17. Februar 2005

Mit Würde und Zuversicht der Deportation gedacht

"Würdig und der Zukunft zugewandt", so äußerte sich ein Teilnehmer über die beiden großen Gedenkveranstaltungen aus Anlass der Deportation von Deutschen aus Rumänien zu langjähriger Zwangsarbeit in die damalige Sowjetunion vor 60 Jahren, im Januar 1945. Dabei gab es ein lokales Novum: Die Kreisgruppe Nürnberg-Fürth-Erlangen der siebenbürgischen Landsmannschaft veranstaltete erstmals mit den Banater Freunden groß angelegte Gedenkstunden am Samstag, dem 22. Januar, im Aufseß-Saal des Germanischen National Museums Nürnberg. Der Historiker Günter Klein hielt einen überzeugenden Vortrag über die Verschleppung und präsentierte dabei Stalins Deportationsbefehl.
Mit einem treffenden Wort von Dr. Wilhelm Wolf, langjähriger Ministerialbeauftragter für die Gymnasien in Mittelfranken: „Wer diese Zeit nicht selbst erlebt hat, wird sie nie verstehen, wer sie selbst erlebt hat, wird sie nie vergessen“, begrüßte die neue Kreisvorsitzende Inge Alzner zahlreiche Landsleute aus Siebenbürgen und dem Banat, unter ihnen viele ehemalige Deportierte sowie die Ehrengäste. Sie umriss das Ziel dieser Veranstaltung: „Wir sind heute hier, um uns zu erinnern, um zu erinnern, um zu gedenken. Zu gedenken an den Tiefpunkt siebenbürgisch-sächsischer Geschichte vor 60 Jahren am Ende der teuflischen NS-Diktatur und des von ihr angezettelten unseligen Zweiten Weltkrieges ... der Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion 1945.“ Dieser Tiefpunkt habe den unumkehrbaren Niedergang der aktiven Präsenz der Deutschen in Rumänien eingeleitet. Erinnerung müsse sein, betonte Inge Alzner, weil wir nicht vergessen dürfen, dass das Verbrechen der Deportation, der Vertreibung von Menschen bis heute nicht ausgerottet sei, aber Erinnerung müsse auch sein, „weil wir nicht vergessen dürfen, dass wir nach schwerem Leid und schwerem Unrecht in der ursprünglichen Heimat hier im Westen eine echte Chance bekommen haben. Eine Chance mit neuen Perspektiven.“

In einer Gedenkminute wurde an die Opfer der Deportation in der Sowjetunion, in der siebenbürgischen oder Banater Heimat, die Opfer von nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur, die Opfer des Holocaust, die Opfer von Krieg, Gewalt und Unrecht erinnert und ihnen die Ehre erwiesen. Inge Alzner machte deutlich, dass die Deportation 1945 uns als Erinnerung und Mahnung, als Vermächtnis einer schweren Prüfung bleibe, deren wir „heute gedenken ohne aufzurechnen“.

Helmine Buchsbaum, Kreisvorsitzende der Landsmannschaft der Banater Schwaben und Nürnberger Stadträtin, betonte in ihrer Begrüßung die Notwendigkeit des offenherzigen Erinnerns an das tiefe Leid der Deportierten und deren Angehörigen sowohl während der Deportation in die Sowjetunion als auch während der Deportation der Banater Schwaben Anfang der 50er Jahre in den Baragan. Michael Kaiser, CSU-Geschäftsführer im Nürnberger Rathaus, abstammungsmäßig Oberschlesier und Leiter des örtlichen Garnisonsmuseums, sprach ein Grußwort in Vertretung von Bürgermeister Dr. Klemens Gsell. Er betonte die Notwendigkeit und die Chance besonders im geschichtsträchtigen Gedenkjahr 2005, 60 Jahre nach Kriegsende, auf das Unrecht und das große Leid auch der deutschen Vertriebenen und Deportierten in der deutschen Öffentlichkeit aufmerksam zu machen, die Vielschichtigkeit der Geschichte wahrzunehmen und jede Art von Kollektivschuld als unhistorisch, unvernünftig und unmenschlich abzulehnen.



