13. September 2023

Spannend bis zum Amen: In Rothberg ist der liebe Gott auch nur ein Mensch. Schriftsteller-Pfarrer Eginald Schlattner zum Neunzigsten

Die Frage, ob Gott Humor hat, wurde schon auf höchster theologischer Ebene diskutiert. Dass Pfarrer Eginald Schlattner welchen hat, und zwar einen sehr speziellen, weiß jeder, der etwas von ihm gelesen hat. Oder mal einen seiner Sonntagsgottesdienste der letzten Jahre besucht hat. Ich gestehe, dass ich als Religionslehrer noch nie so launig-spannende Predigten gehört habe wie im vergangenen Herbst in seiner Kirche in Rothberg, gehalten in einem Armlehnstuhl vor dem Barockaltar, dessen anmutige theatrum sacrum-Figuren von einer alten Jahrmarktsorgel stammen könnten.
Das Bundesverdienstkreuz auf der Mente darf nicht ...
Das Bundesverdienstkreuz auf der Mente darf nicht fehlen, wenn Schriftsteller-Pfarrer Eginald Schlattner seine Gottesdienste hält, hier am Eingang der 1225 errichteten romanischen Basilika, „als in Berlin noch die Frösche quakten“. Jetzt aber sei sie „mit mir alleingeblieben.“ Aufnahme von September 2023. Fotos: Konrad Klein
Bereits die Begrüßung auf dem Pfarrhof fällt meist, je nach Gast und Bekanntheitsgrad, ausgesprochen unkonventionell aus. „Das Problem, das ich bei Ihnen habe, Herr Horedt, ist, dass ich Ihren Vater in Klausenburg als Mann in seinen besten Jahren kennengelernt habe und nun kommen Sie mir als alter Mann als sein Sohn entgegen. Wenn Sie öfter kommen, werde ich mich vielleicht daran gewöhnen.“

Puh, das kann ja heiter werden. Was es ja dann auch wird. Dazu aber gleich vorweg: Wer einen solchen Spruch übelnimmt, sollte lieber gleich zu Hause bleiben (das Zitat bezieht sich übrigens auf Prof. Kurt Horedt und dessen Sohn Herbert, der in Rothberg öfter mal beim Sonntagsgottesdienst vorbeischaut). Nicht viel besser erging es mir selbst, als Schlattner eine nicht eben schmeichelhafte Bemerkung zu meiner fortschreitenden Glatzenbildung machte. Gemessen am Kichern der Umstehenden muss sie ähnlich böse, also gut gewesen sein. Leider hatte ich sie nur halb mitbekommen, weil zu sehr mit Bildermachen beschäftigt - wo sieht man auch schon einen sächsischen Pfarrer im Gottesdienst-Ornat mit dem – kein Witz – Bundesverdienstkreuz am Bande auf der Brust?

„Ich habe 14 Jahre lang vor leeren Bänken gepredigt. Die Bänke waren zufrieden“, so Schlattner erst neulich wieder (14 Jahre, gerechnet ab der Wende 1990, Anm. KK). Ist das nun lustig, surreal, Galgenhumor oder von allem ein bisschen? Er sei plötzlich ein Pfarrer ohne Gemeinde gewesen und habe das gemacht, um Gott und sich selbst zu trösten. Als ich der Kronstädter Romanautorin Edda Dora Essigmann-Fantanar 2010 in Rimsting davon erzählte, schüttelte sie über „Schlacki“ (selbsterfundener Spitzname?) nur lachend den Kopf: „Ja mei, ein armer Verrückter, der Eginald“. Aber verdanken wir oft nicht gerade diesen die originellsten Würfe?

