27. März 2008

Stefan Sienerth: produktivster siebenbürgisch-deutscher Literaturwissenschaftler der Nachkriegszeit

Die meisten der Literaturhistoriker, -kritiker, Hochschullehrer und Kulturjournalisten, die in den 1960er Jahren, vor allem in deren zweiten Hälfte, als Neulinge die kleine rumäniendeutsche Szene betraten, erkletter(te)n im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums eine Alterstufe, die zu einer Bilanzierung ihrer Verlautbarungen und Aktivitäten unter Zensurzwängen, aber auch ihres Weiterwirkens nach dem Sturz der nationalkommunistischen Diktatur im Dezember 1989 geradezu herausfordert. Zu ihnen gehört nicht zuletzt der Jüngste unter ihnen, der am 28. März 1948 in der siebenbürgischen Gemeinde Durles geborene Stefan Sienerth, dem gleichermaßen ein immenser Fleiß, gewissenhafte Zielstrebigkeit und eine in langjähriger Arbeit erworbene Sachkompetenz dazu verhalfen, über Zeiten und Grenzen hinweg in seinem Fach­bereich kontinuierlich wirken zu können.
Die ersten Auftritte dieser Studenten bzw. Ab­solventen eines Germanistikstudiums an rumänischen Universitäten erfolgten in einer Zeit relativer Liberalisierung der Ausdrucksmöglich­keiten, als sich in Lehre, Forschung und Publi­zistik erweiterte Handlungsspielräume eröffneten und Methodenvielfalt in der Auseinanderset­zung mit literarischen Texten sich Bahn brach. Außerdem zog es in den 1960er und 1970er Jah­ren viele Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen zum Studium der deutschen Sprache und Literatur, auch an den Germanistik-Lehr­stühlen wirkte eine wachsende Zahl von Ange­hörigen der deutschen Minderheit mit. In Her­mannstadt, Klausenburg und Temeswar etablierte sich zeitweilig eine „muttersprachliche“ Auslandsgermanistik.

IKGS-Direktor Dr. Stefan Sienerth bei seiner ...
IKGS-Direktor Dr. Stefan Sienerth bei seiner Arbeit in der Hals­kestraße 15 in München, 2005. Foto: Siegbert Bruss
In den Feuilletonabteilungen der deutschen Zeitungen und Zeitschriften, in der Redaktion der Bukarester Monatschrift Neue Literatur kam es desgleichen zu einem Generationswechsel. Ebenso wie junge Autoren wurden auch angehende Literaturkritiker von den Printmedien in­tensiv gefördert – in jenen Jahren des Werdens und der Wahne, als die trügerische Hoffnung aufloderte, dass die Ära der Lügen und des Schreckens ihrem Ende entgegengleite. Diese Alterskohorte befürwortete nicht nur den An­schluss an die Formensprache der Moderne, sondern befreite auch die langjährig vergitterten kulturellen Traditionen zu neuem Leben und för­derte Verschollenes und Vergessenes ans Tages­licht. Dass die jungen Akteure dabei unterschiedlich gewichtete Kompromisse einzugehen hatten, war ihnen bewusst, doch, gemessen an den extrem restriktiven 1950er Jahren, agierten sie unverkrampft, mitunter auch streitlustig und nutzten die Freiräume oft bis an deren Grenzen.

Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass man auch miteinander polemisierte, Zweckbündnis­se auf Zeit einging oder Freundschaften schloss, von denen einige zerbrachen, andere sich als korrosionsbeständig erwiesen. Und so schreiben denn aus heutiger Sicht gealterte Weggefährten anlassbedingt Freundliches über Freunde, die desgleichen in die Jahre gekommen sind, wobei gelegentlich das Prinzip der Gegenseitigkeit funk­tioniert – was sicherlich einer gewissen Komik nicht entbehrt. Auf Stefan Sienerths Wortmel­dungen zu meinem 50. und 60. Geburtstag folgt nun eine ‚Replik‘, so schlecht, so gut ich’s eben kann.

