woche für Woche mehrere Generationen von Menschen in diesen herzerfreuenden Feierstunden an die großen Meister der Tonkunst, an den Bau musikalischer Gattungen, an die bedeutendsten Werke der Musikgeschichte herangeführt worden. Ihnen, diesen Menschen, ob jung oder betagt, wurde durch Ernst Irtel Schönheit bleibend übereignet.

Und ebenso unvergängliches Eigentum sind uns, den ehemaligen Schülern dieses Mannes, seine Chorproben. Zwar herrschte darin streng sein anspruchsvolles Beharren auf Partiturtreue, auf Genauigkeit im Zusammenklang der Stimmen, auf textnahen Ausdruck, doch unsere erfolgreichen Auftritte in abendfüllenden Konzerten oder in Sendungen des Rundfunks, später auch des Fernsehens waren der Lohn für die oft mühevolle, stets aber uns mitreißende Arbeit. Heute noch, wenn ehemalige Mitglieder des Schäßburger "Singkreises" oder des Mediascher Schülerchors zusammenkommen, haben sie ihre Partituren im Ohr und singen gemeinsam in beglückender Runde die Madrigale von Hans Leo Hassler, die Chöre aus Mozarts "Zauberflöte" oder die Lieder der deutschen Romantiker. Diejenigen unter ihnen, die Lehrer geworden sind, wurden zu Multiplikatoren von Irtels musikerzieherischem Impetus und haben seine überzeugende Art, junge Menschen für die Musik zu begeistern, weitergetragen an die Orte ihres eigenen Wirkens.

Doch da waren in Schäßburg auch die Abende im kahlen, armseligen Speisesaal des Schülerinternats an der Schaaser Straße: auch sie sind immer noch in unserem Besitz. Dort las der Musiklehrer uns Gedichte von Storm und Rilke, von Hermann Hesse und Hans Carossa, Anekdoten von Wilhelm Schäfer oder Ibsens "Brandt" und "Die Frau vom Meer" vor, wurde zum literarischen Mentor in Jahren, da proletkultistische Engstirnigkeit den Schulbetrieb bestimmte und die Werke der genannten Autoren verpönt, wenn nicht gar verboten waren. Irtels damals durchaus gewagten Lesungen haben uns davor bewahrt, uns blindlings den Zwängen eines primitiv diktatorialen Kunst- und Kulturverständnisses zu beugen. Vielen von seinen damaligen Zuhörern ist das, was man gemeinhin die "wahre Literatur" nennt, ist deren Wertesystem gerade durch ihn zur "geistigen Lebensform" geworden.

Eigentümer aber sind wir alle nicht zuletzt auch seiner kompositorischen Schöpfungen, seiner Miniaturen für Klavier oder Cello, auch seiner anrührenden Lieder und seiner Chorkompositionen, allen voran der Vertonung von Adolf Meschendörfers "Siebenbürgischer Elegie": Wohl keinem anderen Gedicht der rumäniendeutschen Literatur ist eine derart kongeniale Umsetzung in die Musik widerfahren wie diesen Versen vom "langsam sich neigenden Lauf" der siebenbürgisch-sächsischen Geschichte.

Nein! Unsere Hände sind nicht leer im Angesicht des Todes von Ernst Irtel. Hinein gelegt hat er Schönheiten ohne Zahl, dazu seine vertrauende Wärme im zwischenmenschlichen Umgang, seine stetige Bereitschaft zu freundschaftlicher Zuwendung, seinen erfrischenden Humor, den er sich und uns bewahrte auch in schwierigen Lebenslagen, und erhalten sind uns selbst seine kleinen Schrulligkeiten, die er stets mit Witz und Selbstironie dem Gegenüber verzeihlich zu machen verstand. Seine Mitgift dürfen wir alle weiter in uns tragen als den Reichtum, der uns begütigend hinweghelfen wird über das schmerzliche Erschrecken vor dem Tod des Lehrers und Freunds. Wir sind die vielfach Beschenkten und haben zu danken dafür. Den Angehörigen des Verstorbenen aber mag unser glückvolles Wissen um unser Besitztum an empfangenen Schönheiten Trost sein in diesen schweren Stunden des Abschiednehmens.

Hannes Schuster

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