27. November 2001

Dämonische Wesen in Alltag und Volkserzählung

Im Rahmen der Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturtage 2001 wurde am 10. und 11. Oktober im Historicum der Ludwig-Maximilians-Universität München die Vortragsreihe „Siebenbürgen: Forschung und Dokumentation“ veranstaltet. Dort bot der Ethnologe Dr. Claus Stephani Einblick in ein reiches Sammel- und Dokumentationswerk.
Sein Vortrag "Wirklichkeit und Freiraum der Phantasie. Dämonische Wesen im Alltag und in der Volkserzählung" behandelt einen weniger bekannten Aspekt siebenbürgisch-sächsischer Kultur und wird im Folgenden leicht gekürzt abgedruckt.

Im Frühjahr 1976 plante ich mit dem Lektor der deutschsprachigen Abteilung des Bukarester Ion Creanga-Verlags, Werner Söllner, die Herausgabe einer Buchreihe mit rumäniendeutschen Volkserzählungen, Märchen und Sagen, die ich in den Jahren vorher aufgezeichnet hatte beziehungsweise noch aufzuzeichnen beabsichtigte. Das Projekt wurde später mit dem Lektor Herbert Gruenwald zum Teil realisiert – an der Zensur vorbei. Denn es gab tatsächlich eine Zeit, in der auch die Volkserzählung im Sinne der sozialistischen Ideologie ausgerichtet sein sollte. Ein Beispiel mag das beleuchten.
Dr. Claus Stephani beim Vortrag in München. Foto: Hans-Werner Schuster
Dr. Claus Stephani beim Vortrag in München. Foto: Hans-Werner Schuster


Im Frühjahr 1987 verlangte der Vertreter der Zensur, die damals offiziell „Pressedirektion“ (Directia Presei si Publicatiilor) hieß, die alten, gebräuchlichen, deutschen Ortsnamen sogar in den Sagentexten durch die neuen rumänischen zu ersetzen - das in einer umfangreichen, wissenschaftlich aufgebauten Ausgabe von Zipser Volkserzählungen aus dem Wassertal, die im Kriterion Verlag erscheinen sollte. So hätte es z.B. in der Sage vom Riesen Kubusch, der einst aus dem Pjetroß-Gebirge durch das Wassertal nach Oberwischau herunterkam und dessen Fußspur auch heute noch an einer Stelle neben dem Zipser Weiler Oblasen zu sehen ist, heißen müssen: „Der Riese Kubusch kam das Wassertal herunter nach Viseu de Sus, und bei der Siedlung 1. Mai ist auch heute noch seine Fußspur zu sehen.“ Oder es sollte über die Gründung der Siedlung Am Kirchplatzl, wo einst die alte deutsche Kirche gestanden hatte, heißen: „Die ersten deutschen Einwanderer gründeten 1776 am Wasserfluss die Siedlung Platz des 23. August.“ Der Zensor meinte allen Ernstes, dadurch ließe sich von den „gegenwartsfernen Volkssagen ein Bezug zur sozialistischen Wirklichkeit herstellen.“ So war ich gezwungen, den Band zurückzuziehen, auch zum Ärger der bekannten Klausenburger Graphikerin Helga Unipan, die bereits den Umschlag gestaltet und wunderbare Illustrationen gezeichnet hatte.

