6. Dezember 2003

Das Gebot für Schulhistoriker: Differenzieren

Am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Leverkusen hat der Leistungskurs Geschichte im Jahre 2000 zum zweiten Mal ein Siebenbürgen-Projekt in Angriff genommen. Beim ersten Projekt ging es um die Geschichte der Bergschule in Schäßburg, Gegenstand des zweiten ist das Mediascher Gymnasium. Einen Punkt aus diesem Projekt, die Entwicklung der sächsischen Schule in Mediasch von den Anfängen bis zur Reformation, präsentierte die Schülerin Anna Caterina Dorn Anfang November in München vor einem exklusiven Publikum, nämlich im Seminar der Sektion Pädagogik und Schulgeschichte des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde.
Ein kleiner Kreis von Lehrern, mit dem Bild der Heimat im Herzen, beleuchtet die Geschichte des deutschen Schulwesens in Siebenbürgen. Die Teilnehmer tragen zusammen, was an Dokumenten und an Erinnerungen noch greifbar ist, und versuchen, die weißen Flecken aus der offiziellen Geschichtsschreibung zu tilgen. Knapp vierzig Personen kamen zu diesem Zweck am 8. und am 9. November wieder einmal im Münchner Haus des Deutschen Ostens zusammen. An der Spitze des Unternehmens stehen zwei ausgewiesene Historiker: Prof. Dr. h. c. Walter König und Hans Gerhard Pauer, Oberstudienrat in Leverkusen. Ihr Appetit auf weitere Fakten ist schlicht unstillbar. Obwohl das erste Seminar bereits 1995 stattfand, bezeichnen sie die Beiträge der Teilnehmer, ob Briefe, Tagebücher, Schulzeitungen, Fotos oder persönliche Erinnerungen, bescheiden als eine Vorstufe für spätere Forschungen.

Die offizielle Geschichtsschreibung gleicht der phönizischen Schrift, die nur Mitlaute kannte. Wer des Lesens kundig war, fügte die Selbstlaute hinzu. Um ein zufriedenstellendes Bild von der Entwicklung der deutschen Schulen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg zu gewinnen, muss man Personen befragen, die noch imstande sind, die offizielle Geschichtsschreibung durch eigene Erlebnisse zu ergänzen. Die Zeit drängt, weil die Erinnerung der älteren Menschen gerade noch bis in die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg zurückreicht. Dem Laien mag es sonderbar scheinen, dass sich gerade über den jüngsten Abschnitt der Vergangenheit große weiße Flecken ausbreiten, sie dehnen sich, beginnend mit den dreißiger Jahren bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Für den Historiker ist dieser widerspruchsvolle Zustand eine Herausforderung. Man weiß etwa zu wenig darüber, wie sich die Rektoren verhalten haben, als die nationalsozialistische Ideologie in Siebenbürgen an Boden gewann. Offenbar ist dieser Vorgang nicht überall in gleicher Weise verlaufen. Wie Hans Gerhard Pauer in seinem Vortrag über das Stephan-Ludwig-Roth-Gymnasium in Mediasch belegte, zeichnen sich im Falle der Städte Mediasch und Schäßburg, die nicht weit voneinander entfernt sind, große Unterschiede ab. In der Schäßburger Presse konnten keine zustimmenden Stellungnahmen von Lehrern gefunden werden, und als die Kirche die Schulen der nationalsozialistischen Organisation übergeben sollte, hat der Stadtpfarrer sich diesem Schritt standhaft widersetzt. So war es, aber warum war es so? Auch diese Frage ist für den Historiker interessant. Ein Teilnehmer, Paul Staedel, gab zu bedenken, dass der rumänische Staat, als er die Rechte verletzte, die den Minderheiten in Karlsburg zugesagt worden waren, die Hoffnung der Menschen auf bessere Verhältnisse in der von den Nationalsozialisten propagierten Gemeinschaft geschürt haben mag. („In Reußmarkt hat sich der Staat 300 Joch vom Kirchengrund genommen.")

Prof. König, der von aller Anfang Wert auf eine differenzierte Darstellung gelegt hat, betonte dieses Anliegen auch während des jüngsten Seminars. Man kann es nicht oft genug sagen, dass die offiziellen Dokumente aus den Jahrzehnten der kommunistischen Diktatur einseitig sind; jede Diktatur unterdrückt differenzierte Darstellungen, weil diese die Bürger zum Nachdenken anregen. Dass viele Lehrer, auch Lehrer in leitender Funktion, sich anders verhalten haben, als die Partei erwartete, ist mittlerweile sogar in Deutschland bekannt, aber warum sie es getan haben, bedarf noch der Dokumentation. Gudrun Schuster, ehemals Deutschlehrerin am Honterus-Gymnasium, ist dieser Frage nachgegangen, als sie das Porträt einer Lehrergeneration im sozialistischen Rumänien skizzierte, und zwar das Porträt der Jahrgänge 1939 und 1940. Es wurde deutlich, wie der radikale Umbruch nach 1944, die Spannung zwischen Tradition und verordnetem Neubeginn die geistige Entwicklung der Menschen dieser Jahrgänge geprägt haben.