Der Historiker Günter Klein während seines Vortrages in Nürnberg. Foto: Doris Hutter
Der Historiker Günter Klein während seines Vortrages in Nürnberg. Foto: Doris Hutter
Günter Klein (Freiburg), kompetenter Nachwuchshistoriker, vereinte in seiner Person Komponenten, die sich für diese Veranstaltung als ideal erwiesen: Sein Vater Michael Klein war langjähriger politisch unerschrockener nordsiebenbürgischer Lehrer in Bistritz, seine Mutter Elisabeth Klein, Banater Schwäbin, 1945 in die Sowjetunion deportiert, war nachher jahrzehntelang „Lehrerurgestein“ ebenfalls in Bistritz. Günter Klein zog das Publikum mit seinen präzisen, klaren, auf einer gesicherten dokumentarischen Grundlage fußenden Ausführungen in seinen Bann. Er ging auf die Gründe der Deportation ein und verdeutlichte das Gesagte anhand zweier Beispiele: seiner Mutter und seines Onkels, die jahrelang deportiert waren. Seine Ausführungen unter dem Titel „Die Gründe für die Deportation. Ein Resümee“ belegten präzise auf der Grundlage des neuesten Forschungsstandes, was letztendlich ausschlaggebend für die Deportation 1945 war. Die These, die Deportation sei eine Strafe für die Kollaboration der deutschen Minderheiten in Südost- bzw. Mitteleuropa mit den deutschen Okkupanten gewesen, verwarf er, weil Rumänien zwischen September 1940 und August 1944 zu keinem Zeitpunkt ein von den Deutschen besetztes Land gewesen sei und die zweifellose Kollaboration der Deutschen Volksgruppe in Rumänien mit dem NS-Regime nicht anders einzuschätzen sei als diejenige des rumänischen Regimes des Militärdiktators Antonescu. Ebenso sei die Deportation keine Strafe für jene gewesen, die Angehörige in der Waffen-SS hatten, denn deportiert wurden auch jene, deren Brüder und Väter in der königlich-rumänischen Armee dienten, ja sogar auch jene, deren Angehörige als Soldaten der rumänischen Armee nach dem 23. August 1944 den Kampf an der Seite der Alliierten gegen das Dritte Reich fortsetzten. Selbst diese Soldaten, die stets loyal zum rumänischen Staat standen, wurden im Januar 1945 zu einem Großteil deportiert. Selbst jene Deutschen wurden nicht verschont, die man in keiner Weise beschuldigen konnte, mit den Nazis zusammengearbeitet zu haben, nämlich Sozialdemokraten und Kommunisten. „Im Januar 1945 zählten ihre Verdienste als Antifaschisten nicht mehr. Es zählte nur noch ihre Nationalität.“ Günter Klein zitierte einen prägnanten Satz des amerikanischen Historikers Norman N. Naimark: „Entscheidend war die ethnische Zugehörigkeit und nicht ihre Staatsbürgerschaft, ebensowenig die Frage, ob sie gute oder schlechte Deutsche waren, Faschisten oder Antifaschisten.“ Anschließend präsentierte Günter Klein das Schlüsseldokument, den Deportationsbefehl Stalins vom 16. Dezember 1944, wo lapidar befohlen wird: „Mobilisierung und Internierung aller arbeitsfähigen deutschen (russ. lic nemeckoj nacional´nosti) Männer im Alter von 17-45, Frauen im Alter von 18-30, die sich auf den von der Roten Armee befreiten Territorien Rumäniens, Jugoslawiens, Ungarns, Bulgariens und der Tschechoslowakei befinden, um sie zur Arbeit in die UdSSR zu transportieren.“ Dieser Befehl sei so geheim gewesen, dass neben Stalin nur fünf Personen aus der Sowjetführung seinen gesamten Wortlaut kannten (Molotov, Berija, Voznesenskij, Bulganin und Cadaev). Selbst die Frontkommandeure der 2., 3. und 4. Ukrainischen Front (allesamt Marschälle der Sowjetunion), in deren rückwärtigen Heeresgebieten die Deportation stattfand, kannten nur jene Teile des Befehls, die sie betrafen. Aus den bisher bekannten sowjetischen Quellen gehe jedenfalls klar hervor, dass die Sowjets von Anfang an darauf bestanden, dass es sich bei den Deportierten um Personen deutscher Nationalität handele. Der von den Deportierten häufig geäußerte Verdacht, der rumänische Staat habe sie als Sündenböcke vorgeschoben, um die Deportation von Personen rumänischer Nationalität zu verhindern, wird von den sowjetischen Dokumenten nicht erhärtet. Endgültig klären ließe sich diese Frage aber erst, fügte Günter Klein hinzu, wenn auch die Protokolle der rumänisch-sowjetischen Waffenstillstandsverhandlungen vom September 1944 bzw. die Protokolle der Sitzungen des rumänischen Ministerrats vom Januar 1945 nicht mehr unter Verschluss sind.

