12. Juli 2008

Zum Tode des Kulturphilosophen Walter Myss

Requiem für einen Freund von Hans Bergel - Jedes Gespräch mit ihm – verließ es die Dinge des Alltags – gewann den Charakter des Diskurses im ausgreifend abgesteckten geistigen Horizont. Dabei war es nicht allein der zeitübergreifende Gestus des Arguments, mit dem er dem Gesprächspartner Kontinuitäten von der europäischen Megalithkultur des 4. Jahrtausends vor bis zur Malerei des Spaniers Pablo Picasso im 20. Jahrhundert nach Christus bewusst machen konnte, sondern jene stupende Kenntnis auch des Details, über die allein der enzyklopädisch belesene Geist verfügt.
Walter Myss erläuterte die Anordnungsgeometrie der über 4000 Jahre alten Steinalleen von Carnac in der südbretonischen Bucht Quiberon mit der gleichen Eloquenz wie die Gründe der Ermüdungserscheinungen des europäischen Formwillens in der Moderne. Oder er sprach und schrieb mit der gleichen Sicherheit von den „Sukzessions-Regelmäßigkeiten“ in den drei großen „Bewusstseins- und Kulturentfaltungen“ Europas seit dem minoischen Kreta wie über die kompositionsgeschichtliche Folgerichtigkeit der Loslösung des späten Beethoven von der Dur-Moll-Harmonik bereits ein halbes Jahrhundert vor Richard Wagner.

Walter Myss, Ende der 1980er. Foto: Josef Balazs ...
Walter Myss, Ende der 1980er. Foto: Josef Balazs
Der am 22. September 1920 in Kronstadt, Siebenbürgen, geborene Walter Myss starb im Alter von knapp achtundachtzig Jahren am 23. Juni 2008 in Innsbruck in Nordtirol, der Stadt, in der er sich, nach heil überstandenem Fronteinsatz während des Zweiten Weltkriegs, 1945 niedergelassen und gewirkt hatte. Der Sohn einer im ehemaligen Kronstadt bekannten und geschätzten Unternehmerfamilie und Enkel des vom Kunsthistoriker Victor Roth (1878-1936) als „Vater der neueren siebenbürgischen Malerei“ bezeichneten Friedrich Mieß (1954-1935) studierte in Innsbruck und in Paris Kunstwissenschaften und Philosophie, verdiente sich als beachtlicher Geiger im Orchester der Innsbrucker Philharmonie einiges Geld und machte schon während der Studienzeit als Kunst- und Kulturführer im nahen Italien die unmittelbare Bekanntschaft mit der Welt des genialen Renaissanceaufbruchs von der Philosophie bis zur Musik, von den Künsten bis zu den Wissenschaften. Das war ohne Zweifel die Initialbegegnung: das prägende geistig-musische Grundereignis, das dem jungen sportlichen und mit intellektuellem Charme ausgestatteten Walter Myss den Lebensweg vorzeichnete. Ein niemals nachlassender Enthusiasmus für die ästhetische und ideelle Potenz europäischer Ausdrucksfähigkeit seit vorchristlicher Zeit, die unerschütterliche Bewunderung des Liebenden für den Genius darin, ein unstillbarer Hunger nach Wissen über die Einzelheiten und die Frage nach der universalen Gültigkeit beseelten ihn in allem, worüber er in diesen Zusammenhängen sprach. Er erkannte und erfühlte sie in den dorischen Tempelbauten der Hellenen, in den Kuppeln Roms vom antiken Pantheon bis zu Michelangelos Entwurf der Kuppel von St. Peter, von den grandiosen Castillos Spaniens über die südfranzösische Frühromanik bis zur Malerei Emil Noldes, von den Motetten Palestrinas bis zu jenen Bachs, von den Innenfresken des Knossos-Palastes bis zu den Standbildern der Kuroi – den frühgriechischen Jünglingsgestalten, deren rätselhaftes Lächeln ihn zu stundenlangen Betrachtungen veranlasste, nicht anders als Henry Bergsons These von der schöpferischen Grundkraft des élan vital; kaum ein Gedanke vermochte ihn gesprächshalber so anzuregen wie Dantes maggior don, der Begriff der über allem stehenden Freiheit im Sinne des Perikles: „Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.“