Auch das Programm des jüngsten Seminars ließ erkennen, wie breit gefächert der Bedarf an Ergänzungen ist. Im Programm wechselten sich Vorträge über weiter zurückliegende Abschnitte der Geschichte mit Vorträgen über die nahe Vergangenheit und die Gegenwart ab. Hansgeorg von Killyen, vormals Biologielehrer in Tartlau, später Fachleiter am Institut für Lehrerfortbildung in Kronstadt, referierte über die siebenbürgisch-sächsischen Gymnasien im 19. Jahrhundert und ihre Beziehungen zu den Hochschulzentren Europas. Walter König beschrieb die Endphase des Coetus an den siebenbürgisch-sächsischen Schulen in der Zwischenkriegszeit. Odette Fabritius schilderte aus der Sicht einer Lehrerin die überaus schwierige Lage der Schüler des Kronstädter deutschen Abendgymnasiums in den Jahren 1949- 1966. Trotz der Schwierigkeiten konnten zahlreiche Schüler mit sehr guten Ergebnissen absolvieren. Christa Oberth, ehedem Mitglied im Landesrat der Pionierorganisation, erzählte über ihren Werdegang und ihre Aufträge.

Zwei mit größter Aufmerksamkeit verfolgte Vorträge handelten von der gegenwärtigen Lage der deutschen Schulen in Siebenbürgen. Friedrich Philippi, Geographielehrer an der Brukenthalschule, nahm in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Schulkommission des Siebenbürgen-Forums am Seminar teil. Aus seinen Mitteilungen ging hervor, dass die Deutschkenntnisse in erschreckendem Maße abnehmen sowohl unter den Schülern der deutschsprachigen Schulen als auch unter den Lehrern. Die Gehälter für Lehrer sind kläglich, und wer aus der Familie Deutschkenntnisse mitbringt, geht deshalb nicht ins Schulwesen, sondern in die Wirtschaft. Die Planung des Schuljahrs wird durch zahlreiche kurzfristige Regelungen durchkreuzt, die das Ministerium als Reform ausgibt. Gundula Gnann hat als Gastlehrerin fünf Jahre lang in Hermannstadt gelebt und gearbeitet mit dem Auftrag, die Fortbildung der Grundschullehrerinnen zu betreuen. Sie schilderte mit viel Humor die aus hiesiger Sicht karge materielle Ausstattung, die nur durch das unglaubliche Engagement der Lehrerinnen wettgemacht wurde.

Ich war als ehemaliger Redakteur der Tageszeitung „Neuer Weg" eingeladen. Der „Neue Weg" hat seinerzeit ungewöhnlich viel Material über Schulen gebracht, hauptsächlich deshalb, weil die Zeitungsleitung und die Redakteure in Übereinstimmung mit der Leserschaft den Unterricht in der Muttersprache als Garantie für den Fortbestand der deutschen Minderheit betrachteten. Als die Zeitung im März 1949 als kommunistisches Regierungsblatt gegründet wurde, war diese Zielsetzung bestimmt nicht vorgesehen. Der „Neue Weg" ist ein Erinnerungsträger der besonderen Art. In ihm sind unzählige Fakten gespeichert: Namen, Fotos, Zahlen und Meinungen, so dass man ihn als Tagebuch der deutschen Bevölkerung bezeichnen könnte. Freilich findet der Leser in seinen Seiten nur einen Teil der Wahrheit - wie viel die Zensur erlaubte.

Die Beschäftigung der Seminarteilnehmer mit alten Dokumenten und Erinnerungen ist verdienstvoll, gewährt sie doch jungen Menschen siehe Leverkusen, Einblick in eine Welt, die sie nicht kennen - erleichtern ihnen den Zugang zu einem schönen Land und seiner wundersamen Geschichte. Die Historiker wollen zudem rekonstruieren, wie Menschen sich in einer Diktatur verhalten, wie sie Freiräume wahrnehmen und wie weit sie ihrem Gewissen folgen. Wann und wo haben - stillschweigend oder in Absprache - Lehrer unter sich oder Lehrer mit den Eltern oder Lehrer mit ihren Schülern heimlich etwas anderes getan, als die Obrigkeit verlangte, unter welchen Umständen konnten sie von der Linie abweichen? Darüber weiß man noch viel zu wenig.

Hans Fink

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