Die Sowjetunion wollte deutsche Zwangsarbeiter in die Sowjetunion, damit diese dort Reparationsarbeiten leisten. Ob der Einzelne etwas für diese Schäden konnte, wurde nicht berücksichtigt. Die Deutschen aus Rumänien waren also die ersten Deutschen, die in den Machtbereich der Sowjets gerieten und für die ungeheueren Verbrechen büßen mussten, die Nazis auf dem Gebiet der Sowjetunion begangen hatten. Dabei wurde eine nationale Minderheit kollektiv bestraft, für Verbrechen, die anderen zuzuschreiben waren. Diese Aktion war auch laut Klein, gemessen an den Grundsätzen des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg ein Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gegen die Menschlichkeit. „Um nicht missverstanden zu werden: Die Deportation von Personen deutscher Nationalität zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion vermindert keineswegs die ungeheueren Verbrechen, die das NS-Regime in den besetzten Gebieten der UdSSR begangen hat. Mir ist auch durchaus klar, dass die Deportationen, die von den Nazis durchgeführt wurden, eine ganz andere Dimension hatten, wenn man bedenkt, dass letztendlich ca. 4 Millionen Zwangsarbeiter in den Machtbereich des Dritten Reiches verschleppt wurden. Ich bin jedoch der Meinung, dass im Falle der Zwangsarbeit Humanität und Menschenwürde nicht teilbar sind. Wer auf der einen Seite Verbrechen gegen die Menschlichkeit anprangert, auf der anderen Seite aber absolut ähnlich geartete Verbrechen verschweigt oder einfach ignoriert, wirkt unglaubwürdig. Den Tod von ca. 20 000 Menschen betrachte ich nicht als Quantité négligeable.“

Zum Umfang der Deportation stellte Günter Klein fest: „Aus dem Abschlussbericht vom 22. Februar 1945, den der Chef des NKVD, Lavrentij Pavlovic Berija, Stalin vorlegte, wurden im Zeitraum 25. Dezember 1944 bis 31. Januar 1945 112480 Personen deutscher Nationalität mobilisiert, interniert und zur Arbeit in die UdSSR verschickt, darunter 61375 Männer und 51105 Frauen. 69332 Deportierte stammten aus Rumänien (36590 Männer und 32742 Frauen). Von diesen seien ca. 15-20 Prozent in den sowjetischen Zwangsarbeiterlagern umgekommen. Die ehemaligen Zwangsarbeiter in der Sowjetunion möchten, betonte Günter Klein, dass die Öffentlichkeit von ihrer Existenz Kenntnis nimmt und ihre Demütigung und Erniedrigung, ihr Leiden nicht gering geschätzt wird.

Nach dem wissenschaftlichen Vortrag las Helmine Buchsbaum aus einem Tagebuch von Hans Eipert, einem 1945 aus Orczydorf im Banat Deportierten. Vom Zusammentreiben über das Verladen und Umladen, von der Ankunft und dem leidvollen Alltag im Lager 1001 Makeewka, von dem Gemeinschaftsgefühl („es ist immer ein Stückchen Heimat, wenn wir abends zusammenkommen“) bis hin zur Rückkehr im November 1949 machten die Deportierten traumatische Erfahrungen voller Angst, Trauer, Scham, Verzweiflung, Bitterkeit und ganz besonders Hunger und Tod, erlebten aber auch Mut, Liebe, Glaube, Zusammenhalt, Lebenswille und Zuversicht.

