23. Mai 2005

Volker Dürr: Das Unrecht der Verschleppung offen zur Sprache gebracht

Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, Dipl. Ing. Arch. Volker E. Dürr, hat in einer Gedenkveranstaltung am Pfingstsamstag in Dinkelsbühl an die Deportation von 130 000 Deutschen aus Südosteuropa in die Sowjetunion erinnert. Das Jahr 1945 sei nicht nur das Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern auch der Beginn eines Leidensweges der Südostdeutschen gewesen: "Sie hatten kollektiv die Kriegsfolgen mit zu tragen und zu erdulden - weil sie Deutsche waren." Die Verschleppung gehöre zu den Ereignissen, die die Entwicklung der deutschen Minderheiten und das Identitätsbewusstsein ihrer Mitglieder bis in die Gegenwart geprägt habe, betonte Volker Dürr. Sinn und Zweck dieser Gedenkveranstaltung sei allerdings nicht die Erinnerung an Leid und Unrecht, sondern vielmehr die Mahnung an uns alle, "heute und auch in Zukunft alle einzelnen und gemeinschaftlichen Kräfte für Frieden und Menschlichkeit einzusetzen". Die Veranstaltung in der St. Paulskirche wurde von der Siebenbürgischen Kantorei unter der Leitung von Ilse Maria Reich mit hervorragend vorgetragenen Werken von Georg Friedrich Händel, Felix Meldelssohn-Bartholdy, Moritz Hauptmann, Hans Peter Türk und Horst Gehann mitgestaltet.
Wenn sehr lange Zeit über traumatische Erlebnisse geschwiegen wird, bedeutet das noch lange nicht, dass diese und auch die damit verbundenen Schmerzen durch Vergessen ausgelöscht sind. Es kommt die Zeit, in der diese Geschehnisse zur Sprache gebracht werden müssen, denn ohne eine klarsichtige, ehrliche Betrachtung der Vergangenheit ist keine verantwortungsbewusste Planung der Zukunft möglich. Lange Zeit wurde über das Leid nicht gesprochen, das Deutschen im Zweiten Weltkrieg widerfahren ist, denn sie wurden ausschließlich als Täter, nicht auch als Opfer jener Geschehnisse, gesehen.

In der Literatur, hier sei auf Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" verwiesen, im Fernsehen, vor allem Dank der Dokumentationsfilme von Guido Knopp, in der Presse unter anderem in einer Artikelserie des "Spiegel" und der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", kommen jene zu Wort, die durch die schrecklichen Folgen des Zweiten Weltkrieges durch Vertreibung, Flucht und Deportation grenzenloses Leid erfuhren. Besonders das Deportationsschicksal der Deutschen Südosteuropas sowie der Deutschen des ehemaligen Sowjetreiches wirkt noch bis in unsere Tage fort.

In der Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien vom 23. Dezember 2004 finden wir folgenden Bericht:
"In einem Dorf in Südsiebenbürgen, zwischen Alttal und Harbachtal gelegen, lebt Frau Elfriede B... Sie hat es im Leben nicht leicht gehabt. Der Vater war Landwirt und zog sechs Kinder groß. Die drei Brüder zogen in den Krieg, die drei Töchter, auch Elfriede, wurden im Januar 1945 nach Sowjetrussland deportiert. Anlässlich der Bodenreform vom März 1945 wurden Familie B. (wie auch den allermeisten ihrer Landsleute in Siebenbürgen und im Banat) Haus und Hof und Feld enteignet. Nach ihrer Rückkehr aus der Deportation arbeitete Elfriede (....) ein Leben lang (...). Heute leben sie und ihr Mann als Rentner in ihrer Heimatgemeinde und hoffen nun, in einem seit der Wende auch in Rumänien bis heute noch nicht entschiedenen Restitutionsverfahren wenn schon nicht den enteigneten Boden, so doch wenigstens eine kleine Entschädigung dafür zu erhalten." Ob sie das in ihrem betagten Leben in einem Dorf in Südsiebenbürgen in Rumänien noch erleben werden?

Die Deutschen des Donau- und Kapartenraumes Südosteuropas haben viele Jahrhunderte an dessen Geschichte mitgeschrieben, immer im Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung, jenem Impetus, der sie aus dem Mutterland, den deutschen Ländern, einstmals dort hingeführt hatte. Sie lebten in friedlichem Einvernehmen mit den benachbarten Völkerschaften.

Im Spiel der politischen Kräfte im vorletzten und letzten Jahrhundert wurde nicht nur das Mitspracherecht, sondern die Existenz schlechthin der Deutschen Gemeinschaften im Raum zwischen Tatra und Donau in Rumänien, in Ungarn und Jugoslawien gefährdet. Als Reflex darauf suchten sie Anlehnung und Bestätigung beim Mutterland - in falscher Zeit mit den schlimmsten Folgen.

