Normalität

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OREX
schrieb am 06.10.2010, 12:44 Uhr
Liebe Leserin, lieber Leser,

die Gedanken über die Normalität schrieb ich vor dreieinhalb Jahren auf. Von der Fragestellung bis zu einer (nicht der) Antwort habe ich mich mühsam durchgerungen. Sie werden weiter unten kein wissenschaftliches Werk, sondern einen kurzen Einblick in meine bescheidenen Lebenserfahrungen finden. Ich gebe keine Ratschläge, sondern weise auf einen möglichen Weg zu besseren Zeiten hin. Meine Absicht war, den Leser kurz dem Alltag mit seinen Sorgen zu entreißen und zum Nachdenken zu bringen. Was aber hat das Ganze mit uns Siebenbürger Sachsen zu tun? Nun, auch bei uns gab es die Normalität der Gruppe mit ihrer Schutzfunktion aber auch leider manchmal mit einengendem Charakter. Über „unsere“ Normalität(en) – gestern und heute – mit ihren guten und eventuell auch schlechten Seiten, ist sicher einiges zu berichten. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass jeder für den Inhalt seiner Beiträge verantwortlich ist. Aus gesundheitlichen Gründen werde ich nicht jedem persönlich und nicht immer gleich antworten.

Und nun, viel Spaß beim Lesen und der Debatte!
OREX

Gedanken über die Normalität

oder: Sind wir noch normal?

Was ist normal?


Sobald neues Leben entsteht – egal ob pflanzliches oder tierisches – ist dieses Leben bestrebt sich selbst zu erhalten. Wenn man so will, ist dieses die ureigenste Form des Egoismus. In diesem Stadium sind Mitgefühl, Hilfe oder Nächstenliebe Begriffe mit denen man nichts anfangen kann.

Am Anfang war es – und wenn wir richtig überlegen ist es auch heute noch – ein Überlebenskampf. Am Anfang jeder gegen jeden. Mit der Zeit wurde die praktische Erfahrung zum Programm. Es entwickelten sich unzählige Lebensformen, jeweils mit eigenem Überlebensprogramm.

Kommen wir unserem Ziel ein wenig näher. Wir sind in der Tierwelt. Zur Überlebensstrategie gehört, dass Individuen derselben Art sich häufig in Gruppen zusammenschließen und dass man nur in den seltensten Fällen die Artgenossen verspeist (Kannibalismus). In den Gruppen gelten Verhaltensmuster, die durch Versuch und Irrtum erlernt wurden. Eine Missachtung oder – anders gesagt – eine Abweichung von diesen Mustern kann verheerende Folgen haben. So soll es in Afrika und/oder Südamerika (ich habe das einmal im Fernsehen gesehen und gehört) eine Unterfamilie der Treiberameisen geben, bei denen etwas Interessantes beobachtet wurde: Obwohl ein einzelnes Individuum nur ein sehr kleines „Gehirn" hat, verhält sich die Gruppe so, als sei sie von einer höheren Intelligenz gesteuert und folgt immer „ohne Murren“ dem Führungstross. Wenn nun aber durch einen dummen Zufall die Spitze der Kolonne deren Ende erreicht, dann ist die Katastrophe perfekt. Sie marschieren sich im Kreis zu Tode. Das könnte man als Abweichung von der Normalität bezeichnen.

Nun aber zum Menschen. Wir sagen, wir sind vernünftige (leider nicht immer) Wesen. Aber auch bei uns ist diese ursprüngliche Form des Egoismus, dieser Überlebenswillen, vorhanden. Da wir ein unermesslich wichtiges Kommunikationsmittel, die Sprache, entwickelt haben, bedienten wir uns der Sprache, um Regeln, um Gesetzte zu formulieren, Gesetzte die das Überleben der Gruppe in erster Reihe und dann die jedes Einzelnen unterstützten. Bei Eminescu findet man den Satz „Îngrădirea contra răutăţii reciproce, dreptate se numeşte“ – zu Deutsch: „Die Einschränkung der gegenseitigen Schlechtigkeit, Gerechtigkeit sich nennt".

