11. Oktober 2010

Eine Frau, die sich nicht brechen ließ: Grete Loew

Am 17. September ließ Dr. Stefan Sienerth, Direktor des Münchner Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS), die Bombe in der Süddeutschen Zeitung platzen: Oskar Pastior von 1961 bis 1969 in Diensten der Securitate, IM-Deckname „Otto Stein“! Damit war er Ernest Wichner, dem Leiter des Berliner Literaturhauses und Herausgeber von Pastiors Werkausgabe, zuvorgekommen, der damit ebenfalls an die Öffentlichkeit gehen wollte. Eigentlich hatte Sienerth vor, seine Akten-Recherche erst auf der Tagung des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde „Die Securitate in Siebenbürgen“ in Jena vorzustellen. In der Studie spielt auch Pastiors Bürokollegin Grete Loew eine wichtige Rolle (vgl. Spiegelungen 3/2010). Dem folgenden Artikel war ein Besuch bei Grete Loew vorausgegangen. Als Sienerths akribische Rekonstruktion erschien, schrieb ich ihn kurzfristig um, um eine Korrelation mit seinen Erkenntnissen zu erreichen. Einiges erscheint hier erstmals, anderes wurde vertieft.
Die Haftzeit und der Beschäftigungsstatus in Grete Loews Rentenversicherung ist auf den Tag genau verzeichnet: „07.08.1959 – 27.10.1961: 27 Mon. Polit. Haft, Gewahrsam“. Was 27 Monate in spätstalinistischen Haftanstalten bedeuteten, weiß nur jemand, der Ähnliches durchgemacht hat. Dass Loew davon erzählt, ohne ein böses Wort über jemanden zu verlieren, ist an sich schon ein Wunder. Schon gar nicht über Pastior selbst, der ihr das Ganze – freilich unwillentlich – eingebrockt hatte. Aber eins nach dem anderen.

Gleich vorweg etwas zur Schreibung des nach Reußmarkt weisenden Namens Loew. Grete Loew und ihre Angehörigen schrieben sich stets „Loew“. Die Schreibweise „Löw“, die jetzt durch die Presse geht, ist ironischerweise jene der Securitate-Akten, die sich an der phonetischen Schreibung bzw. Aussprache des Namens im Rumänischen orientieren.

Grete Loew, geboren 1927 in Hermannstadt, ist eigentlich gelernte Kinderkrankenschwester. Als ihr die neuen Machthaber die Zeugnisse der Schwesternschule des Hermannstädter Kinderschutzvereins (Leitung: Dr. W. Hager) nicht anerkannten, ging sie für zwei Jahre als Fabrikschwester zur Virola (der ehemaligen Fabritiusischen Kesselschmiede). 1951 wechselte sie ins Baufach. So kam es, dass Loew 1954-55 den Bürotisch bei der Baufirma Construcții 5 mit Oskar Pastior teilte (dieser hatte seinen Militärdienst 1951-53 bei einem Bauunternehmen in Neppendorf bei Hermannstadt geleistet, wo er sich im Bereich Statik als Betonfachmann einarbeitete und anschließend hier weiterbeschäftigt wurde). Man war sich sympathisch und führte anregende Gespräche. Gleichwohl fühlte sich Loew vom eigentlich „feschen und hübschen Mann“ erotisch nicht angezogen: „Er hatte auf mich eine negative erotische Ausstrahlung“. Von seiner Homosexualität erfuhr sie erst in Deutschland. Desto überraschter war sie, als ihr Bürokollege noch 1954 die angehende Bukarester Kunststudentin und spätere Volkskundlerin Roswith Capesius (1929-1984) heiratete und sogar deren Familiennamen dem eigenen hinzufügte: Oskar Pastior Capesius. (Dass es eine Schein- bzw. ‚Schutzehe’ gewesen sei, ist ein absurdes Gerücht, auch wenn es Roswith später nicht immer leicht fallen sollte, mit „Ossis“ Neigungen klarzukommen.)

