14. Mai 2010

Nachruf auf Friedrich von Bömches: Das unübersehbare Werk harrt der Entschlüsselung

„Das moralische und künstlerische Markenzeichen dieses am 27. November 1916 in Kronstadt, Siebenbürgen, geborenen und am 2. Mai 2010 in Wiehl im Oberbergischen Land verstorbenen Zeichners und Malers war die Komprompromisslosigkeit. So wie Friedrich von Bömches im Jahr 1958 den Mut besaß, sich mit seinem großformatigen Ölgemälde „1907“ – gemeint war der rumänische Bauernaufstand – in einer Ausstellung im Saal des alten Kronstädter Rathauses öffentlich zu präsentieren, so machte er nach seiner Niederlassung in Deutschland, 1979, keine Zugeständnisse an Publikumsgeschmack und Kunstmode.
Das Gemälde „1907“ zeigte einen abgefetzten, verhärmten Bauern vor nächtlichem Feuerhintergrund. Es meinte jedoch den im Kommunismus versklavten, verelendeten Menschen. Die in Deutschland entstandenen Bilder über Alterseinsamkeit, Naturzerstörung, Prominenteneitelkeit, klerikale und politische Verlogenheit – man denke an das 100-mal-70-cm-Ölgemälde „Die große Lüge“ – schrieben den gesellschaftlichen Drahtziehern, Meinungslenkern und Ideologengurus peinliche Wahrheiten ins Political-Correctness-Stammbuch. Im Gespräch hierüber konnte er mehr als deutlich werden. Drohte ihm im westlichen demokratischen Land auch keine Einkerkerung wie im kommunistischen Rumänien, so Außenseitertum und Isolation. Er ertrug sie mit einer den wenigen Freunden bekannten ruppigen Lässigkeit, der ein gesunder Schuss Überlegenheitsbewusstsein und Selbstsicherheit beigemischt war.
Atelierbesuch bei Friedrich von Bömches im Juni ...
Atelierbesuch bei Friedrich von Bömches im Juni 2001. Wenige Wochen vorher hatte sich der Künstler einer schweren Herzoperation unterziehen müssen. Foto: Konrad Klein
Ohne Wenn und Aber ist Friedrich von Bömches der wichtigste Zeichner und Maler, den Siebenbürgen im 20. Jahrhundert hervorbrachte. Der gelegentlich aus berufenem Mund als „Wunderkind der Malerei“ (Walter Biemel) Bezeichnete war nicht allein genial in allem, was er mit Pinsel und Spachtel, Feder und Stift zustande brachte, er war auch ein „Wahnsinniger der Arbeit“, wie er sagte: „Ich bin ein doppeltes Arbeitsmonstrum.“ Ließ er bei der Emigration als Ergebnis dreißigjähriger Arbeit über 20000 Zeichnungen und Gemälde zurück, so entstanden etwa in der gleichen Zeitspanne danach noch einmal so viele.

Bömches hatte beim Spaziergang, beim Gespräch, bei jedem Vortrag, den er besuchte, bei jeder Auto- oder Bahnfahrt, bei jedem Flug, manchmal sogar bei den Mahlzeiten Bleistift und Skizzenblock zur Hand. Während des Fronteinsatzes, während der Deportationsjahre in der UdSSR hatte er auf alles, was ihm nach Papier aussah, gemalt und gezeichnet. Aber auch auf eine abgerissene Schuhsohle, auf die eigene Handfläche, auf eine Tischplatte, auf den Deckel eines Kochtopfs, auf Zigarettenschachteln, Zeitungspapier, Linoleum. Noch als die Krankheit ihn vor wenigen Jahren zu prägen begann, er sich kaum bewegen, sich nicht mehr aus dem Sessel erheben konnte und die Hände schwer und unbeholfen geworden waren, zeichnete er mit Kohle- und Bleistift – aufwühlende Zeugnisse einer Arbeitsbesessenheit, die auch den halbgelähmten über Neunzigjährigen vorantrieb. Bei einer Literaturlesung in Köln, zu der ich ihn eingeladen hatte, saß er unauffällig am Rand einer der mittleren Stuhlreihen; nach dem Ende der Lesung gab er mir 21 in Bleistift ausgeführte Porträtskizzen, die er während der 50-Minuten-Lesung von mir angefertigt hatte. Als ich ihn um eine Zeichnung für den Umschlagentwurf der 3. Auflage des Romans „Der Tanz in Ketten“ bat, schickte er mir nach drei Tagen zwei Dutzend vollständig ausgeführte Arbeiten in Kohle. Eine überzeugender als die andere.