Bevor der Volksmund verstummt

In den Jahren bis zu meiner Aussiedlung aus Rumänien 1990, habe ich in deutschen Siedlungsgebieten Rumäniens nebenberuflich und im Alleingang über 2000 Texte aufgezeichnet: Lebensgeschichten, Erinnerungen, Erlebnisberichte und Volkserzählungen, wie Märchen, Sagen und schwankhafte Ortsgeschichten. Meine Gewährspersonen waren Siebenbürger Sachsen, Landler, Zipser, Sathmarschwaben, Deutschböhmen, Dobrudschaschwaben und Juden. Seit 1977 wurden sie in 16 Bänden veröffentlicht. Heute weiß ich, es war die letzte Chance vor dem großen Exodus der Rumäniendeutschen 1990, das aufzuzeichnen, was der Volksmund noch zu sagen hatte, bevor er bald danach für immer verstummte.
Einen Teil meiner Feldforschungen habe ich in den endsiebziger Jahren im sogenannten Zekescher Land durchgeführt – einem Gebiet im südlichen Siebenbürgen, östlich von Mühlbach, etwas abseits gelegen zwischen zwei kleinen Flüssen, den beiden Zekeschen –, wo damals alltägliches Erzählen oder Erzählen im Alltag neben anderen Tätigkeiten traditionsgemäß eine besondere Rolle spielte und einen wichtigen Stellenwert hatte: Erzählen war hier, wie Gesang und Tanz, immer noch ein elementares Bedürfnis zwischenmenschlicher Kommunikation. Mein Ausgangsort war Gergeschdorf, wo 1978 noch etwa 930 Sachsen lebten – bei einer Gesamteinwohnerzahl von rund 1200; 1992 gab es dann nur noch 33 sächsische Einwohner. Gergeschdorf gehörte damals zu jenen deutschen Gemeinden Südsiebenbürgens, in denen die „sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft“ – mit allen ihren soziokulturellen Auswirkungen – Überlieferung und Brauchtum nicht zerstört hatte. Aus diesem Ort unternahm ich meine Wanderungen in andere sächsische und ehemals sächsische Gemeinden der Umgebung: Bußd, Weingartskirchen, Thörnen, Blutroth, Henningsdorf, Rothkirch, Spring, Thorstadt, Neudorf, Birnbaum, Heidendorf am Zekesch, Troschen, Kleinpold.
Im Gergeschdorfer Alltag – wobei Alltag als Lebenswelt, Lebensdimension einer Mehrheit und das Erzählen als aktives Element des alltäglichen Lebens verstanden werden soll – wurden mir die phantastischen Begebenheiten meistens so mitgeteilt, als wären sie ein Teil der Wirklichkeit, in der die Handlung angesiedelt war. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, zwischen Vorstellungen und Tatsachen waren oft kaum zu erkennen, und so entstand eine farbige Form von Alltagsfiktion, ein Freiraum der Phantasie, den die Erzähler zuerst zögernd betraten und sich manchmal mit Hinweisen auf andere Gewährspersonen abzusichern versuchten: „Das hat der Lutsch Hans erzählt. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber man kann es schon glauben, denn der Filpes-Honz, wie man ihm hier sagt, ist kein Lügner. Er war auch im Krieg und nachher in Rußland, und er weiß sehr viel zu erzählen,“ lautete z.B. eine Präambel zu einem Erlebnisbericht, und dann folgte eine Geschichte, die sich eben zugetragen hatte – über die Begegnung mit einem kaniden, dämonischen Wesen, dem Prikulitsch, einer wehrwolfähnlichen Gestalt, die in vielen Landschaften der Karpaten beheimatet ist und auch an den Zekeschen immer wieder gesehen wurde.