Damit war die Selbständigkeit und die Freiheit dieser deutschen Gemeinschaften in Südosteuropa verloren. Auf Gedeih und Verderb waren sie schließlich den Entscheidungen der nationalsozialistischen Führung in Berlin unterworfen, zumal während des Krieges, und dann, als das besiegte Deutschland kapitulierte, dem Diktat der Sieger über das einstige Reich ausgeliefert.

Das Jahr 1945 war nicht nur das Ende des Zweiten Weltkrieges. Es war auch der Beginn eines Leidensweges der Südostdeutschen. Sie hatten kollektiv die Kriegsfolgen mit zu tragen und zu erdulden - weil sie Deutsche waren.

Die Flucht und die Vertreibung der Südostdeutschen, welche - wie bei den Nordsiebenbürgern, die in Trecks Richtung West zogen, - schon vor Kriegsende stattfand und nicht zuletzt die Deportation von ca. 130.000 Deutschen, davon 75.000 aus Rumänien, zur Zwangsarbeit in die UdSSR zwischen den Jahren 1945 und 1949, markieren das Ende der deutschen Siedlungsgruppen in Südosteuropa als lebendige, eigenständig agierende und sich selbst bestimmende Gemeinschaften. Die sich zunehmend manifestierende Ohnmacht und das Ausgeliefertsein an die Willkür menschenverachtender Regime gingen einher mit der Enteignung, dem Verlust des Vermögens und der Bürgerrechte für alle Deutschen. Die Folge davon war, neben dem Einbruch kultureller Tradition und Identität, der Verlust der inneren Bindung an die Heimat, in der man seit Jahrhunderten wurzelte.

Die Massenverschleppung von rund 500.000 Frauen und Männern aus den östlichen Gebieten des ehemaligen Deutschen Reiches, der ehemaligen Tschechoslowakei, aus den Baltischen Staaten, Rumänien, Ungarn, dem früheren Jugoslawien und Bulgarien zum Wiederaufbau der zerstörten sowjetischen Wirtschaft ist ein trauriges Kapitel mehr im Kontext des Zweiten Weltkrieges und seiner Folgen. Die Deportation, die Auslieferung zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion traf sämtliche deutschen Gruppen in Rumänien, Ungarn und im ehemaligen Jugoslawien in ihren regionalen Ausprägungen. Die Verschleppung gehört zu den Ereignissen, die nicht nur der Entwicklung der einzelnen deutschen Minderheiten in der Nachkriegszeit ihren Stempel aufgedrückt haben, sondern sie hat auch das Identitätsbewusstsein ihrer Mitglieder während der kommunistischen Epoche und bis in die Gegenwart mitgeformt.

1945 wurden die Südostdeutschen aus ihrem gewachsenen Umfeld, aus ihrem Familienkreis herausgerissen und in Güterzüge verfrachtet, die in die Arbeits- und Vernichtungslager Gulag ins eisige Sibirien führten. All das geschah, "bloß weil sie Deutsche waren". Dieses damals an ihnen begangene Unrecht und das von ihnen erlittene Leid begründeten die moralische Verpflichtung, die sich die Bundesrepublik Deutschland freiwillig im Artikel 116 des Grundgesetzes auferlegte: Die Aufnahme der Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler aus Südosteuropa als Staatsbürger, "bloß weil sie Deutsche sind".

Die später von den Landsmannschaften erstrittene Familienzusammenführung war notgedrungen der einzig mögliche und verantwortbare Weg in dieser Situation, zumal die nach dem Krieg in ihre Heimatländer Zurückgekehrten oder dort Verbliebenen dem Terror und den Verfolgungen eines menschenverachtenden und, ob nun offen oder verdeckt, zuvorderst gegen ihre Gruppenidentität gerichteten Systems ausgesetzt blieben.

Dazu muss man noch die moralischen Folgen der Deportation in Rechnung stellen - wie der ehemalige Chefredakteur der Siebenbürgischen Zeitung, Hannes Schuster, vor zehn Jahren anmerkte: "In den Lagern der Verschleppten hat es neben gegenseitiger Hilfeleistung, neben vielen Manifestationen menschlichter Solidarität auch Brotneid und sogar Verrat am Mitgefangenen gegeben. Die Berichte von Angehörigen der Erlebnisgeneration holen auch solche Verhaltensweisen immer wieder auch ans Tageslicht. Es ist sicher hart für die Betroffenen, wenn hier öffentlich darauf verwiesen wird, aber schamhaftes Verschweigen würde lediglich auch einer falschen Heroisierung jener Jahre Vorschub leisten. Zeiten der äußersten Brutalität, des Existenz bedrohenden Zwangs, in denen die Individuen einer Gruppe auf den Urinstinkt des nackten Überlebens zurückgeworfen werden, gehen nicht spurlos an der Gemeinschaft vorüber, und sei sie noch so fest gefügt gewesen. Dass sich Traumata vielfältigster Ursächlichkeit und Tiefe dann auch in den Folgejahren fortgesetzt haben, steht für jeden außer Frage, der sie bewusst erlebt hat. Zahlenmäßig mehr und mehr reduziert und von solchen Schlägen getroffen, hat die Gruppe dann auch den zunehmenden Verlust des Jahrhunderte alten Selbstverständnisses hinnehmen müssen. Geblieben sind tiefe Wunden und die Narben. Aber selbst bei angeschlagenem Leib und verletzter Seele (....) bleibt nur, (...) sich an neue Formen und Modalitäten des kollektiven Seins in einer sich wandelnden Welt zu versuchen. Vor allem aber immer wieder auch laut daran zu erinnern, dass Verbrechen, wie sie vor einem halben Jahrhundert stattgefunden haben und sich in einem Teil Europas noch vor wenigen Jahren ereignet haben, sich nie mehr wiederholen dürfen."

