18. Februar 2008

Walter Biemel - bedeutendster siebenbürgischer Philosoph

„Ich bin dem Schicksal dankbar, ein Siebenbürger Sachse zu sein“, sagte Professor Dr. Walter Biemel in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreises 1997 in Dinkelsbühl. „Walter Biemel – ein Deutscher für Rumänien“, titelte der Rundfunkjour­nalist Constantin Aslam ein ausführliches Interview, das ihm der bedeutendste siebenbürgisch-sächsische Philosoph 1995 gewährt hatte. Dieses „Schicksal“ zwischen Kulturen zu vermitteln, hat Biemels ganzes Leben geprägt.
Geboren am 19. Februar 1918 in Topcider bei Belgrad, wo sich im Ersten Weltkrieg sein Vater als k.u.k. Offizier aufhält, wächst Walter Biemel in Kronstadt in einer künstlerisch geprägten Familie auf: Sein Vater ist Direktor der Philhar­monie in Kronstadt, seine Mutter eröffnet ihm die Welt der Literatur. In seinen Erinnerungen an die glückliche Kindheit in Rumänien schwingt die Dankbarkeit für die Kraft und die Hoffnung mit, die er für die späteren schweren Zeiten aus ihr ziehen konnte. Nach dem Besuch des Honte­rus-Gymnasiums in Kronstadt bringen ihm die mit der Familie befreundeten Intellektuellen und der Besuch der Sommerschule von Nicolae Iorga in Vălenii de Munte die rumänische Kultur näher. Zwischen 1937 und 1941 studiert er Philoso­phie, Psychologie, Soziologie und Kunstgeschich­te an der Universität Bukarest. Durch ein „schicksalhaftes“ Glück – wie er es selbst rückblickend formuliert – wird Walter Biemel dann nach mehr als fünfzig Jahren Dorothee Solo­monidis, seiner ersten Verlobten aus Bukarest, wieder begegnen und sie heiraten. Die Verbin­dung mit Rumänien und der siebenbürgischen Kultur lebte damit auf neue Weise auf, wie er auch in seinem gesamten langen Leben seine Herkunft nie verleugnet hat.

Begegnung und Freundschaft mit Martin Heidegger

Das Jahr 1942 bedeutet eine Wende in seinem Leben: Biemel fährt nach Freiburg im Breisgau, um bei Martin Heidegger eine Dissertation über den Naturbegriff bei Novalis vorzubereiten. Die Begegnung mit dem deutschen Professor, ge­schätzten Mentor und lebenslangen Freund Heidegger erschließt ihm das weite Feld der phänomenologischen Thematik und führt ihn in ihre Forscherkreise ein. Zunächst aber herrschen allgemein schwierige Lebensbedingungen zu Ende des Weltkriegs. Nachdem im Herbst 1944 die Universität in Freiburg geschlossen wurde, kommt Walter Biemel ans neu gegründete Husserl-Archiv in Löwen und arbeitet – ge­meinsam mit seiner ersten Frau, Marly Wetzel, die er im Seminar bei Heidegger kennen gelernt hat – an der Herausgabe mehrerer Bände der Husserliana.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Biemel. ...
Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Biemel.
Die Vermittlung zwischen den Kul­turen, die er sich bereits als Student durch kleinere Veröffentlichungen in deutschsprachigen und rumänischen Zeitungen in Kronstadt (Kling­sor. Siebenbürgische Zeitschrift), Hermannstadt (Saeculum) und Bukarest zur Aufgabe gemacht hatte, gewinnt beginnend mit den 50er Jahren in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen die große geistige Dimension der Versöhnung zum Aufbau eines friedlichen Europa. Seine Monographie „Le concept du monde chez Hei­degger“ (Paris/Löwen, 1950) sowie Übersetzun­gen von Martin Heidegger („L’essence de la véri­té“, Paris/Löwen, 1948; „Kant et le problème de la métaphysique“, Gallimard, 1953) und Karl Jaspers („La situation spirituelle de notre époque“, Paris/Löwen, 1951) leisten eine wertvolle Pionierarbeit für die Rezeption deutscher Ge­genwartsphilosophie in Frankreich unmittelbar nach dem Krieg. Später wird sich Walter Biemel auch um die Verbreitung der Heidegger-For­schung in den USA große Verdienste erwerben.

Lebensmittelpunkt wieder in Deutschland

Nach 1952 verlagert sich sein Lebensmittel­punkt wieder nach Deutschland, wo er das Husserl-Archiv in Köln aufzubauen hilft und nach der Habilitation mit der Arbeit „Kants Begrün­dungen der Ästhetik und ihre Bedeutung für die Philosophie der Kunst“ (Köln, 1959) die For­schung mit der Lehre verbindet. So nimmt Wal­ter Biemel 1962 eine Professur für Philosophie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen – die Stadt im Dreiländer­eck, wo er auch heute lebt – an und wird ab 1976 Professor für Kunstphilosophie an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. Es folgen Jahrzehnte reger wissenschaftlicher Tätigkeit auch als Autor und Vortragender in mehreren Ländern. Die Themen seiner Publikationen krei­sen um hermeneutische Auslegungen von Philo­sophen (der deutschen Idealisten, von Dilthey, Husserl, Heidegger, Sartre etc.), Schriftstellern und Künstlern (Hölderlin, Rilke, Kafka, Proust, Picasso, Pop Art, Norbert Kricke etc.) sowie um phänomenologische Analysen des Alltagslebens. Außer den erfolgreichen Rowohlt-Monographien zu Sartre (1964) und Heidegger (1973) verdienen die scharfsinnigen Kunstanalysen spezielle Erwähnung, in denen das phänomenologische Gedankengut auf originelle Art und Weise angewandt wird, wie die Bände „Philosophische Analysen der Kunst der Gegenwart“ (Den Haag, 1968; in spanischer Übersetzung 1973 in Bue­nos Aires erschienen) und „Zeitigung und Romanstruktur. Philosophische Analysen zum modernen Roman“ (Freiburg i. Br., 1986) am besten belegen. Einen Einblick in die Vielfalt seines Denkens bieten auch die beiden Bände seiner „Gesammelten Schriften“, die ihm der Verlag Frommann-Holzboog 1996 gewidmet hat. Walter Biemel setzte in den 80er und 90er Jahren seine herausgeberische Tätigkeit unermüdlich fort und beteiligte sich mit mehreren Bänden an der Herausgabe der Gesamtausgabe Heideggers. Und nicht zuletzt würdigte er seine Professoren, Kollegen und Freunde durch die Herausgabe von Festschriften für Martin Hei­degger, Ludwig Landgrebe und Jan Patočka.

