17. Oktober 2004

Aufbruch ins Ungewisse: 1944-1945

Am 16. September füllte sich der Seminarraum des Hauses der Heimat mit einem interessierten und diskussionsfreudigen Publikum. Die vorangegangenen Veranstaltungen im Rahmen der Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturtage in Nürnberg zum großen Thema „60 Jahre Evakuierung und Flucht aus Siebenbürgen“ waren wohl so manchen Landsleuten nahe gegangen.
Das nicht nur aus Siebenbürgern bestehende Publikum wurde während des zweistündigen Vortrags nicht mit einer Flut geschichtlicher Daten gespeist: Horst Göbbel versuchte über das Gemüt, diese schwere schicksalhafte Zeit nahe zu bringen. So präsentierte er anfangs digitale Bilder aller betroffenen Orte, die er teilweise selber fotografiert hat. Ein kurzer Vorlauf gab Bescheid über die wichtigsten Ereignisse vor 1944, wobei u.a. der Vater unseres Bundeskanzlers Gerhard Schröder und auch der Birthälmer SS-Obergruppenführer General Arthur Phleps erwähnt wurden.
Horst Göbbel bei seinem mit Bildern unterlegten Eröffnungsvortrag der Vortragsreihe „Heimatverlust – Heimatgewinn“ im Haus der Heimat Nürnberg. Foto: Doris Hutter
Horst Göbbel bei seinem mit Bildern unterlegten Eröffnungsvortrag der Vortragsreihe „Heimatverlust – Heimatgewinn“ im Haus der Heimat Nürnberg. Foto: Doris Hutter

Ausführlicher ging Horst Göbbel auf Robert Gaßner, den Gründer der Siebenbürger-Sachsen-Siedlung Drabenderhöhe ein, der die Evakuierung vorbildlich organisiert hatte. Wie der 7. September 1944 vor sich ging, als sogar die Haustiere beunruhigt fühlten, dass sich ihr Leben drastisch ändern werde, wurde auf erschütternde Weise über Zitate von Zeitzeugen vermittelt. Es gibt Tagebuchaufzeichnungen, später niedergeschriebene Erinnerungen und Aussagen, wie z.B.: „Die verlassenen Dörfer schrien vor Sehnsucht!“. Details bringen dem Betrachter das nicht selbst Erlebte ganz nahe: tiefe, niedrige Strohdächer, angebracht auf den offenen Waggons oder die Wegstrecke von Wermesch bis nahe Linz, die ein Großvater zu Fuß vor seinem Ochsenwagen geschritten ist. Geradezu andächtig erfuhr man, wie auf der monatelangen Flucht Feldgottesdienste gehalten, Menschen begraben und Kinder geboren wurden. Gegenseitige Hilfe gab Kraft und die tapfere Haltung der Frauen erleichterte die Not. Man gewöhnte sich auch an die Entbehrungen, wurde erfinderisch und es keimten nach der anfänglichen Lähmung allmählich Lebensmut und der Wille auf, durchzuhalten. So gab es mitten zwischen Angriffen und Bombenalarm auch Erfolgsmomente, Freuden, Spiele und Glücksgefühle, wenn es z.B. flott weiterging. Halt gab vor allem die Gemeinschaft.

Für die Zuhörer, die sich teilweise als Zeitzeugen oder Fachleute zu den Ereignissen oder Einzelheiten äußern konnten und somit den Vortrag lebendig machten und bereicherten, gab es durch das Vorstellen von Pfarrer Friedrich Krauss einen weiteren Höhepunkt in der Geschichte der Evakuierung: Dieser außergewöhnliche Landsmann hat nämlich auf der Flucht, statt persönliche Sachen, seine 800 000 Zettel, auf denen er im Laufe vieler Jahre gesammelte nordsiebenbürgische Wörter notiert hatte, in Kisten mitgeschleppt und vor dem Untergang gerettet. So konnte das nordsiebenbürgische Lexikon entstehen, das im November mit dem letzten (dem 5.) Band abgeschlossen wird. Friedrich Krauss hat den Titel dieses Vortrags geprägt und sich einen würdigen Platz in der Geschichte der Siebenbürger Sachsen verdient.

Grundlage für das nordsiebenbürgisch-sächsische Wörterbuch: Zettelkasten von Friedrich Krauss. Foto: Josef Balazs
Grundlage für das nordsiebenbürgisch-sächsische Wörterbuch: Zettelkasten von Friedrich Krauss. Foto: Josef Balazs

Solche tapferen Menschen und ihre leidgeprüften Weggefährten in schweren Zeiten nicht zu vergessen, ist auch ein Anliegen in diesem Vortrag gewesen. Horst Göbbel schlug am Ende, nachdem er auch andere wertvolle Kulturgüter ansprach, die von den Flüchtenden gerettet worden sind, gleich zwei Bögen: Einerseits erwähnte er evangelische Kirchen, die von den Nordsiebenbürgern in Österreich gebaut worden sind, wodurch man allmählich in der neuen Heimat heimisch wurde. Andererseits sprach er die (in der sowjetischen Besatzungszone angeordnete) Rückkehr nach Siebenbürgen an und stellte den jungen Rumänen Alexander Pintelei vor, der sich im Studium mit gerade dieser Geschichte beschäftigt und zusammen mit Horst Göbbel über das zweisprachige Buch „Wendepunkt in Nordsiebenbürgen“ dafür gesorgt hat, dass alle, auch die Rumänen, die wahre Geschichte der Siebenbürger Sachsen in Nordsiebenbürgen erfahren können. Danke!

Die Vortragsreihe: „Heimatverlust – Heimatgewinn. Nordsiebenbürger Sachsen 1944-2004“, jeweils im Haus der Heimat – Referent ist Studiendirektor Horst Göbbel – geht weiter, und zwar jeweils donnerstags, 18.00 Uhr. Zweiter Vortrag am 14. Oktober: „Wirklich wieder zu Hause?“ 1945-1950; dritter Vortrag am 11. November: „Trotz Sozialismus: neue Hoffnungen“ 1950-1970; vierter Vortrag am 9. Dezember: „Ernüchterung – Aussiedlung – Neuanfang“ 1970- 2004.

Doris Hutter


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