23. August 2002

Der Hunger tut weh

Einen lesenswerten und zugleich erschütternden Bericht über die Russland-Deportation hat die 83-jährige Sara Römischer aus Birthälm geschrieben. Das Schicksal der damals 26 Jahre alten Frau erinnert stellvertretend an die Abertausende Siebenbürger Sachsen, die im Januar 1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt wurde.
Ich erinnere mich an das Jahr 1945, da wir Sachsen im Alter von 18 bis 35 Jahren zur Zwangsarbeit nach Russland verschleppt wurden. Es war der 16. Januar, schönes, warmes Wetter und noch kein Schnee. Da wurden wir von all den Lieben, den Kindern, Eltern und Geschwistern fortgerissen. Ich selber versuchte mich irgendwo zu verkriechen und versteckte mich auf unserem Grundstück im Voistel, wo wir einen Schuppen zum Schutz vor Regen hatten. Dort, 50 m vom Wald entfernt, war Heu für das Vieh. Ich hatte keine Angst allein zu übernachten. Weit größer war die Angst, von den Kindern weggehen zu müssen ohne zu wissen, ob ich noch zurückkehren werde oder nicht. Die Kinder waren damals sieben, fünf und drei Jahre alt.

Am dritten Tag, morgens um 4 Uhr, kam mein Schwiegervater und meldete mir, dass man ihn an meiner Stelle nehmen würde. Das konnte ich nicht zulassen. Da kam ich eben aus dem Versteck und musste noch am selben Tag weg von Zuhause. Ich packte schnell etwas zum Essen und warme Kleidung ein, denn es war ja Winter und noch dazu Krieg. Mein Mann war damals bei der deutschen Wehrmacht.

Von Birthälm brachen wir alle zu Fuß im Sklavenmarsch auf. Das Glockenläuten begleitete uns noch eine ganze Weile. Zum Durchbrennen gab es keine Möglichkeit, alle 50 m ging ein russischer Soldat mit dem Gewehr im Anschlag. In Mediasch hielt man uns noch zwei Tage lang fest, bis man die Leute aus allen Gemeinden des Hermannstädter Bezirks zusammen hatte. Es standen 32 Waggons für den ersten Transport bereit, darinnen die blühende Jugend unserer Bevölkerung.

Am 24. Januar 1945 startete die siebentägige Reise in verlausten Viehwaggons, Männer und Frauen gemischt. Tagsüber stand der Zug still. Nachts rasten wir, was die Lokomotive hergab. In Konstantinowka (Kreis Donbass), vormals bedeutende Industriestadt, durch den Krieg nur noch ein Schutt- und Trümmerhaufen, war Endstation. Wir gingen im Gänsemarsch einer hinter dem anderen und hofften, bald in ein Bett zu kommen oder wenigstens in ein Gebäude, das uns vor dem kalten Wind schützte. Leider kamen wir in ein zertrümmertes Blockhaus ohne Fenster und Türen. Von Rasten oder Schlafen war keine Rede. Wir wurden in ein Bad gestopft und danach ärztlich untersucht. Schon brach der neue Tag an. Vor Aufregung und Hunger wankten wir nur mehr. Da hörte man laut rufen: "Dawai pa cusat!" ("Zum Essen!") Wer verstand das schon? Zwei Männer übersetzten. Es gab Krautsuppe, aber ohne Kraut, reines Salzwasser; das Kraut langte nicht für alle 1 500 Personen. Das war nun unsere tägliche Suppe, jahrein, jahraus. Aber das junge Blut ist widerstandsfähig.

Wir stammten aus dem Kreis Mediasch: Pretai, Reichesdorf, Hetzeldorf, Wurmloch, Tobsdorf, Birthälm, Scharosch, alles junge Menschen von 18-35 Jahren, die Blüte unserer Sachsen. Die ersten beiden Jahre kann man kaum beschreiben: Hunger, Kälte, Wanzen, Läuse im Haar und in den Kleidern. Viele starben vor Hunger - auch Russen; die hatten gleichfalls nichts zu essen, genauso wie wir. Manche fingen Hunde und Katzen. Ich selber habe auch Katzenfleisch gegessen. Der Hunger tut weh. Viele von den Männern wurden krank. Eine Frau hilft sich immer leichter. Ich habe gesehen, wie die Männer Gras pflückten, um den Hunger zu stillen. Ich habe Malve roh gegessen. Das Stückchen Brot wurde frühmorgens um 4 Uhr schon aufgegessen und bis zum nächsten Morgen gab es kein Brot mehr, nur Krautsuppe. Nach drei Jahren erhielten wir etwas Geld. Es wurde auch für das russische Volk besser. Nach fünf Jahren Russland durften wir wieder zurück. Vor der Heimreise gab man uns zehn Tage zur Erholung. Was ich geschrieben habe, ist die reine Wahrheit.

Sara Römischer



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