23. Juni 2004

Die Herkunft des neuen Bundespräsidenten Horst Köhler

Nachdem Professor Horst Köhler am 23. Mai zum Bundespräsidenten gewählt wurde und am 1. Juli sein Amt als erster Mann im Staat antritt, haben die Bundesbürger den Anspruch, über dessen Abstammung genauer informiert zu werden. In bundesdeutschen Medien kursieren infolge mangelnder Kenntnisse und oberflächlicher Dokumentation über Osteuropa und die ehemals in diesem Raum beheimateten Deutschen zum Teil haarsträubende Angaben über die Herkunft Horst Köhlers. Der Historiker Dr. Michael Kroner liefert einen Beitrag zur Klärung der geschichtlichen Zusammenhänge.
Einen mehr als peinlichen Fauxpas leistete sich beispielsweise Harald Baumer in einem Artikel „Weder Rambo noch ein Zeremonienmeister. Unionskandidat Horst Köhler will als Bundespräsident neue Wege beschreiten“, erschienen in den „Nürnberger Nachrichten“ vom 20./21. Mai 2004, Seite 4. Darin heißt es abschließend: „Horst Köhler stammt aus einer Bauernfamilie aus dem heutigen Moldawien, die von den Nazis Anfang der 40er Jahre dort zur Germanisierung angesiedelt worden war.“ Dabei hat Köhler die Öffentlichkeit über seine Herkunft aufgeklärt: Seine Eltern stammen aus Bessarabien, und er ist in Polen geboren, von wo die Familie nach Deutschland flüchtete. In seinem demnächst erscheinenden Buch schreibt Köhler, er habe bei einem Besuch in der sächsischen Stadt Markkleeberg eine interessante Entdeckung gemacht: „Im Taufbuch der dortigen Kirche ist St. Pölten als mein Geburtsort eingetragen.“ Aus Unkenntnis der geschichtlichen Zusammenhänge, die zugegeben nicht einfach sind, scheint man diese Angaben jedoch nicht nachvollziehen zu können, so dass weiterhin Konfusionen bestehen. Daher dieser klärende Beitrag.

Die Eltern Köhlers stammen aus Bessarabien, der heutigen Republik Moldau (Moldawien). Diese einst zum rumänischen Fürstentum Moldau gehörende Provinz wurde 1812 vom zaristischen Rußland annektiert und erhielt den Namen Bessarabien. Zar Alexander rief in das dünnbesiedelte Gebiet deutsche Siedler, die sich hauptsächlich in dem Jahrzehnt von 1814 bis 1824 dort niederließen. Sie kamen aus Süddeutschland, aber auch aus Mecklenburg, Pommern und dem Großherzogtum Warschau und gründeten in Bessarabien eine Vielzahl deutscher Dörfer. Das Werbemanifest des Zaren gewährte den Siedlern freies Land, Religionsfreiheit, Befreiung vom Militärdienst und zehn Jahre Steuerfreiheit.

Zu diesen Siedlern dürften auch die Vorfahren von Horst Köhler gehört haben, die im nördlichen Teil Bessarabien in Ryschkanowka (Kreis Beiz) beheimatet waren.

Die zu 94 % der evangelischen Kirche angehörenden Bessarabien- bzw. Russlanddeutschen besaßen eigene deutsche Kirchen und Schulen in jeder Gemeinde sowie zwei Gymnasien und eine Lehrerbildungsanstalt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch für die Bessarabiendeutschen die Miltärpflicht eingeführt, und sie waren einer verstärkten Russifizierungspolitik ausgesetzt.

Als im Jahre 1918 das zaristische Russland zerfiel, erklärte die mehrheitlich von Rumänen bewohnte Provinz Bessarabien deren Anschluss an das als Mutterland betrachtete Rumänien. Im Jahr 1919 stimmten auch die Bessarabiendeutschen der Vereinigung mit Rumänien zu und wurden dadurch zugleich Rumäniendeutsche. Sie nahmen Verbindung zu den anderen deutschen Volksgruppen des nach 1918 entstandenen Großrumänien auf und arbeiteten auf verschiedenen Ebenen zusammen. Die evangelische Kirche der Bessarabiendeutschen schloss sich der evangelischen Landeskirche unter dem siebenbürgisch-sächsischen Bischof mit dem Sitz in Hermannstadt an. Politisch traten die rumäniendeutschen Volksgruppen als einheitliche nationale Minderheit auf. Das deutsche Schulwesen Bessarabiens erhielt starke Rückschläge, da in fast allen Volksschulen die rumänische Unterrichtssprache eingeführt wurde.