Diese „Normalität", die sich herauskristallisiert hatte, war zum Überleben notwendig. Aber mit der Zeit wurden die Nahrungsreserven größer und man hatte Muße, manchmal, und dann immer öfter, von der Normalität abzuweichen. Gäbe es dieses Abweichen nicht, hätte es nie Abweichler gegeben, würden wir jetzt noch auf den Bäumen leben. Die Normalität war in früheren schweren Jahren die Gruppe, für die man immer da sein musste, von der man aber gestützt wurde, wenn man Hilfe brauchte. Ein Ausscheren aus dieser Normalität konnte das physische Ende bedeuten.

In unserer modernen Zeit, bedingt durch den Überschuss an Produkten (nicht nur Nahrungsmittel) haben wir abweichende Normalitäten entwickelt. Wir haben uns emanzipiert. Es gibt außer der Familie auch andere Formen des Zusammenlebens. Das sind andere Normalitäten. Obwohl ich ein Befürworter der Familie bin, habe ich kein Recht diese vom klassischen Modell abweichenden Lebensformen als nicht normal zu bezeichnen. Wir haben gesehen, Normalitäten haben sich zwangsläufig aus den gegebenen Bedingungen heraus entwickelt.

Mit dem Begriff der „Normalität“ sollten wir vorsichtig umgehen. Allzu leicht kann man Leute in die Enge treiben, sie benachteiligen, weil man meint, sie seien nicht mehr normal. Wenn ich von Anormalität spreche, so kann ich das tun, wenn ich mich mit mir selbst vergleiche. Die Eingangsfrage hätte ich nicht im Plural stellen dürfen. Auch auf mich bezogen, kann ich sie nicht endgültig beantworten. Es ist ein komplexes Thema.

Ist Normalität normal?

Diese Frage, liebe(r) Leser(in,) kann man als philosophisch, rhetorisch oder als Wortverkünstelung betrachten. Das Thema ist mir aber so wichtig, dass ich keine verbalen Spielereien betreibe. Wir wollen nach einer zufriedenstellenden Antwort suchen:

a) Zum einen haben wir gesehen, dass es eine „Normalität der Gruppe“ gibt, die sich als Überlebensstrategie für den Fortbestand der Gruppe und somit jedes Einzelnen auf Grund von Erfahrungen durch Versuch und Irrtum herausgebildet hat. Es galt das Prinzip: „Einer für Alle und Alle für Einen“. Aber Vorsicht mit solchen Sprüchen, die können leicht pervertiert werden.
b) Zum anderen gibt es das Bedürfnis, den Pflichten entbunden, frei zu sein, die eigenen Gedanken zu haben, die nicht unbedingt im Einklang mit den Gedanken der Gruppe sein müssen.

Aus diesem Spannungsfeld heraus wollen wir versuchen, den Gedanken der Normalität zu klären. Das Abweichen von den Regeln der Gruppe, das Andersdenken,das Schaffen von Freiräumen, war erst in dem Augenblick möglich, als genügend Nahrungsmittel da waren. Schlaue Köpfe – und das muss wohl in der Natur des Menschen liegen – hatten schnell erkannt, dass man sich gegenüber dem „Dümmeren“ Vorteile verschaffen konnte. Man schaffte sich seine – von der „normalen“, von der Natur diktierten, abweichende – Normalität. Die Normalität der Macht war geboren. Es entstanden Königreiche, Kriege wurden geführt, Königreiche gingen unter, es entstanden neue Herrschaftsbereiche. Krieg führen war die Normalität in manchen Zeiten. Sich nicht „normal verhalten“ konnte man mit dem Leben bezahlen. Zu erwähnen wäre da Archimedes, der so sehr mit den im Sand gezeichneten Kreisen beschäftigt war, dass er die Gefährlichkeit des Soldaten nicht erkannte und ihm sagte, er möge „seine Kreise nicht stören“. Diese „Frechheit“ bezahlte er mit dem Leben. Aus dem Wunsch heraus, bestehende, anormale (de facto oder vermeintlich anormale) „Normalitäten“ zu beseitigen, entstanden Revolutionen. Beide, sowohl Krieg, als auch Revolution, bedeuten Zerstörung und erzeugen unermessliches Leid. Man denke nur an die Revolution von 1917 und den zweiten Weltkrieg mit den vielen menschenverachtenden Begebenheiten. Aus den schmerzhaften Erfahrungen vergangener Zeiten haben wir gelernt. Wir leben in einer Demokratie. Zur Normalität der parlamentarischen Demokratie gehört, dass jeder seine Meinung frei äußern kann und in der Regel die Mehrheit entscheidet. Es hat sich eine neue Normalität eingependelt. Es wurden Regeln (Gesetze) im Konsens erlassen, die sowohl das normale Verhalten der Beteiligten definieren, als auch festlegen, wer die Kontrolle über das normale Verhalten durchführen und gegebenenfalls korrigierende Maßnahmen (konkret welche) ergreifen darf und sollte. Weil die Gefahr besteht, dass gewiefte Leute die existierende „Normalität“ zu ihren Gunsten umformen, müssen die Regeln ständig auf den Prüfstand, nach dem Motto: „Wehret den Anfängen!“.