Seine Schnelligkeit beim Skizzieren, das er mit atemberaubender Artistik beherrschte, aber ebenso beim Porträtieren in Öl war einmalig. Die Konzentration, deren er sich dabei fähig erwies, ließ ihn alles ringsum vergessen. Er hörte nicht einmal das unaufhörlich neben ihm schrillende Telefon, das vom Zugreifen mit den Malerhänden in allen Farben seiner Palette wie ein exotisches Wesen schillerte. Alle, die er je auf Leinwände malte – vom deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher bis hin zum Kunstsammler und Museumsstifter Peter Ludwig o.a. – , waren verblüfft, ja fassungslos, ihr Konterfei nach einer dreiviertel, einer Stunde vor sich zu haben: unbestechlich im psychologischen Raffinement der Charakterisierung, präzise in der linearen Beschreibung der Form, faszinierend in Umgang und Spiel mit dem Kolorit.

Wer sein Gartenatelier in Wiehl betrat, stand vor Unmengen bemalter Kartons, Leinwänden, groß- und kleinformatigen Mappen mit Zeichnungen in allen erdenklichen Techniken. Wilde, niemals beendete Landschaftsvisionen, imaginäre Porträtköpfe, wie in Fieberträumen entworfene Farbkompositionen, Nachtbilder, dann wieder mit dem Spachtel ausgeführte Entwürfe in Öl, die wie Lichtschreie wirken, wie glühende Lawa auf den Betrachter zuströmen, sich wie von Blitzen erhellte Abgründe auftun; Mädchenakte, deren sinnliche Ausstrahlung Verwirrendes hat, erschütterende Greisinnenantlitze, hohläugige Gefangenengesichter. Und neben den schockierenden Epochenbildern Arbeiten von einer hinreißenden poetischen Schönheit, einem bezauberndem Schmelz der Farben. Mit ölverschmierten Händen durchblätterte er die Skizzenmappen, kommentierte lakonisch jedes Blatt, wie beiläufig, immer wieder selbstironisch – bald murmelnd und brummend, bald herausfordernd laut.
Friedrich von Bömches: Selbstbildnis. Öl, 75 x 45 ...
Friedrich von Bömches: Selbstbildnis. Öl, 75 x 45 cm, 2005 (Privatbesitz).
„Nimm, was dir gefällt“, sagte er und schob die fast türgroßen Ölgemälde der Reihe nach vor mich, „oder willst du lieber Bleistiftzeichnungen? Die beanspruchen weniger Platz ... Hier, die dramatische Gebirgslandschaft – die ist was für dich! Nimm sie! Sie passt auch in den Kofferraum deines Wagens ... Oder willst du eines der Selbstbildnisse? Dies hier! Es ist das Letzte, das ich malte, das allerletzte, ich werde keins mehr malen. Was sagst du dazu? Ist das was? ...“ Ich nahm es.

Diese späten Selbstbildnisse! ... Der schmale Greisenschädel mit den struppig wirren weißgrauen Kopf- und Barthaaren. Das faltige, wie von Narben zerschnittene Gesicht. Der ungebrochen sehgierige Blick – als käme er aus nächtigen Tiefen. Die Pinselstriche, mit denen er all diese schonungslosen Selbstentlarvungen wie Chroniken eines ganzen Lebens auf den Kartons festhielt, wirken fahrig. Aber bei genauem Betrachten stellen sie sich als die Handschrift eines Künstlers von überragendem Können heraus. Denn nichts ist dem Zufall überlassen, so willkürlich sie auch „hingeschmiert“ erscheinen – wie er sagte –, so chaotisch inspiriert sie sich auch ausnehmen. Jeder scheinbar sinnlose Tupfer, jedes Aussparen und jede mit dem Daumen, mit der halben Handfläche vorgenommene Verwischung steht im Dienst der Geschlossenheit des Bildes. Der Formeinheit. Zwingend klar in der Funktion. Diese Selbstbildnisse gehören zum Besten, was „Fritz“ von Bömches malte. Ich vergleiche sie großen Selbstporträts der europäischen Malerei. Altersarbeiten dieser Gattung etwa Rembrandts, wie dessen in der Londoner Nationalgalerie hängendem „Selbstbildnis“. Dem „Selbstbildnis mit Filzhut“ Cézannes von 1894. Goyas „Selbstbildnis“ von 1815 im Prado. Van Goghs „Selbstporträt“, 1889, im Musée d’Orsay. Dem 1978 gemalten „Selbstporträt“ des Hans Fronius ... Natürlich nicht die Technik des persönlichen Schriftzugs und schon gar nicht die zeitgebundene Sprache des ästhetischen Verständnisses verbindet sie. Sondern der Wille zur Selbstsezierung, die Sicherheit und Konsequenz des Vortrags – kurz, der über Zeiten, Strömungen und Schulen triumphierende Rang des Kunstwerks.