Bei den Erzählern in Gergeschdorf spielten in der Monotonie des Alltags jene Ereignisse, die durch phantastische Wesen von anthropomorpher oder zoomorpher Gestalt ausgelöst wurden, eine herausragende Rolle. Denn der Alltag als Werktag – Werktag aber bedeutet Arbeit und Alltagssorgen –, als das Einerlei, das Gewohnte und Gewöhnliche, erhielt erst durch die Fiktion, die wiederum als erlebte Wirklichkeit mitgeteilt und phantasievoll eingekleidet wurde, eine neue Dimension. „Wenn man am Abend auf dem Kajerech, dem Kajeberg, geht, das ist der dort drüben, kann man immer wieder dem Prikulitsch begegnen,“ erzählte Maria Gokesch, genannt Gokesch-Maichen. „Also ich hab ihn selbst einmal gesehen, und ich hab es nachher auch in der Rockenstuw erzählt, und die Lutschen-Mahm und die Filpes-Treni und andere haben gesagt: ‚Ich hab ihn auch gesehn! Ich hab ihn auch gesehn, aber nicht am Kajerech, sondern drüben, am Neudorfer Weg.‘ Wenn es Euch einmal passiert, Ihr geht am Abend auf der Gasse und es kommt ein schwarzer Hund, und das ist vielleicht der Teufel, oder es ist ein Prikulitsch, dann könnt Ihr Euch nur so schützen: Ihr macht mit den beiden Zeigefingern ein Kreuz in die Richtung, wo der Hund ist.“
Der Ehemann der Erzählerin, Gokesch-Mirten, von Beruf Traktorist bei der LPG Weingartskirchen, belächelte die Geschichten vom Prikulitsch, als einer, der mit der modernen Technik umzugehen gewohnt ist. Eines Abends jedoch, als er mit seinem Traktor heimfuhr, erblickte er plötzlich auf dem Feldweg einen großen schwarzen Hund: „Da läuft ein Prikulitsch oder der Teufel, denk ich mir, und ich gib Gas, na, wart nur, dir werd ich Saures geben, du Mistviech, und ich tritt aufs Pedal, gib hurtig Gas, und der Traktor fährt los, und vor mir läuft der Hund, und wie ich ihn schon fast eingeholt hab, auf einmal steht der Motor still, und der Hund dreht sich um, zeigt seine Zähne und lacht wie ein Mensch. Die Haare auf dem Kopf sind mir gestanden wie bei einer Bürste. Dann ist der Hund langsam in den Kukuruz gegangen, und weg war er. Ich hab mich geplagt eine Viertelstunde lang, dann erst ist der Motor wieder angesprungen. Zu Hause sagt meine Frau: ‚Na, glaubst du jetzt, dass es ihn gibt?’ Ich antwort: ‚Ja, jetzt glaub ich’.“
Eines Tages, 1979, sprach ich mit dem Parteisekretär des Dorfes, Petre Dumitru, ein Rumäne, und ich fragte ihn, was er dazu meine, dass manche sächsischen Einwohner behaupten, sie wären dem Prikulitsch oder Schwarzen Hund begegnet. Der Mann der politischen Behörde sagte, dass er selbstverständlich an so etwas nicht glaube, aber „etwas muss schon wahr sein an diesen Geschichten, denn schließlich sind ja die Sachsen ein intelligentes Volk.“

