30. Januar 2009

Thomas Nägler: ein Historiker, der Geschichte mitgestaltet hat

Archäologen graben Relikte der Vergangenheit aus, bleiben aber oft bei der Präsentation der Funde stehen, ohne sie geschichtlich einzuordnen. Historiker konzentrieren sich auf Urkunden und erzählende Quellen, die sie interpretieren und zu einem Bild des Gewesenen formen, oft aber ohne die ausgegrabenen Überbleibsel aus dem prallen Leben zu berücksichtigen.
Und Politiker denken viel zu selten in historischen Dimensionen, obwohl ein Blick in die Historie manchen von Vorgängern bereits gemachten Fehler hätte vermeiden helfen können, was schon die Römer wussten (historia, magistra vitae = Geschichte, eine Lehrerin fürs Leben). Prof. Dr. Thomas Nägler war sowohl als Archäologe als auch als Historiker und schließlich als Politiker tätig, in einer gelungenen Mischung, die die historisch-archäologische Kenntnis über Siebenbürgen vertieft und die Zeitgeschichte der Siebenbürger Sachsen bereichert hat.

Sein Werdegang ist eng mit Stolzenburg, dem Ort, in dem er am 30. Januar 1939 geboren wurde, und mit Hermannstadt, seinem zentralen Wirkungsort, verbunden. Er besuchte die Grundschule in seiner Heimatgemeinde. Seine Begabung, aber auch die Erkenntnis der Eltern, dass eine gute Ausbildung nach der Enteignung die einzige „Mitgift“ ist, die sie ihren Kindern mitgeben können, führte ihn von dort nach Hermannstadt ins Pädagogische Lyzeum und nach dessen Auflösung in das das Lyzeum Nr. 4, die Brukenthalschule. Nach der „Matura“ hat Nägler in Klausenburg zwischen 1957 und 1962 an der Babeș-Bolyai-Universität Geschichte studiert und seine spätere Frau Doina kennengelernt. Dort hat er sich bei Archäologen des Geschichtsmuseums und des Instituts für Geschichte und Archäologie, unter ihnen Constantin Daicoviciu und Kurt Horedt, die Kunst des sauberen Grabens und sorgsamen historischen Einordnens der Funde angeeignet, schließlich 1974 bei dem für seine nüchtern-penible Wissenschaftlichkeit bekannten Mediävisten Francisc Pall mit der Dissertation „Die Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen“ promoviert. Prof. Pall, der mittelalterliche Weltgeschichte lehrte, schärfte Näglers Blick für die allgemeinen historischen Zusammenhänge und auf das in diesem Kontext Wesentliche, auf einen Blick, den er verinnerlicht hat und der ihn bis heute kennzeichnet.
Begegnung zwischen Bundesaußenminister Hans ...
Begegnung zwischen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Thomas Nägler, Vor­sitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien, beim Heimattag in Din­kelsbühl (Pfingsten 1990). Im Vordergrund, von links nach rechts: Hans-Dietrich Genscher, Dankwart Reissenberger, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft, Ingrid von Friedeburg-Bedeus und Volker Dürr, Stellvertretende Bundesvorsitzende, Thomas und Doina Nägler. Auf der Ehren­­tribüne unter anderen Hermann Schmidt, Direktor der Brukenthalschule, der Bild­hauer Hans Wolfram Theil, Prof. Walter König, Arbeitskreis- und Kulturratsvorsitzender, und Kurt Franchy, Vorsitzender des Hilfskomitees. Foto: Konrad Klein
Sein beruflicher Werdegang führte ihn zwischen 1962 und 1969 ins Brukenthal-Museum, wo er als Archäologe und als Kustos der Mittelalter-Abteilung des Geschichtsmuseums arbeitete und bald zum Mitglied des Amtes für Denkmalschutz ernannt wurde, dann zum Hermannstädter Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften der Rumänischen Akademie, seit 1990 und bis zu seiner Pensionierung (1994) als dessen Direktor und als Hauptschriftleiter der „Forschungen zur Volks- und Landeskunde“. Nägler organisierte nicht nur den Umzug in die zuvor von Nicu Ceaușescu bewohnte Villa in der Schneidmühlgasse, sondern verhalf dem Institut in der Nachwendezeit auch zu neuem Ansehen im Inland und zu internationaler Anerkennung.

Umgehend nahm er intensive Beziehungen zum Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde auf, die später in einen Kooperationsvertrag gemündet sind. 1990 schon organisierte er die erste Tagung des AKSL nach der Wende in Rumänien und brachte auch gleich den amtierenden Ministerpräsidenten Petre Roman mit, der sich voll des Lobes über die geschichtswissenschaftliche Arbeit der Siebenbürger Sachsen äußerte. 1993 wurde er zum Professor an der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt ernannt, wo er bis heute Vorlesungen hält und Doktoranden betreut. Vom Dank für Näglers erfolgreiches Wirken als Hochschullehrer spricht die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Hermannstädter Universität (2005).