Der der Kunst- und Kulturgeschichte, der Philosophie und Kulturmorphologie zuneigende Spross unternehmerisch denkender Väter Walter Myss heiratete in Innsbruck die Schriftstellerin Eva Lubinger, die ihm zwei Söhne schenkte. Er gründete zunächst das Reiseunternehmen „Tyrolian Travel“ und dann, 1971, den Wort-und-Welt-Verlag – „ein Geburtstagswunsch, den ich mir erfülle“, wie er mir in einer Sommernacht auf der Terrasse einer Cafeteria in Forio auf der Insel Ischia im Golf von Neapel sagte: ob ich als Autor beim Verlagsstart mitmache? Wir „begossen“ den Entschluss mit einer Flasche Vino rosso von den Epomeo-Hängen. Die beiden ersten Bücher, mit denen das Unternehmen 1972 an die Öffentlichkeit trat, waren sein Band „Kaiser, Künstler, Kathedralen“, ein Werk über die Kunst der Europäer im Jahrtausend zwischen der Völkerwanderung und der Renaissance, und mein „Zehn-Erzählungen“-Band „Im Feuerkreis“. Der Erfolg des Beginns wäre nicht möglich gewesen ohne die von der Verlags- und Versandbuchhandlung seines Kronstädter Landsmannes und Freundes Hans Meschendörfer (1911-2000) zur Verfügung gestellte, in rund zwei Jahrzehnten seit 1954 von diesem in München aufgebaute Kundenkartei und einen über die Länder Europas hinaus bis Venezuela, Ostafrika, Kanada, die USA, Australien, Brasilien, Japan u.a.O. erstreckten Kundenkreis.

Der Polyhistor Professor Doktor Walter Myss hatte sich nach der Veröffentlichung kunsthistorischer und lyrischer Bände gegen Ende der 60er Jahre auch siebenbürgischer Thematik zuzuwenden begonnen. Schon der erste Buchtitel machte das Besondere des Blickwinkels deutlich, mit dem er es tat: Seine Beleuchtung des „Geisteslebens der Siebenbürger Sachsen im Spiegel der Zeitschrift ,Klingsor‘“ („Fazit nach 800 Jahren“, 1968) wurde von der Warte europäischer Maßstäbe aus geschrieben. Es ist wohl im Bewusstsein des spezifischen transsilvanischen Kulturakzentes verfasst, dieser erscheint jedoch ausdrücklich eingebunden in den größeren europäischen Zusammenhang.

Das blieb bestimmend für alles, was Myss an Stoffen aus diesem Bereich behandelte. Auch sein ihm immer bewussterer Schmerz um das finis saxoniae in Siebenbürgen ist vor dem Hintergrund gesamteuropäischer Gegebenheit zu sehen. Auf meine Feststellung: „Der deutsche Exodus aus Europas Südosten ist – was bisher die wenigsten begriffen – nichts anderes als ein europäischer Exodus in deutscher Sprache“ („Gestalten und Gewalten“, 1982), reagierte er mit nachhaltiger Vehemenz, er bezeichnete sie als „eine Schlüsselerkenntnis“ (Brief vom 27. Juni 1982). Wie sehr ihn der Schmerz um den historischen Verlust in Siebenbürgen persönlich verletzte, fasste er in die erste Strophe seines Gedichtes „Land des Segens“ (1976): „Das ist der Nächte wirrer Zwist, / der Träume dunkler Rest, / dass alles, was verloren ist, / mich niemals mehr entläßt.“ Seine „77 Thesen zur Zukunft der Siebenbürger Sachsen“ (1985) sind das Dokument eines – mit dem Unterton der Verzweiflung zu Papier gebrachten – Aufbegehrens gegen die Endgültigkeit des historischen Bruchs, dessen Dramatik und qualitative Dimension die unmittelbar betroffenen Generationen bei weitem noch nicht realisierten.

Neben dem großformatigen Werk „Kunst in Siebenbürgen“ (1991) bleibt Walter Myss’ unübersehbares Verdienst um das geistige Bewusstsein seiner Landsleute das einbändige „Lexikon der Siebenbürger Sachsen“ (1993) – das in letzter Stunde verfasste Handbuch einschlägiger Information zur geschichtlichen Existenz der Deutschen in Siebenbürgen. Mit Hilfe von vierzig Mitarbeitern – ausgewiesenen Kennern der Stichwortbereiche – bündelte er auf 620 Seiten in Wort und Bild die unerlässlich(st)en Daten. Ein Unterfangen, das Wagemut und intellektuelle Selbstsicherheit voraussetzte: denn es gab keine Vorarbeit dieser Gattung. Die nicht nur kritischen, sondern vor allem besserwisserischen Einwürfe vorwegnehmend, schrieb er mir in die Widmung des Geschenkexemplars den Satz: „Vollkommen ist’s sicher nicht, vielleicht werden ihm Weiterblickende – jenseits all dieses neidgenossenschaftlichen Für-und-Wider – eines Tages aber doch das Prädikat ,gut‘ zuerkennen.“ In einer Besprechung am 31. Mai 1993 im Bayerischen Rundfunk nannte ich das Lexikon „aus der Sicht der Siebenbürger Sachsen ein Jahrhundertwerk“. Das ist es zweifellos trotz aller Mängel, die ein Erstling dieses ehrgeizigen Vorhabens zwangsläufig aufweist; selbst in über 150 Jahre alten berühmten Enzyklopädien finden sich Unstimmigkeiten. Künftige Lexikographen werden sich – was hier als Aufforderung gemeint ist – der Überarbeitung und Erweiterung dieses Lexikons widmen. Die Ehre des ersten Wurfs aber ist Walter Myss nicht zu nehmen; für ungezählte Siebenbürger ist sein Lexikon längst zum vielbenützten, unverzichtbaren Vademekum geworden. Meinen beiden Exemplaren heftete ich bisher über einhundert Verbesserungs- und Ergänzungshinweise an – durchaus im Sinne des verstorbenen Freundes.

