14. Juni 2004

Podiumsdiskussion in Dinkelsbühl: Identitätswandel als Chance

Die Siebenbürger Sachsen haben ihre Identität im Laufe der Jahrhunderte stets an die Umstände angepasst und zugleich an einigen Grundwerten festgehalten. Auch in der heutigen Umbruchsituation sind Flexibilität und eine gefestigte Identität wichtige Faktoren einer gelungenen Eingliederung in die neue Heimat. Dies stellten die Teilnehmer einer Podiumsdiskussion zum aktuellen Thema "Identität und Integration" am Pfingstmontag zum Abschluss des Heimattages in Dinkelsbühl fest. Dabei wurden existenzielle Begriffe wie "Identität" und "Integration" geklärt, aber auch praktische Erfahrungen von Betroffenen zur Sprache gebracht.
Eine "hochkarätige" Diskussionsrunde konnte die stellvertretende Bundesvorsitzende, Karin Servatius-Speck, im Kleinen Schrannensaal begrüßen. Den äußerst gelungenen Heimattag setzte die Moderatorin in Verbindung mit dem Diskussionsthema. Nicht nur die zahlreichen Reden, sondern auch das Dargebotene hätten das Motto des Heimattages "Heimat suchen - Heimat finden" homogen und funktional illustriert. Alle Darstellungen, vom Trachtenumzug bis hin zu den Preisverleihungen, hätten gezeigt, dass der Wille da sei, "von uns aus, aktiv, als Individuen und als Gemeinschaft, Tradition fortzuführen, lebendig und spannend, mit großem Einsatz und Interesse". Und da habe es die jüngsten Jugendlichen gegeben, die in Tracht und Gemeinschaft amerikanische Medleys spielten und "Thank you for the music", aber auch "Schützt die Umwelt" und eine Hymne auf das vereinte der Zukunft sangen. Im besten Goetheschen Sinne seines Wortes: "Nur was sich ändert, bleibt". Und zum Abschluss der Festkundgebung am Pfingstsonntag hätten alle zwei Hymnen gesungen: die Siebenbürgische und Deutsche, die der alten und der neuen Heimat.

Die Teilnehmer der Podiumsdikussion. Foto: Günther Melzer
Die Teilnehmer der Podiumsdikussion. Foto: Günther Melzer

Schon immer hatten die Siebenbürger Sachsen zwei Loyalitäten gehabt, zu Siebenbürgen und zum Vaterland, sei es Österreich, Ungarn oder Rumänien gewesen. Das hatte der Historiker Thomas Nägler überzeugend in einer Festrede tags zuvor verdeutlicht. „Diese Flexibilität, die uns befähigt, auch in einem neuen Vaterland Heimat zu finden, ist aber nur möglich, weil wir aus unserer tradierten gefestigter Individuen mit gefestigter siebenbürgischer Identität sind“, fügte Karin Servatius-Speck hinzu. Der eigentlichen Diskussion schickte sie einige klärende Begriffe voraus: Identität ist in der Psychologie die als „Selbst“ erlebte innere Einheit der Person, etwas Individuelles, Unverwechselbares. Gebildet und geprägt werde das Selbst durch Erfahrung und Erziehung in einer Gemeinschaft. Das Individuum brauche folglich das Wir-Bewusstsein durch Familie, Freunde, Nachbarschaft, Gemeinde, Religionsgemeinschaft, die alle seine Identität prägten.

Die Identitätsbildung sei ein lebenslanger Prozess, erläuterte die stellvertretende Bundesvorsitzende. „In einer Umbruchsituation wird die Identität auf eine Zerreißprobe gestellt: Das Alte gilt nicht mehr, vom Neuen weiß man nicht, ob und inwieweit es lebenswert ist.“ Prof. Nägler habe in seinem Festvortrag aufgeführt, in wie vielen Umbruchsituationen das Individuum, aber auch die kollektive Identität der Siebenbürger Sachsen in Gefahr gewesen sei, sich bewährt und auch teilweise aufgegeben habe. Aber immer noch vital bleibend.