Der anschließend gezeigte Film von Günter Czernetzky „Sklaven unter Hitler und Stalin“ (BR 1993) stellt die Deportation in den Zusammenhang der Existenz zweier Diktaturen und lässt sowohl nach Deutschland zur Zwangsarbeit deportierte Sowjetbürger als auch in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit deportierte Deutsche als wichtige Zeitzeugen, zum Teil an den Orten des Geschehens, zu Wort kommen. Zu diesem sehr aufschlussreichen Film des siebenbürgischen Regisseurs passen die Worte des russischen Historikers Pavel Polian, der das Standardwerk über die Zwangsmigration auf dem Gebiet der UdSSR verfasst hat. Er spricht von so genannten deutschen „Westarbeitern“, die gewissermaßen als „spiegelverkehrte“ Brüder und Schwestern der sowjetischen „Ostarbeiter“ betrachtet werden können: „Stalin hat die Rechte und Freiheiten dieser Menschen genauso mit Füßen getreten wie Hitler die der unglückseligen und weitaus zahlreicheren Ostarbeiter: Hier wie dort wurden Deportationen durchgeführt, es herrschten der gleiche Zwang, die gleiche Rechtlosigkeit und Demütigung, die gleiche anormale Sterblichkeit.“

Mit dem klugen Wort von Albert Einstein: „Wichtig ist, dass wir nicht aufhören zu fragen“, begann Horst Göbbel das aussagekräftige und mit großer innerer Anteilnahme aufgenommene Podiumsgespräch mit vier Zeitzeugen: Margarete Adam und Franziska Cocron aus dem Banat sowie Otto und Rosa Müll aus Siebenbürgen. Dabei zeigte sich wieder einmal, dass für jedwelche unselige Politik die Kleinen, die Unschuldigen büßen mussten und müssen. Völlig gleichgültig, ob sie Armenier, Polen, Juden, Russen, Schlesier, Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, Palästinenser usw. sind. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde ging es um Aushebung und Transport, Lagerleben, um Bedrückendes und Hoffnungverleihendes, die Rolle des Glaubens in tiefem Leid, um den Kontakt nach Hause, die Rückkehr und die Einschätzung der Deportation und des heutigen Gedenkens daran. Dabei wurde klargestellt, dass „Verstecken und Verbergen vor dem Zugriff nichts geholfen hat“, dafür jedoch die Freundschaft mit den Sachsen viel wert war (Franziska Cocron), wo die Ursachen für dieses Leid lagen (Otto Müll: „Für mich sah es so aus: Was meine Brüder hier zerstört haben, das muss ich wieder aufbauen“), ebenso, dass viele russischen Offiziere sich korrekt verhalten hätten, dass man bei der Arbeit nicht verschont wurde, „das Ungeziefer, die Läuse, die Wanzen bedrückend waren“ (Rosa Müll), dass „der Glaube, standzuhalten und wieder heimzukehren“ (Margarete Adam), Kraft verlieh, dass dieses Geschehen für nicht Beteiligte nicht zu verstehen sei, jedoch nicht vergessen werden dürfe. Die vier Zeitzeugen betonten, dass sie im Rückblick keinerlei Hass verspürten, auch wenn es bitter war. „Vergessen nie, vergeben ja“, fasste Franziska Cocron zusammen. In der offenherzigen Diskussion wiesen Redner aus dem Publikum u.a. auf die Notwendigkeit des größeren Augenmerks auch auf das immense Leid der Daheimgebliebenen (Michael Trein) sowie des Wachhaltens des Gedenkens auch bei der Enkelgeneration (Lore Hofgräff) hin. Ebenso wurde nochmals verdeutlicht, die „Russen waren nicht unsere Feinde. Sie haben genau so den Frieden gewollt wie wir“. Mit dem Zitat „Diktaturen sind Einbahnstraßen. In Demokratien herrscht Gegenverkehr“ von Alberto Moravia beendete Horst Göbbel die Zeitzeugengespräche. Die Siebenbürger Blaskapelle Nürnberg e.V. diesmal unter Leitung von Michael Bielz rahmte musikalisch einrucksvoll die Veranstaltung mit zwei angemessenen Weisen ein, der Banater Marienchor unter Willibald Baumeister sang Lieder, die zum Teil in der Deportation entstanden sind.