Es ist für keinen Menschen und erst recht für kein Volk leicht, in der Wahrheit zu leben; für Deutsche nach 1945 ist es besonders schwer gewesen.

Im Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor sechzig Jahren hat unser Bundespräsident Horst Köhler am 8. Mai 2005 im Deutschen Bundestag gesagt: "Wir Deutschen blicken mit Schrecken und Scham zurück auf den von Deutschland entfesselten zweiten Weltkrieg und auf den von Deutschen begangenen Zivilisationsbruch Holocaust". Er dankte den Völkern, die Deutschland vom Nationalsozialismus befreiten und den Deutschen nach dem Kriege eine Chance gaben und sagte weiter: "Wir trauern um alle Opfer, weil wir gerecht gegen alle Völker sein wollen, auch gegen unser eigenes."

Auch Versöhnung heilt nicht die Wunden, verdeckt nicht die Erinnerung an selbst erfahrenes Leid und verlorene Heimat. Aber haben nicht viele Menschen bewiesen, dass die Reaktion auf erlittenes Leid und auf verlorene Heimat dann den Aufbau einer neuen bedeutet? Sie, meine Damen und Herren, sind diejenigen, die ihre Heimat verloren und an dem Aufbau einer neuen Heimat entscheidend mitgewirkt und sich darüber hinaus für Versöhnung eingesetzt haben. Sie vermitteln Versöhnung, die die Erinnerung erhellt, die sonst von Ressentiments verdunkelt würde. Ihre Bereitschaft, die Vergangenheit zu ehren, indem man sie versteht und bewahrt, öffnet den Weg zu etwas Neuem, die Tür zu einem "gemeinsamen Haus", das für künftige Generationen Heimat werden könnte.

In diesem Sinne freuen wir uns, dass auch wir Siebenbürger Sachsen, neben den Banater und Sathmarer Schwaben, Donauschwaben und Deutschen aus Ungarn überall dort, wo wir leben, neue Heimat geschaffen haben, für unsere Nachkommen und für die neue kleine und große Gemeinschaft.

Nebenan, im Refektorium des evangelischen Gemeindehauses St. Paul, wird eine Dokumentations- und Kunstausstellung zur Deportation der Südostdeutschen in die Sowjetunion gezeigt; unter anderem ist auch das Weißbuch, das die Namenslisten von über 30 000 Siebenbürgern enthält, aufgelegt, das noch vervollständigt werden kann. Sinn und Zweck dieser Gedenkveranstaltung sollten wir jedoch nicht nur in der Erinnerung an gemeinsam ertragenes Leid der Betroffenen oder im Wachhalten eines Wissens um maßloses Unrecht sehen. Vielmehr sollte sie Mahnung an uns alle sein, heute und auch in Zukunft alle einzelnen und gemeinschaftlichen Kräfte für Frieden und Menschlichkeit einzusetzen.

Vor sechzig Jahren wurde der verbrecherischen Diktatur in Hitlerdeutschland von außen ein Ende gesetzt. Die überlebenden Opfer wurden befreit, der Terror fand aber leider nur in dem befreiten Teil Westdeutschlands ein Ende. Für die Südostdeutschen setzte sich das in Folge der nationalsozialistischen Barbarei begangene Unrecht in Vertreibung, Verschleppung, unmenschlicher Lagerhaft und Zwangsarbeit fort. Dennoch kann und darf Unrecht nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Nur die offene Auseinandersetzung mit diesem Kapitel deutscher Geschichte ist ein wirksamer Schutz gegen Verdrängen und Vergessen, ein Auftrag für uns, für Deutschland, für Europa.

Ich möchte schließen mit dem Gebet des einstigen Deportierten Peter Altenbach aus dem siebenbürgischen Blumental: "Wir wollen sogleich bitten Allmächtiger, bewahre unsere Kinder und alle Völker vor dem gleichen Schicksal, versöhne alle Völker und lass Frieden in der Welt sein."

Schlagwörter: Deportation, Dinkelsbühl, Volker Dürr

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