1. Juli 2006

Bundesverfassungsgericht hat über 40-Prozent-Kürzung entschieden: Übergangsregeln müssen her!

Laut Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe vom 30. Juni 2006 steht nun fest: Die 40-Prozent-Kürzung der Fremdrenten-Anwartschaften verletzt Betroffene insoweit in dem Grundrecht aus Artikel 2, Absatz 1, des Grundgesetzes, als diese auch für Berechtigte, die vor dem 1. Januar 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente nach dem 30. September 1996 beginnt, ohne eine Übergangsregelung für die zum damaligen Zeitpunkt rentennahen Jahrgänge zur Anwendung kommt.
Der Gesetzgeber ist nach dieser Entscheidung verpflichtet, bis zum 31. Dezember 2007 geeignete Übergangsregelungen zu schaffen. Laufende Verfahren bleiben so lange ausgesetzt. Fälle von Personen, die ihren Bescheid nicht angegriffen hatten, bleiben für Zeiten vor Bekanntgabe der Entscheidung davon ausgenommen, wenn der Gesetzgeber diese nicht freiwillig in die noch zu schaffenden Übergangsvorschriften einbezieht.

Die Pressemitteilung wird im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben:

„Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, bei der Berechnung der Renten von Aussiedlern und Spätaussiedlern die auf der Grundlage des Fremdrentengesetzes ermittelten Entgeltpunkte um 40 Prozent zu reduzieren. Es verstößt jedoch gegen das rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip, dass die Kürzung auf Berechtigte, die vor dem 1. Januar 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente nach dem 30. September 1996 beginnt, ohne eine Übergangsregelung für zu diesem Zeitpunkt rentennahe Jahrgänge zur Anwendung kommt. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts auf eine entsprechende Vorlage des Bundessozialgerichts.

Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2007 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Noch nicht rechts- oder bestandskräftig abgeschlossene Verfahren, in denen sich Berechtigte, die vor dem 1. Januar 1991 in die Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind und deren Rente nach dem 30. September 1996 begonnen hat, gegen die Absenkung der ihrer Rente zugrunde liegenden Entgeltpunkte wenden, bleiben ausgesetzt oder sind auszusetzen, um den Betroffenen die Möglichkeit zu erhalten, aus den vom Gesetzgeber zu treffenden Regelungen Nutzen zu ziehen. Bereits bestandskräftig gewordene Verwaltungsakte bleiben von der vorliegenden Entscheidung für die Zeit vor der Bekanntgabe unberührt. Es ist dem Gesetzgeber aber unbenommen, die Wirkung dieser Entscheidung auch auf bereits bestandskräftige Bescheide zu erstrecken; hierzu verpflichtet ist er nicht.

Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:

Das Fremdrentenrecht war von der Leitidee bestimmt, Vertriebene und Flüchtlinge in das Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland zu integrieren. Sie wurden rentenrechtlich nach dem Zuzug so behandelt, als ob sie ihre bisherige Erwerbstätigkeit unter der Geltung des Rentenversicherungsrechts der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt hätten. Den von den Vertriebenen in den Herkunftsländern zurückgelegten Versicherungszeiten wurden fiktive Bruttoarbeitsentgelte zugeordnet, für die dann - wie für originäre Versicherungszeiten in der Bundesrepublik Deutschland - Entgeltpunkte ermittelt werden. Die Versicherung eines Arbeitseinkommens in Höhe des Durchschnittsentgelts eines Kalenderjahres ergibt einen vollen Entgeltpunkt, aus dem der monatliche Rentenbetrag berechnet wird.

Der politische Wandel in den ehemaligen Ostblock-Staaten und die Wende in der DDR veranlassten den Gesetzeber, das Fremdrentenrecht neu zu regeln. Zunächst führte er 1991 einen Abschlag in Höhe von 30 Prozent auf die nach dem Fremdrentengesetz ermittelten Entgeltpunkte ein. Ausgenommen waren unter anderem Aussiedler, die vor 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland genommen haben. Im Jahr 1996 erhöhte der Gesetzgeber den Abschlag auf 40 Prozent und erweiterte den betroffenen Personenkreis durch Änderung der entsprechenden Übergangsregelung. Damit werden von dem Rentenabschlag grundsätzlich alle nach dem 6. Mai 1996 Zugezogenen und - unabhängig vom Datum des Zuzugs - alle nach dem Fremdrentengesetz Berechtigten mit einem Rentenbeginn ab 1. Oktober 1996 erfasst.