Intellektuelle Beziehungen werden lebenslange Freundschaften

Dieser letztere Aspekt verdient eine nähere Betrachtung. Bereits seine hermeneutischen Analysen zeigen, wie bewusst Walter Biemel in einer Tradition steht und diese weitergibt. Der siebenbürgische Philosoph besitzt die seltene Kunst, anregende intellektuelle Beziehungen in lebenslange Freundschaften zu verwandeln. In der Festschrift, die ihm die Rumänische Gesell­schaft für Phänomenologie 2003 gewidmet hat, schrieb er: „Mein ganzes Leben stand unter dem Glückszeichen der Freundschaft.“ Zu den Freundschaftsritualen zählten die Schachpartien mit Hans-Georg Gadamer und seine „Harakiri“-Inszenierungen bei Fachtagungen der deutschen Phänomenologen, an die sich die Teilnehmer noch Jahre später mit Genuss erinnern. Seine Freundschaften aber pflegte Walter Biemel auch unter widrigen oder sogar gefährlichen Bedingungen zu einer Zeit, in der Europa geteilt war und manche seiner intellektuellen Freunde politisch unterdrückt waren.

Beispielhaft dafür ist die Freundschaft Biemels mit dem tschechischen Philosophen Jan Patočka, einem der Unterzeichner der Charta 77, der infolge eines Verhörs frühzeitig verstarb. In jenen schwierigen Zeiten, da jede symbolische Geste als eine solidarische Unterstützung galt, veranlasste Walter Biemel die Verleihung des doctor honoris causa an Jan Patočka durch die Universität in Aachen. Und als sich im Zuge dessen herausstellte, dass der Prager Philosoph nicht mehr ins Ausland reisen durfte, scheute sich Biemel nicht, mit einer Delegation nach Prag zu fahren, um in der Wohnung des deutschen Botschafters vor einem Publikum, das aus der tschechischen Opposition bestand, Jan Patočka dort den Ehrentitel zu verleihen.

Wirken und Würdigung in Rumänien

Die großzügige Unterstützung von Professor Walter Biemel erstreckte sich auch auf jüngere Philosophen aus Rumänien, sowohl vor als auch nach der Wende. Als Zeichen der Dankbarkeit wurde ihm die rumänische Übersetzung von „Sein und Zeit“ durch Gabriel Liiceanu und Cătă­lin Cioabă gewidmet. Außerdem würdigten ihn die Universitäten Temeswar (1997) und Buka­rest (2003) mit der Verleihung des Ehrendokto­rats. Walter Biemel ist seit ihrer Gründung im Jahre 2000 Ehrenpräsident der Rumänischen Gesellschaft für Phänomenologie und Mitglied des internationalen Herausgebergremiums der Bukarester Zeitschrift Studia Phaenomenolo­gica. Als Sondernummer derselben Zeitschrift erschien 2003 die bereits genannte Festschrift zu seinem 85. Geburtstag unter dem Titel „Kunst und Wahrheit“ im Bukarester Humanitas Ver­lag. Der von Mădălina Diaconu herausgegebene Band enthält Texte des Gewürdigten, Studien zu seinem Werk und zu phänomenologischen The­men von Autoren aus Deutschland, Frankreich, Rumänien, Serbien, Spanien und Tschechien sowie frühe Zeitschriftenartikel, Rezensionen und Kommentare von Walter Biemel, die in Rumänien in den Jahren 1938 bis 1943 in verschiedenen Kulturzeitschriften erschienen sind, einschließlich des einzigartigen Fragments der ersten Übersetzung Heideggers ins Rumänische durch Walter Biemel und Alexandru Dragomir.

Am 19. Februar 2008 wird Professor Walter Biemel seinen 90. Geburtstag feiern. Wir haben dem Kunsttheoretiker und Philosophen viel zu verdanken. Er ist uns zu einem Vorbild geworden. Das glückliche „Schicksal“, ihm begegnet zu sein, gibt uns die Kraft und Hoffnung, dass Europa immer mehr zusammenwächst und die Wissenschaft und Kultur der Aufgabe der Ver­mittlung gerecht werden können, wenn sie aus dem Ethos der Bescheidenheit und Gelassenheit schöpfen. Diese hohe Kunst lebt Walter Biemel nun schon seit neun Jahrzehnten. Möge sie uns ein Zeichen sein und Walter Biemel uns noch viele Jahre vorangehen. In diesem Sinne wünschen wir ihm ein herzliches „ad multos annos“!

Mădălina Diaconu

Die Autorin, DDr. Mădălina Diaconu, geboren 1970 in Bukarest, ist Universitätsdozentin für Philosophie an der Universität Wien.

Schlagwörter: Wissenschaft, Philosophie, Kronstadt, deutsch-rumänische Beziehungen, Biemel

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