Prikulitsch, Trud und Regenfee

In mehreren Zekescher Ortschaften – doch auch im Burzenland, Nösnerland, Sathmarland oder oben im Wassertal – wurden gern Geschichten von Truden, „Milchdiebinnen“ oder „Millichhexen“ erzählt. Die Person, der man diese Rolle zusprach, war für gewöhnlich eine Zigeunerin, aber manchmal auch eine Deutsche. Die Geschichten waren oft nach dem gleichen Muster gestaltet, wobei – da es sich um einen materiellen Schaden handelte, der der Erzählerin zugefügt wurde – vom Zuhörer meist auch eine Beurteilung des Geschehens bzw. ein Urteil erwartet wurde, nachdem durch die Selbstdarstellung der Geschädigten der Wahrheitsanspruch gefestigt schien: Wenn eine Kuh wegen einer Nachbarin, die als Trude umging, keine Milch mehr gab, konnte die Bäuerin die Pflichtquote an den Staat nicht mehr liefern, was unangenehme Folgen hatte.
Um sich vor Truden zu schützen, nagelte man noch in den siebziger Jahren in einigen Dörfern des Zekescher Landes kleine Kreuze aus Rosenholz an die Stalltüren. Diese Kreuzlein waren vorher von einem rumänischen Popen geweiht worden, der dafür jeweils 5 oder 10 Lei kassierte. Der sogenannte „Trudenfuß“, das Pentagramm, als zauberabwehrendes Zeichen oder Amulett, war dort nicht bekannt. „Ich weiß nicht, ob eine Trud zu meinen Kühen kommt, aber sicher ist sicher, ich hab das Kreuz an die Tür genagelt,“ meinte 1977 Johann Schneider. Oder: „Nach der Kollektivierung hat man gesagt: Jetzt ist es auch mit den Truden aus, aber dann eines Tages waren sie wieder da“, leitete Matthias Wagner, Gemeindehirte in Gergeschdorf, seine Geschichte ein.
Eine Reihe von Erzählungen berichten über jene Bauern, die aus Neugierde oder aus welchem Grund auch immer, sich nachts an die tanzenden Truden herangewagt hatten; dafür wurden sie dann hart bestraft, wie z.B. in der Erzählung von Martin Schuster, genannt Schoster-Mirten: „Die Musik machen drei große schwarze Hunde: einer streicht die Fiedel, der andere schlägt den Takt, der dritte pfeift durch die Zähne. Diesen Spektakel kann man in stillen Sommernächten bis weithin hören ... Einmal versteckte sich ein Mann von hier hinter einem Strauch und meinte, dass man ihn nicht entdecken wird. Als sich jedoch die Truden einfanden, schnupperten sie sogleich und riefen: ‚Es riecht nach Mensch! Es riecht nach Mensch!’ Und da hatten sie ihn auch schon entdeckt. An den Haaren zogen sie ihn hervor und prügelten ihn bis zum Dorfeingang. Ein Jahr lang war der arme Mann auf beiden Augen blind. Dann aber konnte er eines Tages wieder sehen. Doch zu den Truden wagte er sich nicht mehr. Ich hab ihn noch gekannt. Sein Spitzname war ‚der Glotzich-Misch’.“
Häufig wurden Geschichten vom Teufel erzählt, der als Schwarzer Hund oder als Ziegenbock auftrat und der dann in den meisten Fällen von den Menschen überlistet wurde. So berichtete Georg Lutsch von zwei Hirten aus dem rumänischen Dörfchen Koliben, die eines Abends auf der Weide beim Feuer saßen: „Da kam ein schwarzer Ziegenbock zum Feuer, und die Hunde entfernten sich ein wenig und machten ihm Platz. Die Hirten aber waren so erstaunt, dass sie kein Wort hervor bringen konnten. Kein Zweifel, es war der Böse in höchsteigener Person. ‚Seht ihr die roten Kohlen im Feuer?’ fragte der Teufel. ‚Die kann ich in lauter Goldstücke verwandeln ..., dafür müsst ihr mir aber das erste Wesen überlassen, das euch am nächsten Morgen begrüßen wird.’ Die beiden Hirten willigten ein.“ Als dann aber am folgenden Morgen zwei junge schöne Mädchen zu ihnen unterwegs sind, versetzen die Hirten ihren schlafenden Hunden einen Fußtritt. Die wachen auf und sind somit die ersten lebendigen Wesen, die ihnen begegnen. Wütend kommt der Ziegenbock hinzu, fasst die beiden Hunde und verschwindet im nahen Wald. Die Hirten, nun sehr wohlhabend, heiraten die Mädchen. Abschließend meinte der Erzähler, die glücklichen „Tschobans“ würden „auch heute noch in Koliben leben“. Doch ich habe sie nicht aufgesucht und kann das somit nicht bestätigen.