Die Sowjetunion hat den Anschluss Bessarabiens an Rumänien nie anerkannt. Als sich vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges das Deutsche Reich und die Sowjetunion in einem geheimen Zusatzprotokoll des „Nichtangriffspaktes“ vom 23. August 1939 Osteuropa in „Einflusssphären“ (das heißt zu annektierende Territorien) aufteilten, erklärte Deutschland sein „Desinteressment“ an Bessarabien, was im Klartext die Zustimmung zur Annexion bedeutete. Nachdem die Bündnispartner Rumäniens durch die Siege Deutschlands besetzt oder ausgeschaltet worden waren, nutzte die UdSSR mit reichsdeutscher Rückendeckung die Chance und forderte am 27. Juni 1940 durch ein an Rumänien gerichtetes Ultimatum die Rückgabe Bessarabiens. Das diplomatisch isolierte Rumänien hatte keine Chance, sich gegen eine sowjetische Besetzung Bessarabiens zu wehren, die nach Annahme des Ultimatums innerhalb weniger Tage erfolgte. Innerhalb der UdSSSR bildete Bessarabien eine Sowjetrepublik. Die Bassarabiendeutschen wurden demnach Sowjetbürger. Die Sowjetunion annektierte auch die Nordbukowina, die baltischen Länder und Gebiete Ostpolens. Deutschland hatte sich seinerseits nach dem Polenfeldzug in einem „vertraulichen Protokoll“ seitens der Sowjets die Zusicherung geben lassen, aus den von der Sowjetunion besetzten Gebieten, die dort lebenden sogenannten Volksdeutschen ins Deutsche Reich umzusiedeln. Es hieß im Protokoll wörtlich: „Die Regierung der UdSSR wird den in ihren Interessengebieten ansässigen Reichsangehörigen und anderen Personen deutscher Abstammung, sofern sie den Wunsch haben, nach Deutschland oder in deutsche Interessengebiete überzusiedeln, hierbei keine Schwierigkeiten in den Weg legen. Sie ist damit einverstanden, dass die Übersiedlung von Beauftragten der Reichsregierung im Einvernehmen mit den zuständigen örtlichen Behörden durchgeführt wird und daß dabei die Vermögensrechte der Auswanderer gewahrt bleiben“.

Auf Grund dieses und anderer Umsiedlungsabkommen erfolgte die so genannte Aktion „Heim ins Reich“, die zur Umsiedlung der Volksdeutschen aus den genannten und anderen Gebieten führte. Führer und Reichskanzler Adolf Hitler hatte am 6. Oktober 1940 in einer Rede vor dem Reichstag erklärt, die „nichthaltbaren Splitter des deutschen Volkstums“ in Ost- und Südosteuropa heim ins Reich zu holen. Sie sollten zur Eindeutschung der auf polnischem Gebiet geschaffenen Reichsgaue beitragen.

Die Umsiedlung der Bessarabiendeutschen erfolgte auf Grund eines Vertrages, den Deutschlands und die Sowjetunion am 5. September 1940 unterzeichneten. Die Umsiedlung sollte freiwillig erfolgen. Die Sowjets waren daher überrascht, dass praktisch alle Deutschen sich zum Wegziehen meldeten – das waren rund 93 000 Personen. Sie nutzten die Gelegenheit, um der kommunistischen Herrschaft zu entfliehen. Die Umsiedlung erfolgte mit Trecks und mit der Eisenbahn. Aufgrund von Umsiedlungsverträgen mit Rumänien wurden auch die Deutschen der Südbukowina und der Dobrudscha 1940 ins „Reich“ umgesiedelt.

Die Umsiedler wurden zunächst durch die Volksdeutsche Mittelstelle, welche für die Volksdeutschen zuständig war, in Aufnahmelagern im Deutschen Reich untergebracht. Zu ihrer Enttäuschung mussten sie feststellen, dass sie nicht etwa im deutschen Mutterland angesiedelt wurden, sondern die „Ostwürdigen“ unter ihnen, wie es im Naziamtsdeutsch hieß, in „neu erworbenem Land“, im Warthegau, in Westpreußen und in anderen Gebieten Höfe vertriebener, polnischer Bauern erhielten. So ist die Bauernfamilie Köhler ins polnische Skierbieszow (oder auch ins österreichische St. Pölten) gelangt, wo ihr Sohn Horst am 22. Februar 1943 geboren wurde.

Waren die Eltern Horst Köhlers Rumäniendeutsche, wie in den Medien allgemein behauptet wird? Das trifft nur bedingt zu, sie wurden nämlich vor 1918, also in dem noch zu Rußland gehörenden Bessarabien geboren und als sie umgesiedelt wurden, gehörte Bessarabien bereits zur Sowjetunion. Sie haben aber von 1918 bis 1940 in Rumänien gelebt.

Als 1944 die Rote Armee in Polen vordrang, mussten die Neusiedler natürlich flüchten. Sie bildeten einen Teil des großen Flüchtlingszugs der Ostdeutschen. Die Köhlers gelangten nach Markkleeberg-Zöbiker bei Leipzig, wo sie bis 1953 lebten. Dann flohen sie ein zweites Mal vor der kommunistischen Diktatur über Westberlin in die Bundesrepublik und fanden nach Aufenthalten in verschiedenen Flüchtlingslagern in Ludwigsburg eine neue Heimat. Über die weitere Biographie Köhlers gibt es keine Unklarheiten.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion trennte sich die Sowjetrepublik Moldau (Bessarabien) davon und konstituierte sich als unabhängige Republik Moldau (Moldawien). Zur Wiedervereinigung mit Rumänien kam es nicht, da es im Land außer der nach wie vor rumänischen Mehrheitsbevölkerung starke russische, ukrainische und gagausische Minderheiten gibt, die sich dagegen sträubten und von der Ukraine und Russland unterstützt wurden.
Mit Professor Horst Köhler wurde erstmals ein Bundespräsident gewählt, der einer ostdeutschen Flüchtlingsfamilie angehört. Er hat wiederholte Male dankend erklärt, Deutschland habe ihm viel gegeben und er wolle seiner Heimat, die er liebt, das zurückgeben.

Dr. Michael Kroner



Wer sich eingehender über „Die Deutschen Rumäniens im 20. Jahrhundert“, einschließlich die Bessarabiendeutschen, informieren möchte, kann die gleichnamige Broschüre von Dr. Michael Kroner bei der Österreichischen Landsmannschaft, Fuhrmannsgasse 18 a, A-1080 Wien, Telefon: (00 43) 1 – 40 22 882, E-Mail: info@oelm.at, zum Preis von 7,40 Euro plus Porto bestellen.

Bewerten:

7 Bewertungen: +

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.