Als Germanistikstudent in Klausenburg er­spähte ich in der Bibliothek der Philologischen Fakultät immer mal wieder einen etwas jüngeren Kommilitonen, der, über Bücher gebeugt, eifrig exzerpierte, sich keine Verschnaufpause gönnte und auch länger als die meisten Leser hier ausharrte. Bislang hatte ich noch kein Wort mit ihm gewechselt, doch an einem Herbstabend des Jahres 1967 sprach ich ihn an und befragte ihn etwas überheblich über meinen Lieblings­dichter Rainer Maria Rilke und, siehe da, der Junge konnte sogar einige Frühverse des Pra­gers zitieren. Zu dem unstillbaren Nachhol­bedürfnis gesellte sich sehr bald auch sein Wunsch, Gelesenes und Erforschtes zu kommen­tieren. Als ich ein gutes Jahr später Redakteur der deutschen Seiten der dreisprachigen Klau­senburger Studentenzeitschrift Echinox wurde, habe ich ihn als Mitarbeiter ‚angeheuert‘ und seine ersten Beiträge – u. a. einen Aufsatz über Else Lasker-Schüler – veröffentlicht. Zwischen uns hatte sich ein von jeglichem Misstrauen ungetrübtes Vertrauensverhältnis herausgebildet. Ich erinnere mich noch sehr wohl an einen Tag im Jahr 1978, an dem er Franz Hodjak und mir – mit einer von Furcht und Besorgnis gedämpften Stimme – über bislang vergebliche Anwerbungsversuche des Geheimdienstes Secu­ritate erzählte. Franz und ich hatten diese Er­fahrung einer Verweigerung ohne schwerwiegende Folgen schon gemacht und rieten auch ihm, weiterhin standhaft zu bleiben. Und fast 30 Jahre später, im Sommer 2007, saßen wir selbdritt in dem Lesesaal der 1999 gegründeten Be­hörde CNSAS in Bukarest, die Antragstellern die Einsicht in die eigene Securitate-Akte ermöglichte, und buchstabierten, erschüttert und er­heitert, Hunderte von Seiten durch.

Ein Marathonläufer

Nach dem Abschluss des Studiums verblieb ich in Klausenburg, Stefan Sienerth ging 1971 als Hochschulassistent an das Pädagogische Ins­titut in Neumarkt/Târgu-Mureș (1971-1974) und lehrte hier Deutsch als Fremdsprache bis 1974, als sich die Möglichkeit ergab, an den Germanis­tik-Lehrstuhl des Hochschulinstituts Hermann­stadt hinüberzuwechseln. Damals hatte er sich bereits in ein Forschungsgebiet eingearbeitet, dem er eine hartnäckige Treue bewahren sollte: der siebenbürgisch-deutschen Literaturgeschich­te. Zwar waren die Träume von einem Sozialis­mus mit menschlichem Gesicht unter dem allmählich wachsenden Druck einer nationalkommunistisch gewendeten Staatsideologie zerschellt, und die Zensur bereitete einem wachsende Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, doch Stefan Sienerth hatte in der älte­ren Literatur ein Revier entdeckt, dessen Erkun­dungen zeitweilig weniger scharf beobachtet wurden.

An der Uni vermittelte der beliebte Lehrer vor­rangig ‚Kanonisches‘, bot u. a. Veranstaltungen über Methoden der Literaturwissenschaft, über die Frühromantik, den Vormärz und bürgerlichen Realismus, den Stilpluralismus um 1900, den deutschen modernen Roman an, lehrte aber auch schon ab 1978, dem Jahr, in dem er zum Dozenten befördert wurde, siebenbürgisch-deut­sche Literaturgeschichte. Was ihn dazu bewogen hat, die historische Kulturlandschaft Siebenbür­gen und die rumäniendeutsche Literatur der Zwischenkriegszeit zu durchstreifen und dabei unverhoffte Entdeckungen zu machen, war die sich auswachsende Überzeugung, infolge der für ihn geltenden Reiseverbote und der prekären Dokumentationsmöglichkeiten über die Autoren des „Zentrums“, nur bei der Durchforstung „re­gionaler“ Problemfelder neue Forschungsergeb­nisse erarbeiten zu können. 1979 promovierte Stefan Sienerth an der Uni­versität Bukarest mit einer Arbeit über die siebenbürgisch-deutsche Lyrik um die Jahrhun­dertwende zum Dr. phil. – nachdem er sich durch einschlägige Publikationen als Hoffnungsträger der Zunft transsilvanischer Nachkriegs-Germa­nisten ausgewiesen hatte, deren produktivster Vertreter zu sein er heute in Anspruch nehmen darf. Mit einem ausgeprägten Gespür für das Machbare ausgestattet und von einem eitelkeits­fremden Ehrgeiz beflügelt, vergrub er sich in die Bestände der Brukenthal-Bibliothek und in die des Hermannstädter Staatsarchivs, erschloss Nachlässe, entzifferte geduldig alte Handschrif­ten und musterte überlieferte Briefschaften. Ohne Berührungsängste, mit einer beneidenswert zupackenden Art, nahm er eine Menge von Publikationsangeboten an. Stefan Sienerth verfasste universitäre Lehrwerke, schrieb Studien, Aufsätze, Gedenkartikel, Rezensionen für wissenschaftliche und Publikumszeitschriften, für Wochenblätter, Tageszeitungen und Kalender. Er lieferte für drei im Teamwork erstellte Litera­turgeschichten gattungshistorische Längs- und periodenbezogene Querschnitte, problemgeschichtliche Synopsen und Autorenporträts, edierte Gedichte von Georg Hoprich (1979), von Gerda Mieß (1987) und Werke von Hermann Klöß (1989).