Die fünf Kläger der den Vorlagen zugrunde liegenden Ausgangsverfahren siedelten in der Zeit von Oktober 1973 bis August 1990 in die Bundesrepublik Deutschland über. Frühestens ab Oktober 1996 wurde ihnen eine Rente bewilligt. In allen Fällen wurden die nach dem Fremdrentenrecht ermittelten Entgeltpunkte um 40 Prozent gekürzt.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Die in § 22 Abs. 4 FRG 1996 vorgeschriebene Reduzierung der Entgeltpunkte um 40 Prozent ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
1. Die Regelung ist nicht an Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsschutz) zu messen. Die durch das Fremdrentengesetz begründete Rentenanwartschaft unterliegt nicht dem Eigentumsschutz, wenn ihr ausschließlich Beitrags- und Beschäftigungszeiten zugrunde liegen, die in den Herkunftsgebieten erbracht oder zurückgelegt wurden. Denn insoweit fehlt es am Erfordernis der an einen Versicherungsträger in der Bundesrepublik Deutschland erbrachten Eigenleistung.
2. Selbst wenn man die Rentenanwartschaft der Berechtigten, die auf rentenrechtlichen Zeiten sowohl in den Herkunftsgebieten als auch in der Bundesrepublik Deutschland beruht, als Gesamtrechtsposition insgesamt dem Art. 14 Abs. 1 GG unterstellen würde, hätte der Gesetzgeber durch § 22 Abs. 4 FRG 1996 von seiner Befugnis zur Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums einen verfassungsgemäßen Gebrauch gemacht.
Der in der gesetzlichen Regelung liegende Eingriff ist durch Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt. Die wirtschaftliche Situation der Rentenversicherungsträger war in der ersten Hälfte der 1990er Jahre durch einen massiven Anstieg der Ausgaben gekennzeichnet, denen ein ausreichendes Beitragsaufkommen nicht gegenüberstand. Die in Frage stehende Regelung diente dazu, durch Begrenzung des Ausgabevolumens die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung zu erhalten, zu verbessern und den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen.
§ 22 Abs. 4 FRG 1996 ist auch verhältnismäßig. Ist es zur Sicherung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung geboten, rentenrechtliche Positionen zu verändern, so kann der soziale Bezug, der dem Gesetzgeber größere Gestaltungsfreiheit bei Eingriffen gibt, den Gesetzgeber legitimieren, in Abwägung zwischen Leistungen an Versicherte und Belastungen der Solidargemeinschaft vor allem jene Positionen zu verkürzen, die Ausdruck besonderer Vergünstigungen sind. Dies ist hier in Bezug auf die Anwartschaftsteile der Fall, denen Beitrags- und Beschäftigungszeiten außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland zugrunde liegen. Denn diesen Anwartschaften stehen Beitragsleistungen zu Gunsten der versicherungsrechtlichen Solidargemeinschaft nicht gegenüber.
3. Auch Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz) ist nicht verletzt. Soweit die nach dem Fremdrentengesetz Berechtigten anders als diejenigen behandelt werden, die Anwartschaften im sozialen Sicherungssystem der DDR erworben hatten, ergibt sich die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung daraus, dass die beiden deutschen Staaten eine Einheit auch auf dem Gebiet der Sozialversicherung angestrebt und vereinbart haben.

II. Es ist jedoch mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzip unvereinbar, dass § 22 Abs. 4 FRG 1996 auf Berechtigte, die vor dem 1. Januar 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente nach dem 30. September 1996 beginnt, ohne eine Übergangsregelung für zu diesem Zeitpunkte rentennahe Jahrgänge zur Anwendung kommt.
1. Die getroffene Übergangsregelung, die auch Berechtigte, die bereits vor dem 1. Januar 1991 zugezogen sind, von der Kürzung nicht ausnimmt, wird grundsätzlich den Anforderungen des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes gerecht. Die Betroffenen durften nicht damit rechnen, dass sie über die gesamte Zeit ihres Versicherungsverhältnisses bis zum Beginn der Rente nicht mehr von Kürzungen betroffen sein würden. Ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, dass allein die nach dem 1. Januar 1991 in die Bundesrepublik zugezogenen, nach dem Fremdrentengesetz Berechtigten die Last der Sanierung der Rentenversicherungsträger auf Dauer zu tragen hätten, besteht nicht.
2. Der Gesetzgeber war jedoch unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzips gehalten, auf die legitimen Interessen der rentennahen Jahrgänge durch Erlass einer Übergangsregelung Rücksicht zu nehmen, die eine auf Rentenzugänge ab dem 1. Oktober 1996 ohne Einschränkung sofort wirksame Anwendung des § 22 Abs. 4 FRG 1996 verhindert. Eine solche Regelung hätte es den Betroffenen ermöglicht, sich auf die neue Rechtslage in angemessener Zeit einzustellen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, § 22 Abs. 4 FRG 1996 auf alle Rentenzugänge nach dem 30. September 1996 anzuwenden, hat die rentennahen Jahrgänge zu kurzfristig mit einer neuen, ihre Anwartschaften erheblich verschlechternden Rechtslage konfrontiert. Bei einer schrittweisen Anwendung des Abschlags auf die Entgeltpunkte wäre es den Betroffenen möglich gewesen, von mittel- und langfristig wirkenden finanziellen Dispositionen abzusehen oder diese der verringerten Rente anzupassen.“

Link:

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Wortlaut

Schlagwörter: Politik, Rente, Rechtsfragen

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