Egal ob „Normalität der Macht“ oder „Macht der Gewohnheit“, es entsteht eine Normalität des geringsten Widerstandes, eine Normalität der Gewohnheit. Bei diesen Normalitäten ist kein Platz für Abweichler (Kranke oder Leute, die ungewöhnliche Dinge tun). Sie werden sehr leicht von der Mehrheit als nicht normal und verrückt erklärt. Dieses Etikett führt oft zu Benachteiligung der Betroffenen. Diese von den Umständen erzwungene Normalität ist nicht normal.

Das wirklich Normale soll das Natürliche sein

Kein normaler Mensch wird jemals in einen Abgrund springen, nur um zu versuchen, wie das ist. Zu einer richtigen Normalität gehört also das Beachten der Naturgesetze, Verständnis und, wo es Not tut, auch Hilfe für die Abweichler. Jeder kann dabei seine individuelle Normalität entwickeln, die sich harmonisch in das Ganze einfügt. So eine Normalität könnte ich mit „natürliche“ oder „gottgewollte“ Normalität bezeichnen. Jahre werden kommen und gehen. Die Zeit fließt, alles ändert sich. So wird es, aus den Gegebenheiten der jeweiligen Zeit entsprungen, andere Normalitäten geben. Um zerstörerische Normalitäten gar nicht aufkommen zu lassen, um den Weg für eine natürliche Normalität zu ebnen, braucht es zwei Dinge:

1. Wissen: das heißt ein Leben lang lernen. Das gilt für jeden Einzelnen und für die Gesamtheit. Man braucht die Weisen, die die historische Entwicklung kennen, aufgrund derer sie unabhängig von tages- und national- oder religiös-politischen Interessen die jeweils aktuelle Lage richtig analysieren und den Entscheidungsträgern die richtigen Informationen und Ratschläge geben. Man braucht aber auch die breite, gut bis sehr gut ausgebildete Masse, die sich nicht von einer schlauen Elite für dumm verkaufen lässt
2. Nächstenliebe:
Das heißt nicht, dass sich alle Leute gleich in den Armen liegen. Es gehört dazu die Achtung der Belange und Eigenarten der Anderen, Verstehen und Akzeptieren der Kranken und Gebrechlichen, Hilfe zur Selbsthilfe. Natürlich sind ausgeschlossen: Gewalt, Verwenden des Wissens im einseitigen Interesse, Betrug, Lug, Spott, Verachtung, Zerstörung der Umwelt.

Zu Wissen und Nächstenliebe - so wie ich sie skizziert habe -, als Wegweiser für die Menschheit, sehe ich keine vernünftige Alternative, wenn die Menschheit wirklich überleben will. Wir wollen uns (und das ist Aufgabe der Weisen, der Wissenseliten) immer wieder mit Abstand, quasi von draußen betrachten, damit es uns nicht wie den Ameisen, in dem eingangs erwähnten Beispiel, geht. Das ist wahrlich eine schwierige Aufgabe.