Waren schon die Programme des Verlegers Walter Myss im Blick auf siebenbürgische Fragen von einer kulturellen Vielfalt und Umsicht, die vergleichbare Verlagsunternehmen seither nicht mehr aufweisen – warum denn auch seine Buchausstellungen im Rahmen der Sachsentreffen in Dinkelsbühl zu Begegnungsstätten erster siebenbürgischer Autoren, Künstler und Intellektueller wurden –, so zeigte sich das auf kontinentale Maßstäblichkeit angelegte kulturhistorische, -morphologische und -philosophische Denken des Walter Myss im Licht seines Hauptwerkes in vollem Umfang: „Kunst und Kultur von Daidalos bis Picasso“ – 5000 Jahre Kunst- und Geistesgeschichte Europas in vier Bänden. Auf den insgesamt gut über eintausend Buchseiten nimmt Walter Myss eine revolutionierende Neugliederung der organischen Entwicklungs-Zeiträume seit dem nachweislichen Beginn des geistigen und künstlerischen Bewusstseins der Europäer vor. Er verwirft die noch bis gestern vorgetragene Schuleinteilung – Altertum, Mittelalter, Neuzeit – und spricht von Europa I, II und III. Europa I: die Zeit von 2700 bis 1700 v. Chr., Europa II: die Zeit von 1200 v.Chr. bis 400 nach Chr., Europa III die Zeit von 400 bis 2000 n.Chr.: „Die minoische Kultur brauchte 1000 Jahre, um ihr Kulturplateau zu erreichen. Fast 800 Jahre dauerte es, bis die Kunst der Hellenen im fünften vorchristlichen Jahrtausend zu klassischer Ausformung gelangte. Schließlich musste nach der Zerstörung der antiken Kulturwelt über ein Jahrtausend vergehen, ehe die abendländische Kunst in der Renaissance ihre Möglichkeiten (...) voll auszuschöpfen verstand.“ Die Fülle der Argumentationsdaten, das Novum der Untersuchungskriterien, die Kulturtheorien und deren Autoren, die Myss zum Beleg seines zyklischen Gliederungskonzeptes heranzieht bzw. zitiert und sich mit ihnen minutiös auseinandersetzt, können an dieser Stelle nur angedeutet werden, um Anliegen und Inhalt des vierbändigen Werks erahnbar zu machen. Hinzugefügt sei: Wer sich Walter Myss’ in der Beweisführung zwingenden Gliederungs-Entwurf zu Eigen macht, dem wird von den Abläufen der europäischen Bewusstseins- und Kulturbewegungen vieles verständlicher erscheinen. Sein Nachweis, dass wir am Ende der Europa-III-„Periode“ stehen, bezeichnet zugleich das Ende des uns vertrauten abendländischen Europa. Bleiben werden von Europa weltweit – so Myss – in Europa erdachte, von Europa entwickelte und geformte Muster, von der Technik bis zur Musik. Doch das alles muss in dem kolossalen Opus nachgelesen werden.

Mit dem Tode dieses Mannes scheidet ein universal gebildeter Geist aus dem Kreis der Siebenbürger Sachsen, wie es ihn in unserer Zeit auf diesem Niveau kein zweites Mal gab. Ihn zum Freund gehabt zu haben, war ein Privileg. Die Zuverlässigkeit seiner Wissenspräsenz, ihre Ausstrahlung im Gespräch, die Zwanglosigkeit der Mitteilung und ihre unaufdringliche Lebendigkeit machten das Beisammensein mit ihm zu Festen des Geistes. Dass kein Satz ex cathedra von ihm zu hören war, sondern jede Anmerkung vom Ton des freundschaftlichen Dialogparts getragen wurde, gehörte zu seiner Natur. Dem bewusst im Christentum wurzelnden Walter Myss sei ein Requiescat in pace! Ruhe in Frieden! nachgerufen.

Hans Bergel

Schlagwörter: Nachruf, Kultur, Kunsthistoriker, Verleger, Kronstadt, Österreich

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