Dieser Friedrich von Bömches war kein Buchhalter mehr oder weniger bekannter Daten. Kein pingeliger Registrator des Vorhandenen und Anhäufer biederer Greifbarkeiten, die zusammenzutragen es keines Genies bedarf, sondern lediglich verlässlicher Einfalt. Er war ein Visionär und Deuter jener Mächte des Unbehausten in und um uns herum, die nur schwer fassbar sind und uns dennoch bestimmen. Sein Hunger nach Erkenntnis des eigentlichen Antriebs in und hinter den Dingen ließ ihn oft als einen Gehetzten seiner Kunst erscheinen, der das Detail ärgerlich wegwischte oder abtat, sofern es ihn hätte daran hindern können, sich „des Pudels Kern“ zu nähern. Konventionell gebundene Naturen erschrecken beim Anblick seiner Farbengebilde und Linienuniversen. Sie zuckten zusammen, sobald sie in unmittelbare Berührung mit seiner pausenlos gärenden schöpferischen Ungeduld und Ungehaltenheit kamen. Seine Todesreiter, seine Fluchtbilder, sein heimgekehrter Verlorener Sohn, die Galerie seiner Geschöpfe mit den entsetzt geöffneten Augen, die Armeen seiner hinter Stacheldraht schattenhaft geisternden Gestalten – ich kenne keinen zweiten Maler, in dessen Arbeiten das 20. Jahrhundert so lückenlos, so dicht präsent ist. Es war nicht der niedere Drang zum Gemeinen, der ihn die Dinge ungeschönt, manchmal abstoßend darstellen ließ: Es war die überall in seinen Blättern und auf seinen Leinwänden spürbare Anteilnahme an der Erbarmungswürdigkeit der Kreatur. Nicht infantile Lust am Dreck trieb ihn zur künstlerischen Erfassung des seelischen und leiblichen Menschenelends, sondern das mitfühlende Wissen aus Selbsterlebtem in zwölf Jahren Front, Zwangsverschleppung u.Ä. Er projizierte also nicht die eigene Psychose auf den Kosmos seiner dramatis personae, nein, er nannte deren Not beim Namen.

Es war in diesem Sinne aufschlussreich, im Gespräch von ihm mit geradezu bohrender Intensität den Hinweis zu hören, dass alles, was der moderne Mensch erleide und an Leid zufüge, bereits in den Mythen des Alten Testaments ausgesprochen sei. Dass Brudermord, Freundesverrat, Inzest, Gotteslästerung, Habgier und Barbarei, Gewalt, Angst und Flucht sich in alter Weisheit vorgeformt fänden und er den Mythos „nur ins Bild unserer Tage umsetzen“ müsse. „Ist in ‚Kain und Abel‘, in ‚Judith‘, ‚Magdalena‘, im ‚Einzug in Jerusalem‘, in der ‚Kreuzigung‘, der ‚Pietà‘ und ‚Auferstehung‘ oder in all den anderen, ist schließlich in der ‚Apokalypse‘ nicht schon alles gesagt?“ fragte er und fügte hinzu: „Unsere mythenlose Welt hält sich für fortschrittlich. O nein, sie ist nur arm dran.“ Alle diese Mythen finden sich als Themen in seinem Werk: die Kreuzigung, die Beweinung, die apokalyptischen Reiter, die Flucht nach Ägypten – Bilder unserer Zeiten.

Dieser Riese der bildnerischen Gestaltung hinterlässt ein fast unübersehbares Werk, dessen Vielgesichtigkeit der Entschlüsselungen harrt; es bleibt noch vieles darüber zu sagen, noch sind die Ausmaße nicht erkannt. Es bietet Generationen von Kunsthistorikern und -wissenschaftlern, von Kunstanalytikern und -interpreten Stoff in Fülle für Untersuchungen wie Betrachtungen unterschiedlichster Art. Allein die Katalogisierung, die Themenordnung, die Phasenbestimmungen benötigen zur systematischen Erarbeitung nicht abschätzbare Zeit. –

Die Urne mit der Asche des Friedrich von Bömches soll nach Siebenbürgen gebracht und in Kronstadt beigesetzt werden.

Hans Bergel

Schlagwörter: Nachruf, Künstler, Maler, Kronstadt

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