Wenn eines – aus heutiger Sicht noch fernen – Tages, unser aller (da meine ich alle Menschen dieser klein gewordenen Welt) Denken und Handeln diesem gewiesenen Weg folgt, wenn diese Tugenden so lang eingeübt wurden, dass jeder danach handelt und ohne große Erklärungen auch das Richtige tut, dann haben wir die „göttliche Normalität" und man kann wirklich die Ode an die Freude anstimmen.
---- (10. März 2007) ----


Gedanken, Gedanken, Gedanken…

Ein paar Tage sind vergangen, seit ich meine Gedanken niederschrieb. Es ist aber ein komplexes Thema, das man fast unmöglich vollständig in so einem kurzen Artikel abhandeln kann. Mit mehreren Leuten habe ich gesprochen, habe noch einmal alle Gedanken überprüft und möchte keine Korrekturen machen, sondern nur um ein paar wichtige Aspekte ergänzen.

In jungen Jahren habe ich mal gelesen, ich glaube es war bei Karl May, wie ein Dachdecker mit seinem Sohn in luftiger Höhe auf dem steilen Kirchturmdach arbeitete. Der Sohn kriegt es plötzlich mir der Angst zu tun, gerät in Panik und klammert sich an seinem Vater fest. Der stößt ihn gnadenlos von sich und der Sohn landet unsanft auf der Erde. Das war sein Ende. Der Vater kommt vor den Richter und erklärt, sein Sohn habe Familie und wenn er, der Vater, ihn nicht von sich gestoßen hätte, dann wären sie beide abgestürzt und es wäre überhaupt kein Ernährer mehr da. Es kam zum Freispruch. Auf den ersten Blick war es ein "anormales" Verhalten. Wenn wir es aber gründlich betrachten, so wie es der Richter sicher getan hat, kommen wir zum Schluss, dass es eine andere Normalität war. Und darüber könnte man endlos diskutieren

Zum Schluss noch ein kurzer Text (Autor unbekannt), den ich sinngemäß aus dem Gedächtnis zitiere:

Der tugendhafte Hund des Metzgers, der stets den Korb mit Fleisch und Wurst zu den Kunden seines Herrn trug, ohne auch nur einen Bissen anzurühren, wurde eines Tages von anderen Hunden überfallen, die ihm den Korb entrissen und sich über das Fleisch hermachten. Als er sah, dass alles Volk aß, aß er mit.

War das Verhalten des Hundes anormal? Je mehr ich mich mit dem Thema befasse, umso mehr neige ich dazu zu sagen, es gibt keine Anormalität. Es gibt nur von den jeweiligen Bedingungen abhängige, unterschiedliche Normalitäten. Diese Erkenntnis müsste sich durchsetzen, dann wären auch die Kranken und Behinderten in jedermanns Augen "volle Menschen". Man denke nur an den Physiker Steven Hawkins (ich weiß nicht ob er noch lebt), schwerstbehindert, hat aber geniale Ideen gehabt, die die moderne Physik auf ihrem Erkenntnisweg ein gutes Stück voran gebracht haben. Wenn dem so ist, dass es keine Anormalitäten gibt, wird der Eine oder Andere sagen: Dann ist ja alles erlaubt, dann kann ich rauben, morden,.......

Halt!

Ja was dann? Was nun schon wieder?

Die Anormalität gibt es doch: - Alles was schadet (dem Umfeld und auch sich selbst), all' das ist nicht normal, - ganz einfach formuliert. Also sind auch die Gesetze (Regeln) nötig, um festzuhalten was unter den konkreten Bedingungen normal ist. Ebenso braucht es auch die Kontrollorgane, aber darüber haben wir schon gesprochen. Nochmals beide Aspekte, so zu sagen als Quintessenz zusammengefasst:

Unter Anormalität verstehe ich die Handlungen oder Zustände, die dem Umfeld oder dem Verursacher Schaden zufügen. Alles andere ist normal.

Sollte uns etwas nicht normal vorkommen, müssen wir es nach obiger Regel untersuchen und werden in den meisten Fällen feststellen, es ist nur ungewohnt oder kurios. Und da wären wir wieder bei der göttlichen Normalität, die wir anstreben sollten, selbst wenn es uns bewusst ist, dass wir diesen Zustand nie erreichen werden. Ohne dieses Streben ist auf die Dauer in der immer kleiner werdenden Welt kein Überleben möglich.

Nachwort:

Wir dürfen nie vergessen, dass: jeder, – sofern nicht skrupelloser grausamer Übeltäter –, auf seine ganz spezielle Art ein normaler Mensch ist, ein Mensch dessen Würde geachtet werden sollte.
--- (18. März 2007) ----

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