Die vielfältigen Beziehungen zwischen dem Teufel – in welcher Gestalt auch immer – und hexenhaften Wesen wird anschaulich in der Erzählung „Der Jahresbericht“ geschildert, wo es heißt, dass auf einer Wiese beim Dorf Kockt einmal im Jahr die Hexen aus dem Zekescher Land dem Teufel berichten müssen, was sie so getrieben haben. Wenn er mit einer von ihnen unzufrieden ist, winkt er zwei schwarze Ziegenböcke herbei, die dann der Hexe zwanzig Rutenschläge auf den nackten Rücken verabreichen. „Das Geschrei der Geprügelten kann man die ganze Nacht hören, denn der Teufel ist ein strenger Gebieter. Am Morgen ist der ganze Spuk verschwunden, und dann ist wieder Ruhe“, berichteten Katharina Knuff und Matthias Wagner.
Anders als bei den Zipser Sachsen oben im Wassertal in der Maramuresch, wo das „Wilde Geheer“, das nachts über den Himmel zieht, als ein Zug der „ruhelosen Seelen“ oder der „ungetauften Kinder“ beschrieben wird, hieß es bei den Sachsen in Weingartskirchen, dass dieses ein „Zug der Hexen“ sei. Höre man sie kommen, solle man sich zum Schutz rasch unter ein Dach oder in eine Toreinfahrt stellen, so der gute Rat der Erzähler. Ein sächsisches Mädchen, das eines Abends unachtsam war und so ins „Wilde Heer“ geriet, wurde nachher „zur Trud“, erzählte Johann Schneider, und weiter hieß es: „Sie musste dann immer am Stock melken, am Zaun oder an einer Fisolenstange, denn in den Stall konnte sie nicht mehr hinein, weil überall war ja schon ein Kreuz neben der Tür. Schließlich zog sie nach Mühlbach, und erst in der Stadt soll der Zauber nachgelassen haben. Das war ihr Glück, sonst wäre sie ihr Leben lang ‚so’ geblieben.“
Zu den phantastischen Wesen, deren Auftritt im Alltag der Menschen nicht als bedrohlich oder schädigend beschrieben wurde, gehörten die Regenfee und die Kornmutter, wobei im Falle der letzteren Ähnlichkeiten mit der ungarischen Délibab zu erkennen sind – einem ebenfalls geisterhaften femininen Wesen, das sich im Bereich der Kornfelder aufhält, Wiesen und Flur schützt und untätigen Bauern die Sinne verwirrt. Seltsam ist, dass die Kornmutter auch mit den Sachsen rumänisch spricht, „was sie aber sagt, trifft immer ein“, meinte Martin Ganesch. In Henningsdorf erzählte man, dass die Regenfee den feinen Landregen schickt. „Sie sitzt oben im Gebirge oder sogar im Himmel auf einem weißen Thron und spinnt aus Wolken die vielen dünnen Regenschnüre, die manchmal tagelang auf die Erde niederrieseln. Erst wenn alle Wolken versponnen sind, gönnt sich die Regenfee ein bisschen Ruhe und lässt dann die Sonne wieder scheinen.“
Hier sollte vielleicht noch darauf hingewiesen werden, dass Ende der siebziger Jahre in den Erzählungen der Zekescher Sachsen nach Angaben zu Ort und Zeit der Geschichte sogleich zur Handlung, zum Erlebnis übergegangen wird – ohne lange einleitende Vorgeschichte wie bei den ostjüdischen Volkserzählern, wo meistens eine Geschichte zur Geschichte vorangereicht wird mit Hinweisen auf andere Gewährspersonen, wobei ein recht kompliziertes narratives Beziehungsgeflecht zustande kommt. Und es gibt auch keine formelhaften Wendungen, wie in den rumänischen Volkserzählungen – „Es war einmal, und wenn es nicht gewesen wäre, würde man es nicht erzählen“ –, wodurch ebenfalls eine gewisse Glaubwürdigkeit suggeriert werden soll.