Dann aber habe der liebe Gott trotz seiner großen Langeweiletoleranz irgendwann beschlossen, dem vereinsamten Pfarrer wenigstens ein paar Touristen vorbeizuschicken. Mittlerweile findet sich bis weit in den November hinein jeden Sonntag gegen 12 Uhr ein Häuflein literarisch Interessierter in Rothberg ein, wo diese dann in den Genuss eines noch vom Meister persönlich betreuten Literaturtourismus kommen. Eine Viertelstunde später sitzen wir, die Besucher von nah und fern, vorn im Chorgestühl. Auf den Bänken weiter hinten haben einige Roma Platz genommen, die sich den Segen vom popa sașilor (Sachsenpfarrer) abholen wollen, gute Gründe dafür gibt’s immer. Die Predigt muss Pfarrer Schlattner im Sitzen halten, seit er auf eine Gehhilfe angewiesen ist („Arbeitsunfall in der Kirche beim Friedensgebet“). Erst auf Rumänisch, dann auf Deutsch. Zweisprachigkeit im Gottesdienst, in Rothberg längst Normalität.
Gottesdienst mit Eginald Schlattner vor dem ...
Gottesdienst mit Eginald Schlattner vor dem baldachinbekrönten Barockalter von 1782. Ein geschnitzter, von einem Pfeil durchbohrter Totenkopf am Fuße des Kreuzes, hatte es ihm seit jeher angetan: „Der Tod hat den Tod getötet. Und hat das ewige Leben hervorgebracht. Das Gesetz der doppelten Negation, die doppelte Verneinung.“ (Schattenspiele toter Mädchen, S. 169).
Wovon hatte er heute eigentlich gepredigt? Rote Fäden sind Schlattners Sache nicht, dafür wird man mit seinen Anmerkungen und Aperçus zu Gott und der Welt belohnt. Eine streng thematische Predigt will hier sowieso keiner hören, die wortgottesdienstfernen Rumänen schon zweimal nicht. Mit gewohnt trockenem Witz teilt er jetzt den rumänischen Besuchern mit, dass er sich nun den deutschen Gästen zuwenden werde, aber nicht vorhabe, den lieben Gott mit den gleichen Worten zu langweilen: „Pentru ca Dumnezeu să nu se plictisească, vreau să vorbesc acum oaspeţilor mei nemţi despre altceva.“ (Und damit Gott sich nicht langweilt, möchte ich jetzt meinen deutschen Gästen von was Anderem reden). Einer seiner Running Gags, der sich in seinem unbefangenen Reden von Gott längst bewährt hat und überraschend gut zur intimen Atmosphäre seiner Gottesdienste passt.

Endlich mal wieder ein herzerfrischend anthropomorpher Gott, möchte man fast ausrufen. Einer, der langweilige Predigten deprimierend findet und sich zur Not die Ohren zuhält – wohl der gleiche, der seinerzeit menschlich, allzumenschlich die Nase rümpfte, als man ihm Vegetarisches auftischte (siehe die Geschichte von Kain und Abel und den verschmähten Feldfrüchten). Auf jeden Fall ein Gott der Überraschungen, „bei dem man nie weiß, was ihm als nächstes einfällt“. Keiner in der Evangelischen Landeskirche kalauert lutherisch-volksnäher, auf Teufel komm raus.

Schlattners Ironie weist freilich nicht selten auch Merkmale des Schwarzen Humors auf, der ja – strenggenommen – keiner mehr ist. Als Beispiel möge hier der Selbstmordversuch des von ihm hochverehrten Psychiaters Dr. Nan dienen. Dieser habe während „der Zeit meiner Haft (…) versucht, sich das Leben zu nehmen. Und war gescheitert. Als er sich aus dem zweiten Stock ins Leere fallen ließ, hatte die Wucht des Aufpralls nicht ausgereicht. Die kinetische Energie war zu gering. Eine einfache physikalische Rechnung hätte warnen können.“ (Schattenspiele toter Mädchen, S. 225) Pointe mit Schockpotential? So ein Loser aber auch, vermeint man hier herauszuhören. Ansätze für eine Erklärung findet man beim Autor selbst: „Ich kenne mich nicht nur im Himmel aus als Pfarrer, sondern auch auf Erden als Ingenieur.“ (Schattenspiele, S. 239; Schlattner schloss neben seinem Theologiestudium 1969 auch ein Studium der Hydrologie ab, Anm. KK). Nun ja.

Sicher eher unchristliche Gedanken dürfte indes TV-Redakteur Hans Liebhardt gehegt haben, als er 1998 Pfarrer Eginald Schlattner über dessen Freund Bischof Dr. Christoph Klein um ein Rezensionsexemplar von „Der geköpften Hahn“ für seine Sendung „Bücher und Bilder“ bat und daraufhin einen Brief aus Rothberg bekam, er möge sich hierfür an den Verlag wenden. Im Übrigen aber möge er auch bedenken, dass er schon 65 sei und bald vor den Thron Gottes treten müsse, er wünsche ihm den Frieden der Seele. „Ich wollte jedoch nicht vor dem Thron Gottes stehen, sondern mein Fernsehmagazin machen“, notierte der solcherart über den Jüngsten Tag belehrte TV-Mann grummelnd (Deutsche in Bukarest, 2003, S. 175). Die Anekdote fand er so gut, dass er sie in seinem Folgebändchen „Bukarest in Altrumänien“ von 2006 gleich nochmals zum Besten gab (S. 190). Déformation professionnelle? Natürlich weiß auch Pfarrer Schlattner, dass er öfter mal seine Zunge im Zaum halten sollte. Nicht umsonst stellte er seinen teils sehr offenherzigen selbstbiographischen Aufzeichnungen in den Spiegelungen die Worte aus Psalm 141 voran: „Stelle, Herr, eine Wache vor meinen Mund/bewahre das Tor meiner Lippen...“ (zitiert nach Spiegelungen 1/2017, S. 197).
Nach der Sonntagsandacht bei Kaffee und ...
Nach der Sonntagsandacht bei Kaffee und anregenden Gesprächen. Heinrich Höchsmann (bekannt als Satiriker Heinrich Heini, Sohn der Schriftstellerin Irmgard Höchsmann-Maly) erzählt Schlattner von seiner Rückkehr nach Hermannstadt. „Werden Sie aus dem Rückkehrer ein Heimkehrer.“ Vorne links Herbert Horedt und Dr. Karin Streit.
Keine Frage, Eginald Schlattner weiß um seinen Sinn fürs Lachen (wie er’s etwas altmodisch nennt), hat er doch diese Eigenschaft auch an seine Tochter Sabine Maya, 56, weitergegeben (Spiegelungen, ebd., S. 213). Viele seiner trocken-provokanten Formulierungen und Wortspiele sind auf Unterhaltungswert und Effekt hin komponiert. Das Leben ist zu kurz für Langeweile, zumal bei dicken Büchern, wie er sie schreibt. Dazu noch einen letzten Schlattner, ganz nach Art des Hauses: „Wenn am Jüngsten Tag jemand für mich spricht, so die Jino Lösch. Während sie im Sterben lag, habe ich sie zum Lachen gebracht, ohne es zu wollen.“ (Spiegelungen, ebd. 215). Religion ist, wenn man trotzdem glaubt.