Gleichzeitig konzentrierte er sich auf die Ver­wirklichung eigenständiger Projekte, einem „Ma­­rathonläufer“ vergleichbar: der Abfassung – im Alleingang – einer Geschichte des siebenbürgisch-deutschen Schrifttums und der Herausga­be von Texten dieser Literatur in ihrem historischen Wandel. In drei Büchern (1984, 1989 und 1990) bot er auch heute noch lesenswerte, gut gegliederte Überblicke von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an, ihnen stellte er vier Lyrikanthologien (1978, 1980, 1982, 1986), die, ebenso wie seine Monographien, im Klau­senburger Dacia Verlag erschienen, an die Seite. Durchaus im Sinne eines ererbten Rollenver­ständnisses bemühte er sich erfolgreich, Kon­tinuitätslinien nachzuzeichnen, Archive auszuwerten, die Erinnerung an das kulturelle „Erbe“ seiner Herkunftsgemeinschaft wach zu halten – in einer Zeit verordneten Vergessens.

Nach der Auflösung der Germanistik-Abteilung im Jahre 1986 wurde der Mundartsprecher Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Lexi­kographie am Forschungsinstitut für Sozial- und Geisteswissenschaften in Hermannstadt, wirkte als Koautor an mehreren Bänden des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuches mit und richtete sein Augenmerk auch auf das Werk von Sprachwissenschaftlern – wie beispielsweise auf jenes von Andreas Scheiner. Für einen, der in rast- und pausenloser Arbeit ein Refu­gium gefunden hatte, schien der Weggang, der möglicherweise zu einer beruflichen Umorien­tierung hätte führen können, kein Ausweg zu sein. Daher kam sein Entschluss für die Aushar­renden, anno 1990 nach Deutschland auszusiedeln, nun, da eine Professur an der wiederbelebten Hermannstädter Germanistik in greifbare Nähe gerückt war, die Reisebeschränkungen aufgehoben wurden und die Zensurzwänge entfielen, ziemlich überraschend. Wurde er von dem Massenexodus seiner Landsleute mitgerissen, sah er die Überlebenskraft der deutschen Min­derheit in der angestammten Heimat schrumpfen, gab er dem Drängen seiner Familie nach oder hatte er dabei die Zukunft seiner beiden Söhne im Blick? Wie auch immer, das Glück des Tüchtigen begleitete ihn auch nach dem „Welt­wechsel“.

Umsichtiger Wissenschaftsmanager

Stefan Sienerth ist angekommen im Land seiner Muttersprache und hat doch auch andererseits die Bindungen an seine Geburtsheimat sowie die Beschäftigung mit der Kultur und Lite­ratur der Siebenbürger Sachsen, aber auch seine Lehrtätigkeit nicht aufgeben müssen. 1991 wur­de er Projektmitarbeiter, ein Jahr später Wissen­schaftlicher Mitarbeiter des Südostdeutschen Kulturwerks, des Vorgängervereins des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuro­pas an der LMU München, als dessen Direktor er seit 2005 amtiert. Er ist Lehrbeauftragter der Universität München für Neuere deutsche und rumänische Literatur und hält regelmäßig Block­vorlesungen an der Universität Bukarest, die ihn 2002 mit einer Ehrenprofessur auszeichnete.