Arznei für die Seele

Kann man nun bei diesen Erzählungen mit typischen Erzählsituationen und -vorgängen von Fiktion im Sinne von Erfindung, von intentionaler Täuschung sprechen?
Bevor ich versuche, darauf eine Antwort zu finden, möchte ich hinzufügen: Jede Erzählversion, jede Darstellung eines Geschehens, eines Sachverhalts aus einer eigenen Erlebnisperspektive ist in beachtlichem Maße subjektiv, denn der Volkserzähler betrachtet und schildert die Begebenheiten immer aus seinem individuellen Blickwinkel, wobei er gleichzeitig auf verschiedene Weise um Glaubwürdigkeit bemüht ist, denn seine Erzählung soll immer eine „wirklich wahre Geschichte“ sein. So sind die phantastischen Wesen, die seinen Alltag bevölkern, für ihn keine eigentliche Fiktion, sie stehen aus seiner Sicht nicht außerhalb der Wirklichkeit, und sie greifen auf verschiedene Weise ins alltägliche Geschehen ein – oft nach sich wiederholenden Handlungsmustern. Und eben dadurch, dass sie zu einem Bestandteil des Alltags werden, bleiben sie auch lebendig – jedenfalls solange es die Erzähler und die Zuhörer gibt.
Die Geschichten, die mir manchmal in sagenhafter Form mitgeteilt wurden, waren aus dem Blickfeld der Erzähler keine echten Erfindungen als beabsichtigte Täuschung gutgläubiger Zuhörer. Und so dürfte es sich hier, um mit Wolf-Dieter Stempel zu sprechen, um „etwas Dazwischenliegendes“ handeln. Dieser schwer definierbare narrative Bereich zwischen Phantasie und Wirklichkeit, am Rande zum traditionellen, primären Aberglauben – dem naiven Glauben an Wirkung und Wahrnehmung unerklärlicher Kräfte, der dann auch auf andere Menschen übertragen wird und sich so weitergestalten lässt – war für „meine“ Gergeschdorfer Erzähler in einer Zeit, wo man dem Alltag mit seiner bedrohlichen Problematik manchmal nur entkommen konnte, indem man sich eine Erzählung lang von ihm entfernte, „eine Art Arznei für die Seele“, um mich eines Ausdrucks des rumänischen Mythenforschers Romulus Vulcanescu zu bedienen („un fel de leac pentru suflet“). Und da waren jene Wesen, die nicht zur Wirklichkeit gehörten, insofern willkommen, als sie der Phantasie zum freien Lauf verhalfen, weil wenigstens das alltägliche Erzählen nicht vorgeschrieben oder von einer staatlichen Behörde angeordnet und überwacht war.
Vor etwa acht Jahren besuchte ich einmal einen meiner begabtesten Volkserzähler aus dem Nösnerland, Johann Wenzel, der früher in Jaad bei Bistritz gelebt hatte, in den achtziger Jahren ausgesiedelt war und nun am Rande einer deutschen Großstadt in einem Hochhaus wohnte. Einst war ich mit ihm viel unterwegs gewesen, er hatte mir oben im Borgotal Höhlen gezeigt, von denen es hieß, dass dort in warmen Sommernächten der Höllenhund sitzt, und er hatte mich zu jenen geheimnisvollen Waldwiesen geführt, wo sich nachts die Hexen trafen, überall konnte man ihre Spuren erkennen – darauf machte er mich immer wieder aufmerksam, denn er hatte ein Auge dafür –, und dann zeigte er mir die vielen seltsamen Steine, oben beim Tatarenbach im Tatarschtschina-Tal, und die Steine sollten alles verzauberte junge Männer sein. So hatte mich Wenzel einst durch seine Erzählungen in die farbige Welt der Volksmythologie eingeführt. Nun, hier in der engen Blockwohnung mit Kaufhausmöbeln und einem mächtigen Fernseher war er nicht mehr fähig, auch nur eine einzige Geschichte aus den fernen Karpaten zu erzählen – es schien so, als hätte er nie dort gelebt. Er berichtete mir vielmehr von einer Fahrt zum Schloss Neuschwanstein und zu einem Gasthof, wo über dem Eingang ein riesiges Hirschgeweih hängt – und das war dann auch alles.
Das Tor zur wunderbaren Welt der Märchen, der „Mära“ und der sagenhaften „Kaßka“, zu einem Freiraum der Phantasie, der bis in die alltägliche Wirklichkeit hineinreichte, oder vielleicht war es auch die Wirklichkeit, die an einer schwachen Stelle ihrer Naht sich der Phantasie manchmal ein wenig öffnete, das Tor zu jenem Freiraum war zugefallen – für immer.

Dr. Claus Stephani

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