Nun stehe das Individuum, „der in siebenbürgisch-sächsischer Gemeinschaft geprägte Sachse aus dem Umfeld des rumänischen Vaterlandes“, vor einer neuen Gemeinschaft, in die er sich integrieren solle. Bald komme nun die Eingliederung in den Großraum Europa hinzu, sagte Karin Servatius-Speck. Für die „tief humanistisch-demokratisch geprägten Siebenbürger Sachsen“ sei es nun eine große Chance, sich mit den tradierten Strukturen der Landsmannschaft, der Nachbarschaften, der Heimatortsgemeinschaft in diese Gesellschaft – sei es in Kanada, in den USA, in Österreich oder in Deutschland – zu integrieren. In der modernen westlichen Welt hätten sich der Gemeinschaftscharakter und damit die persönlichen Beziehungen geändert. Sachliche Interessen verbinden vor allem die Individuen, die Gemeinschaft ist durch den Begriff Gesellschaft ersetzt worden. In dieser Gesellschaft bilden sich nun „imaginierte Gemeinschaften“ heraus, Vereine, Verbände, „die den Einzelnen in ein neues Gefüge teilweise schon mit jahrzehntelanger Tradition einbinden und ihm das Gefühl der Sicherheit und Wurzeln im Verbürgten geben“. Hier setze die Chance der Siebenbürger Sachsen sich mit ihren bewährten Strukturen einzubringen.

Nach Ansicht des promovierten Politikwissenschaftlers Jürgen Walchshöfer bedeute Integration zugleich „Aufgabe eines Stückes Identität“. Der ehemaliger Bürgermeister der Stadt Dinkelsbühl stellte fest, dass den Sachsen in seiner Stadt dieser „schmale Gleichgewichtspfad“ gut gelungen sei. Die Bilanz der Integration sei positiv. Die Siebenbürger machen einerseits mit in den örtlichen Vereinen, erhalten sich andererseits aber auch ihre Identität durch eigene Veranstaltungen. Da es keinen Zwang mehr gebe, aus Siebenbürgen wegzugehen, so Dr. Walchshöfer, habe die Landsmannschaft nicht mehr so sehr die Aufgabe, die Aussiedler zu betreuen, sondern sich vielmehr für den Erhalt der Identität und des „siebenbürgischen Charakters“ (Glaube, Sprache, Pioniergeist, Weltoffenheit, Bodenständigkeit – so Walchshöfer) einzusetzen.

Die promovierte Volkskundlerin Dr. Irmgard Sedler unterstrich, es sei in der heutigen Zeit der vielfachen Angebote an Integration klar, dass Einwanderungsgruppen viel für die aufnehmende Land geleistet hätten. Die Siebenbürger Sachsen bringen ein „kulturelles Gepäck“, Wissen und Erfahrung mit in diese kulturelle Vielfalt. Ihre Symbole der Selbstvergewisserung müssten stets neu definiert werden, wobei man trotz des Wandels Grundwerte behalten würde.

Pfarrer i.R. Kurt Franchy, seit 21 Jahren Vorsitzender des Hilfskomitees der Siebenbürger Sachsen und evangelischen Banater Schwaben im Diakonischen Werk der EKD, ging auf sein Schicksal als neunjähriger Junge ein, der im September 1944 aus Bistritz evakuiert wurde und ein Jahr später wieder nach Siebenbürgen zurückkehrte. Er fand nur eine befremdlich wirkende „Kulisse“ vor, aber die Kirche habe allen Heimat geboten. So habe es sich auch das Hilfskomitee zur Aufgabe gemacht, den Aussiedlern aus Siebenbürgen zu helfen, sich in Kirche und Gesellschaft zu integrieren. Es sei äußerst schwierig, sich zu integrieren und gleichzeitig seine Identität zu wahren, geradezu die „Quadratur des Kreises“, so Pfarrer Franchy.