Die Liste der prominenten Gäste in Rothberg liest sich wie ein Who is Who des deutschen Feuilletons. Dazu sei hier, stellvertretend für alle, der „singuläre Deuter deutscher Literatur mit den erlesenen Ohren“ – soviel Frotzelei muss sein – Denis Scheck herausgegriffen, dessen Pointendichte ähnlich groß wie jene von Schlattner ist. Er sei eines schönen Tages nach Rothberg geeilt und habe für seine TV-Sendung die Stühle des Herrenzimmers auf die Dorfstraße schleppen lassen, um den Erzähler dortselbst vor der Kulisse der Kirchenburg zu befragen. Das dabei entstandene, nachgerade biblischen Tohuwabohu dürfte filmreif gewesen sein: „Es war Sonntag, eben war die orthodoxe Messe zu Ende. Die Leute bekreuzigten sich, Autos bremsten, Pferde scheuten. Der Kameramann befand: ‚Nur noch beim Geburtstag der Queen bekommt der Deutsche im Fernsehen so viele Pferde vorgeführt.‘“ (Spiegelungen, ebd., S. 218). Ein wahrhaft königliches Vergnügen, zumindest für die nicht unmittelbar Betroffenen. „… nach dem, was ich von Eginald Schlattner kenne, darf man von Weltliteratur sprechen“, resümierte Literaturkritiker Scheck seine Leseeindrücke in einem Brief Dezember 2016.
Astrid Benölken (Regie, Kamera), Journalistin der ...
Astrid Benölken (Regie, Kamera), Journalistin der Deutschen Welle, mit Tiberiu Stoichici (Kamera) vom Rumänischen Fernsehen TVR bei ihrer Verabschiedung von Pfarrer Eginald Schlattner vorvergangenen Sonntag in Rothberg. Die beiden hatten mit diesem ein ausführliches Interview geführt und ihn auch während des Gottesdienstes gefilmt. Im Hintergrund Sabine, die Tochter des Pfarrers. Foto: Konrad Klein
Pfarrer Eginald Schlattner sind menschliche Berührungsängste fremd, was ihm auch als Gefängnispfarrer zugute kam („Der Mörder fährt mir nicht an die Gurgel, sondern fällt mir um den Hals. Der Taschendieb klaut nicht meinen Geldbeutel, sondern küsst mir die Hand.“). Sein Pfarrhaus war seit Anbeginn (1978) ein Haus der offenen Tür: „Die Tür ist offen für jedermann, auch für die braunen Brüder vom Bach. Das zu akzeptieren, fiel natürlich auch meiner Familie schwer.“ Dagegen rebellierte zuallererst die Pfarrfrau selbst („Willst du der Christus von Rothberg sein?“). Und dennoch brachte es dieser „Traumtänzer“ (Susanne Schlattner) weit und legte nach der Wende mit seinen mittlerweile sieben Romanen eine schillernde Chronik einer teils sehr dunklen Zeit und seiner persönlichen Erfahrungen vor, auch wenn manches darin bis heute polarisiert und zum Widerspruch reizt. Damit sei er zum „Gedächtnis Siebenbürgens“ geworden, wie es sein Dresdner Kollege Uwe Tellkamp auf den Punkt brachte, selbst einer der großen Chronisten der untergegangenen DDR. Oder, wie es Sigrid Löffler, die Grande Dame der deutschen Literaturkritik auf dem Erlanger Poetenfest 2001 formulierte: „Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen ist augenscheinlich zu Ende. Aber dieses Ende ist in den Romanen von Eginald Schlattner exemplarisch aufgehoben.“

Am 13. September wird Eginald Schlattner 90. Wir gratulieren.

Konrad Klein

Schlagwörter: Kultur, Schlattner, Porträt, Schriftsteller, Pfarrer, Rothberg, Konrad Klein

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