Gedenken in St. Sebald

Mit dem Martin Luther-Wort „Gott ist dann am allernächsten, wenn er am weitesten entfernt scheint“, begrüßte Kreisvorsitzende Inge Alzner die große Gedenkgemeinde in der den Siebenbürger Sachsen nun schon vertrauten Sebalduskirche in der Nürnberger Altstadtr. Dieses Wort gelte den in bittere Not gelangten Überlebenden der Flutwellen-Katastrophe im Indischen Ozean vor knapp einem Monat ebenso wie den tausenden Menschen, die durch das Verbrechen der Deportation in die Sowjetunion im Januar 1945 in Mitleidenschaft geraten seien. Zu gedenken sei zudem allen vorangegangenen Opfern des unheilvollen Krieges, der von Deutschland 1939 ausgegangen war, und konkret den Opfern der zerstörerischen Bombennacht vom 2. Januar 1945, als St. Sebald mit der gesamten Nürnberger Altstadt dem Boden gleich gemacht wurde. Das alte jüdische Sprichwort „Erinnerung ist das Geheimnis der Befreiung“ zitierend, hob Inge Alzner hervor, dass uns die Erinnerung frei mache, andere, bessere Wege zu gehen, Wege der Versöhnung, der Hoffnung, des Vertrauens – alle mit Gottes Wegbegleitung.

Pfarrer Hans Rehner, dessen bemerkens- und zugleich bedenkenswerte Predigt zu diesem Anlass entscheidend zu seiner Nachhaltigkeit führte, ging von Römer 8, 31-39 aus. Hier wird die Richtung schon zu Beginn klargestellt: „Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? ... Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?“ Ob vor 60 Jahren die in die Deportation beförderten Eltern, Großeltern, Geschwister, Kinder von Deutschen aus Rumänien sich dessen bewusst gewesen seien, mag man verneinen, denn alle Betroffenen konnten damals vor lauter Angst und Verzweifelung und Ungewissheit wohl keinen richtigen Gedanken mehr fassen und klammerten sich eher mit aller Kraft an den letzten Funken Hoffnung, die sie noch hatten, und beteten im Stillen zu Gott: Hoffentlich kann ich das durchstehen und komme bald wieder nach Hause. Aus vielen Erlebnisberichten von Betroffenen, betonte Pfarrer Rehner, könne man lesen, was auch bei der Veranstaltung im Germanischen Nationalmuseum geäußert wurde: „Allein der Glaube hat uns geholfen, dass wir diese schwere, bittere Zeit durchstehen konnten.“ In diesen Zeiten der Angst, der Unsicherheit, der Bedrohung, der Einsamkeit, der Gefahr der Not oder der direkten Konfrontation mit dem Tod, da fürchten wir verloren zu gehen, da suchen wir die Nähe anderer, die uns wichtig sind, denen wir vertrauen, mit denen das Leben uns zusammengeführt hat und die uns Halt geben. „Im Lager war jeder für jeden da, umso mehr, wenn man Freunde hatte.“ Auch das sei am Vortag gesagt worden: „Wer diese Zeit nicht erlebt hat, der wird sie nie verstehen, und wer sie erlebt hat, der wird sie nie vergessen!“, ein Satz, der sich ihm tief eingeprägt habe. Darüber hinaus würden wir uns wirklich fragen: „Was hält uns denn sonst, wenn wir den Boden unter den Füßen verlieren? Wenn sich das, was wir bis- her gelebt haben, als nicht tragfähig erweist? Wer oder was hält, wenn Angst und Schmerz so groß werden, dass man nicht mehr für sich selbst stark sein kann? Wer oder was hält zuletzt, wenn die Ahnung hervorkommt, das eigene Leben könne dem Ende zugehen, es könne verlöschen?“ Es gäbe Zeiten und Augenblicke, in denen wir uns nicht mehr selber halten können, in denen wir darauf angewiesen sind, dass jemand da ist, der uns Kraft gibt, der uns stützt, uns vielleicht sogar durchträgt durch eine besonders schwere Wegstrecke. Es müsste etwas halten, das nicht aus uns selbst kommt. Es müsste von anderer Seite sich jemand oder etwas ganz stark für uns machen. Von eben dieser Erfahrung erzählen Menschen, die auch im Zusammenhang mit der Deportation vor 60 Jahren furchtbare Not und Angst durchgemacht haben. Nur der Glaube habe uns die Hoffnung erhalten, dass wir nicht elend zugrunde gehen. Diesen Glauben haben unsere Landsleute auf verschiedene Weise gelebt auch in schwierigen Zeit der Deportation auf Zwangsarbeit. Vielleicht bei einer stillen Andacht um ein kleines Kerzenlicht. Vielleicht indem sie dem Nächsten ein Stück Brot oder ein Glas Wasser gaben. Im Hungerwinter 1946/47 hatten Kronstädter Deportierten das selbst verfasste „Christi-Geburt-Spiel“ im Donbass aufgeführt. Viele stille Gebete und Seufzer habe man abends im Bett zu seinem Gott emporgeschickt, sagte Pfarrer Rehner. Das alles seien Zeichen gelebten Glaubens in unbeschreiblich großer Not. Vielen sei dabei klar geworden: „Gott trägt uns. Gott hält! Gott ist da und hält uns über dem Abgrund.“ Sechzig Jahre würden wir daran gedenken, um die Erinnerung wach zu halten, um es der jüngeren Generation weiterzusagen, damit so etwas nie wieder geschehen könne. Pfarrer Rehner beendete seine einfühlsame Predigt mit einem klaren Dank an Gott, der auch vor 60 Jahren in schwieriger Zeit sehr präsent war: „Mögen auch wir Zeichen erleben, jeden Tag neu, Zeichen, die davon erzählen, wie sehr Gott für uns ist. Und wenn Gott für mich ist, dann können tausend gegen mich sein. Dann bin ich gehalten und geborgen und niemand wird mir schaden. Die Gemeinde schloss sich dem nahtlos an mit dem Choral „Nun danket alle Gott, mit Herzen Mund und Händen“.