Als Archäologe und Historiker hat sich Thomas Nägler auf die Geschichte des siebenbürgischen Früh- und Hochmittelalters konzentriert. Sein Hauptwerk bleibt die „Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen“, das zwei deutsche und zwei rumänische Auflagen erleben durfte, eine Seltenheit bei wissenschaftlich anspruchsvollen Veröffentlichungen. Hier hat er seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, Erkenntnisse der Archäologie mit jenen der Geschichtswissenschaft zusammenzuführen, in interdisziplinärer Arbeitsweise auch die Sprachforschung und andere Fachbereiche mit einzubeziehen und in den europäischen Rahmen des Landesausbaus und der Kolonisation einzuordnen. Ebenso wichtig waren und sind Nägler die Beziehungen zwischen den Ethnien und Kulturen Siebenbürgens, denen er mehrere seiner über 60 Studien und das ebenfalls in zwei Sprachen erschienene Buch „Die Rumänen und die Siebenbürger Sachsen vom 12. Jahrhundert bis 1848“ (1997, 1999) gewidmet hat. Diesem Bemühen entsprach auch die Mitherausgabe einer zweibändigen Geschichte Siebenbürgens (mit Ioan Aurel Pop und Andrei Magyari, 1997, 2005), die auch in englischer Sprache veröffentlicht wurde, allerdings insgesamt eine doch eher einseitige Geschichtsbetrachtung aus Sicht der rumänischen Historiographie ist. Nägler ist Mitverfasser der „Geschichte der Deutschen auf dem Gebiete Rumäniens“ Band 1, 1979) und einer „Geschichte der siebenbürgisch-sächsischen Landwirtschaft“ (mit Josef Schobel und Karl Drotleff, 1984).

Bleibende Verdienste hat er sich um Organisation und Herausgabe des Katalogs der Ausstellung „800 Jahre Kirche der Deutschen in Rumänien“ erworben, der ersten großen Selbstdarstellung der Siebenbürger Sachsen nach der Wende, einem beeindruckenden Rückblick auf die Rolle der Kirche in der Geschichte seines Volkes. Am Beispiel der Gemeinde Birthälm schließlich hat er in einer Monographie den Mikrokosmos siebenbürgisch-sächsischen Lebens und Wirkens in seiner ganzen Breite und Tiefe beschrieben. Neben der Ehrendoktorwürde und einer Ehrenmedaille der Hermannstädter Universität (2005) wurde das wissenschaftliche Werk Näglers auch durch die Stephan-Ludwig-Roth-Medaille der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland (2003) und die Honterus-Medaille des Demokratischen Forums der Deutschen in Siebenbürgen (2006) gewürdigt.

Diese Medaillen galten aber auch dem Wirken Thomas Näglers nach der Wende, als er sich als Politiker in die Pflicht nehmen ließ. Noch in den letzten Dezembertagen 1989 wurde er zusammen mit Hans Klein, Hermann Pitters, Paul Philippi, Florin Albulescu, Friedrich Gunesch, Friedrich Schuster sowie Annemarie und Horst Weber Mitbegründer und am 24. Januar 1990 erster Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen (DFD) in Siebenbürgen, am 3. März 1990 Landesvorsitzender des DFDR. Der nunmehrige „Sachsengraf und Schwabenkönig“, wie ihn Professor Harald Zimmermann einmal scherzhaft nannte, entfaltete umgehend eine intensive Überzeugungsarbeit sowohl gegenüber den rumänischen Behörden (nicht zuletzt in einem Treffen mit dem neuen starken Mann in Bukarest, Ion Iliescu, indem er sich für die Lösung der spezifischen Probleme seiner Landsleute einsetzte, so die Wiedergutmachung der ab 1944 begangenen Übergriffe, der Deportation, Enteignung, Evakuierung und Umsiedlung etc.) als auch gegenüber den deutschen Politikern, die er für die Unterstützung der Anliegen der deutschen Minderheit in Rumänien in die Pflicht nahm. Unvergessen ist seine Begegnung mit dem damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und das ihm damals abgerungene Versprechen „Die Tür bleibt offen“. Mit großem Geschick bediente sich Nägler der Medien des In- und Auslandes um auf die Probleme seiner Landsleute aufmerksam zu machen, eine Stabilisierung des großen Exodus der frühen 1990er Jahre zu erreichen. Mit der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland knüpfte er alsbald enge, vertrauensvolle Beziehungen an, die bis heute bestehen. Wenn das DFDR heute nicht nur in Hermannstadt, wo es den Oberbürgermeister, den Kreisratsvorsitzenden und die Mehrheit des Stadtrates stellt, sondern in ganz Rumänien und im Ausland größte Achtung und Anerkennung erntet, dann ist das nicht zuletzt den gelungenen Anfangsjahren unter Professor Thomas Näglers Führung zu verdanken. Aus Gesundheitsgründen musste er sich 1994 zurückziehen, seine Verdienste um das „Wiederaufleben einer erloschen geglaubten Nation“ (so ein auf die Situation von 1990 übertragbarer Buchtitel von 1790, der nach der Rücknahme der „Zerschlagung des Königsbodens“ durch Kaiser Joseph II. erschienen ist) bleiben in ihrer historischen Dimension bestehen.

Konrad Gündisch

Schlagwörter: Wissenschaft, Historiker, Politik

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