Der Historiker Prof. Dr. Thomas Nägler erinnerte daran, dass die Siebenbürger Sachsen auch in der Vergangenheit durch die jeweiligen Umstände, „immer wieder etwas Neues geworden sind“. Heute würden sie in Deutschland neue Geschichte kennen und auch mitgestalten. „Wir wollen und müssen einiges aufgeben und etwas aufnehmen, von dem, was europäische Identität heißt.“ Der Historiker plädierte dafür, den Wandel nicht als Bürde, sondern als Lernprozess zu sehen. Als deutscher Volksstamm könnten die Siebenbürger Sachsen ihren Mitmenschen positive Erfahrungen wie Fleiß, Sinn für Gerechtigkeit und vieles mehr vermitteln.

Bundesfrauenreferentin Enni Janesch berichtete über die praktische Integrationserfahrung der Siebenbürger Sachsen, die Anfang der fünfziger Jahre im Zuge der Kohleaktion Bergarbeiter wurden, Siedlungen und eigene Vereine gründeten und siebenbürgisches Brauchtum im Bergischen einführten. Als das Land Nordrhein-Westfalen 1957 die Patenschaft über die Siebenbürger Sachsen übernahm, wurden sie schon als fleißige Arbeiter und verlässliche Bürger, als gute Kameraden auch für andere gepriesen. Enni Janesch zitierte die Doktorarbeit von Katrin Ingenhoven, die die Integration der Siebenbürger Sachsen in der weltweit größten Siebenbürger-Sachsen-Siedlung Drabenderhöhe untersucht hatte. Die Autorin habe festgestellt, dass die überdurchschnittlich gute Bildung, das gemeinsame Ausüben von Kultur und Sprache, die Nachbarschaftshilfe, aber auch die Toleranz der ansässigen Oberberger günstige Faktoren seien, die zu einer gelungenen Integration Sachsen führten. Der Ansicht Ingenhovens, Drabenderhöhe sei ein Einzelfall für eine geglückte Integration, widersprach die Bundesfrauenreferentin. Die Erfahrung auch in anderen Siedlungen in Nordrhein-Westfalen und Deutschland habe gezeigt: „Der Integrationswille der Siebenbürger Sachsen ist überall vorhanden, wo sie heute leben und sich heimisch fühlen.“

Das zahlreiche und interessierte Publikum beteiligte sich an der angeregten Diskussion im Kleinen Schrannensaal. Foto: Günther Melzer
Das zahlreiche und interessierte Publikum beteiligte sich an der angeregten Diskussion im Kleinen Schrannensaal. Foto: Günther Melzer


Thorsten Schuller, stellvertretender SJD-Bundesjugendleiter, berichtete über die Integration junger Siebenbürger, die gleich nach dem Krieg, vor oder nach der Wende von 1989 zugezogen oder, wie er selbst, in Deutschland geboren sind. Zwar hätten die Einheimischen zuweilen mit Unwissenheit und Neid begegnet, aber die Eingliederung der Siebenbürger Sachsen sei allemal erfolgreich gewesen. „Die unterschiedlichen Integrationsprozesse so zu meistern, ohne dabei in der neu gewonnen Identität auf- bzw. damit vielleicht auch unterzugehen, zeichnet uns Siebenbürger Sachsen aus.“ Schuller äußerte die Hoffnung, dass die siebenbürgisch-sächsiasche Identität nicht der Integration zum Opfer fällt und dass noch mehr Jugendliche ihre Traditionen weiterpflegen und an ihre Kinder weitergeben.

Nach einer lebhaften Aussprache zog der Bundesvorsitzende Volker Dürr eine äußerst positive Bilanz des Heimattages. Man habe sich gemeinsam engagiert und es sei wieder gelungen, unsere siebenbürgisch-sächsische Kultur und unsere Anliegen den Politikern nahe zu bringen. Auch das sei gelungene Integration. In seinem Schlusswort dankte Dürr allen, die den Heimattag vorbereitet und mit großem Erfolg über die Bühne gebracht haben.

Siegbert Bruss

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