Der Fürther Chor unter der Leitung von Reinhold Schneider gestaltete den Gedenkgottesdienst in St. Sebald mit. Foto: Horst Göbbel
Der Fürther Chor unter der Leitung von Reinhold Schneider gestaltete den Gedenkgottesdienst mit. Foto: Horst Göbbel

Die musikalische Begleitung des Gottesdienstes lag in den bewährten Händen des Sebalder Organisten Christoph Müller und des Fürther Chors unter der Leitung von Reinhold Schneider. Die vom Cor feierlich vorgetragenen Stücke „Ave Maria“ und der Choral „An die Freude“ reihten sich organisch in die Gedenkatmosphäre ebenso ein wie die aus diesem besonderen Anlass treffend gewählten und von der Gemeinde entsprechend kräftig gesungenen Lieder: „Gib uns Frieden jeden Tag“, „Von guten Mächten treu und still umgeben“, „Nun danket alle Gott“, „Bewahre uns Gott“ und zum Ausgang die musikalische Bitte „Verleih uns Frieden gnädiglich“

Die Schriftlesung (2 Korinther 8-11, 16-18) oblag diesmal einem der zahlreich anwesenden betroffenen Deportierten, Michael Binder, der auch ein passendes Wort des Gedenkens und der Hoffnung sprach, die Fürbitten trugen recht einfühlsam ebenfalls frühere Deportierte vor: Katharina Kirschner, Anna Schuller, Adele Morth für ihren Mann Michael Morth, Sara Wagner, damals zu den Jüngsten gehörend, heute zu den noch wenigen noch lebenden Zeitzeugen zählend.

In Anlehnung an ein Gedicht von Andrea Schwarz hob Horst Göbbel in seinen Worten des Gedenkens hervor, dass der Januar 1945 für tausende unserer Landsleute eine tiefgreifende Schnittstelle gewesen sei. Auch persönlich würden sich in unseren Einzelleben ständig Schnittstellen auftun. In solchen Situationen sei die richtige Begleitung ein Geschenk. Etwa das Bewusstsein von Gottesnähe. Die Autorin Andrea Schwarz bringe es folgendermaßen auf den Punkt:
Schnitt / stelle / Manchmal / muss ich loslassen / muss mich / schmerzhaft verabschieden / werde / in die Fremde gezwungen / damit Neues / Raum bekommt / der nächste Schritt / der weiter führt / Abschied / ist / Anfang / ist / Lust und Trauer / Sehnsucht und Schmerz / Abschied / und / Anfang / Schnittstellen menschlichen Lebens / Wunden in die sich das Leben einzeichnet.

Nach dem Vaterunser und Segen beendete die Gemeinde in Würde und Zuversicht die Gedenkstunde in der Sebalduskirche mit dem Lied: „Verleih uns Frieden gnädiglich“.

Horst Göbbel

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 3 vom 25. Februar 2005, Seite 3)

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