Für mich zumindest war’s eine irrwitzige „Schicksalsfügung“, dass wir beide gleichermaßen Seit’ an Seit’ und jeder in seinen Gefilden in München das haben fortführen können, was wir im kommunistischen Rumänien unter ungleich ungünstigeren Bedingungen, aber in maßloser Selbstüberschätzung unserer Bedeutung betrieben haben. Seit über 16 Jahren tauschen wir uns in unmittelbarer Büro-Nachbarschaft und meist auf der gleichen Wellenlänge fachlich aus, und keine Meinungsverschiedenheit endete in unversöhnlichem Zorn. Was ich nun intensiver als bisher miterleben konnte, sind seine Um­gänglichkeit und Geduld, seine soziale Kompe­tenz, seine Fähigkeit, Wesentliches von Unwe­sentlichem zu unterscheiden, und nicht zuletzt seine sanfte Ironie und sein trockener Humor, die er in seinen von Sachlichkeit geprägten schriftlichen Äußerungen eher tarnt. Wenn ihm etwas auf die Nerven geht, so sind das realitätsblinde Wichtigtuerei und pfauenhaftes Geltungsbedürf­nis. Mit untrüglichem Blick erkennt er sofort, wenn der Kaiser nackt ist.

In München war er infolge simultaner Anfor­derungen genötigt, seine „großen“ Projekte zu­rückzustellen. Priorität hatten Verlagstätigkei­ten, das Redigieren von Typoskripten sonderbarster Qualität, die Teilnahme an Symposien und die Organisation internationaler Tagungen sowie die Herausgabe von Sammelbänden, wobei er unter Beweis stellte, dass er das schwierige Metier des Lektors aus dem Effeff beherrscht. Doch konnte Stefan Sienerth andererseits sowohl den geographischen als auch den Zeitraum seiner Untersuchungen ausweiten. Davon zeugen u. a. seine Beiträge über donauschwäbische Autoren und sein gründlich dokumentierter, 1997 veröffentlichter Interview-Band mit deutschen Schriftstellern aus Ostmit­tel- und Südosteuropa. Als Direktor ist er in die Rolle eines umsichtigen Wissenschaftsmanagers hineingewachsen und als Literaturwissenschaft­ler hat er sich zu einem der besten Kenner der multikulturellen und mehrsprachigen Kultur­landschaften von Czernowitz bis Neusatz ge­mausert.

Einen Monat vor seinem runden Geburtstag brachte der IKGS Verlag in zwei massiven Bän­den eine Auswahl seiner Studien und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Literatur und Sprachwissenschaft in Südosteuropa heraus. Sie belegen nicht nur eindrucksvoll die Spannweite und Mannigfaltigkeit, sondern auch die Kohä­renz und Systematik seiner Darlegungen, sie veranschaulichen in ihrer Gesamtheit die ihm eigenen Umgangsformen mit den „Gegenstän­den“ seiner Abhandlungen, zeichnen sich durch Nachvollziehbarkeit seiner Beweisführungen, durch sachverständige Einarbeitung der Sekun­därliteratur aus und halten einer Überprüfung der ausgebreiteten Fakten stand. Der Bogen spannt sich vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Die Erhellung von Zusammenhängen und Hin­tergründen, von entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen und entwicklungshistorischen Besonderheiten sowie die Einbettung der Texte in Kontexte haben dabei Vorrang vor Analysen von Einzelwerken. Sein Interesse an neueren Theoriebildungen stand immer schon unter dem Fragehorizont, inwieweit sich deren Erkenntnis­se bei der Beschreibung und Deutung regionaler Kulturen anwenden lassen. Stefan Sienerth erweist sich als ein Literaturforscher mit Boden­haftung, dem spekulative Erörterungen, aber auch stilistisch-rhetorische Effekthascherei fern und fremd sind. Nicht Polarisierung und Zuspit­zung, sondern Ausgewogenheit und historisierendes Verständnis sind Wesenszüge seiner differenzierten Betrachtungen und Kommentare, die sozialgeschichtliche und kulturhistorische Sichtweisen, Einblicke in die Spannungsfelder des literarischen Lebens mit ästhetischer Wer­tung verbinden.

„Für das Können“, formulierte Marie von Eb­ner-Eschenbach mit scharfsinniger Prägnanz, „gibt es nur einen Beweis: das Tun.“ Ein Apho­rismus, der auf den 60 Jahre jungen Jubilar gleichsam zugeschliffen ist. Herzlichen Glück­wunsch, Meister Stefan!

Peter Motzan

Schlagwörter: Kultur, Literaturgeschichte, Germanistik, IKGS

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