Als Pastior im August 1955 seine Stelle kündigte, um nach Bukarest umzuziehen, vertraute er seiner Arbeitskollegin ein Konvolut an Gedichten an, die seine Deportationszeit in einem sowjetischen Arbeitslager thematisierten. Sie möge sie aufbewahren, damit er gegebenenfalls auf sie zurückgreifen könne. Im Herbst 1955 nahm Pastior sein Germanistikstudium in Bukarest auf. Im Herbst 1957 meldete er sich wieder bei Grete Loew zurück mit dem Wunsch, sie möge die Gedichte nochmals abschreiben, ihnen neue Titel geben und als Verfasser den jüdischen Namen O. Hornbach einsetzen. Damit solle der Anschein erweckt werden, dass hier ein Häftling aus dem KZ Buchenwald seine Erinnerungen aufarbeite und es nicht um seine höchsteigenen Erfahrungen aus seiner Deportationszeit gehe. Pastior hatte diese Vorsichtsmaßnahme aus purer Angst heraus getroffen, weil nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes von 1956 allenthalben im Ostblock Verfolgungen und Verhaftungen von „antikommunistischen Elementen“ eingesetzt hatten.

Grete Loew (Mitte) mit Arbeitskollegen auf der ...
Grete Loew (Mitte) mit Arbeitskollegen auf der Baustelle Construcții 505 in Talmesch, um 1956/58. Zweiter von links: Tiefbautechniker Wieland Kristoffy, daneben Helga Minth. Foto: Sammlung G. Loew
Das Unglück für Grete Loew nahm im Herbst 1958 seinen Lauf, als sie sich in Klausenburg mit einem österreichischen, aus Siebenbürgen stammenden Reiseleiter traf, der mit einer Touristengruppe Rumänien besuchte. Neben einem Päckchen überbrachte ihr dieser auch eine Botschaft des seit Kriegsende in Österreich lebenden Bruders, der versprach, alles zu tun, um Gretes Ausreise zu erreichen. Sogar Geheimtinte und einen Geheimcode schlug er ihr zur Nachrichtenübermittlung in Briefen vor.

Offensichtlich wurde das Gespräch abgehört, denn Grete Loew wurde danach von Klausenburger Geheimdienstoffizieren bei einer Befragung derart zugesetzt, dass sie eine schriftliche Bereitschaftserklärung zur Zusammenarbeit mit der Securitate abgab. Völlig aufgelöst offenbarte sie sich daraufhin in Hermannstadt ihrer besten Freundin Roswitha „Atta“ Lang, der Tochter des Theologen Dr. Karl D. Reinerth und Schwester des Zeithistorikers Karl M. „Kamick“ Reinerth. Auch Dr. Reinerth und dessen Neffe wurden ins Vertrauen gezogen – ein fataler Fehler, denn sein Neffe sollte sich als IM „Ion Lăzărescu“ in höchst unrühmlicher Weise hervortun und Loew und Pastior noch schwer belasten. (Problemanzeige: Sienerth erwähnt eine weitere, auf den 16. Mai 1958 datierte Verpflichtungserklärung Loews und meint, das Datum könne nicht stimmen. Nach Loews Erinnerung liegt wohl auch diesem Datum ein reales Geschehen zugrunde. Sie sei mal auf dem Weg zum Bahnhof durch zwei Geheimdienstoffiziere in Hermannstadt „entführt“ und in stundenlanger Drangsalierung zu einer IM-Mitarbeit erpresst worden. Man habe sich sogar auf den Decknamen „Anna“ geeinigt. Noch in der gleichen Nacht sei Loew zu ihrer Freundin Atta Lang gegangen, um ihr Herz auszuschütten. Dort habe gerade auch der allen Anwesenden freundschaftlich verbundene Fritz Cloos auf Besuch geweilt und Loew beruhigt: „Ich kann dich gut verstehen, ich weiß, dass es sehr schwer ist, nein zu sagen ... Ich verurteile niemanden, der dem nicht widerstehen kann, denn es ist sehr hart.“ Als „Anna“ nach Jahresfrist keinen einzigen Bericht abgeliefert hatte, gab es freilich kein Pardon mehr, so Loew.)

Am 27. Juli 1959 wurde Grete Loew erneut auf ihre Klausenburger bzw. Hermannstädter Verpflichtungserklärung angesprochen. Als Druckmittel setzte man zusätzlich die mittlerweile entdeckten, von ihr aufbewahrten Pastior-Gedichte „feindlichen Inhalts“ ein. Vergebens: Die hart Bedrängte blieb standhaft und zog es vor, ins Gefängnis zu gehen, statt ihre Freunde und Verwandten zu bespitzeln.

Besonders schlimm sei die etwa dreimonatige Untersuchungshaft in Kronstadt bis zum Prozess gewesen: „Genau wie sie Schlattner in seinen Roten Handschuhen beschreibt“. Beim Prozess warf man ihr wegen „Aufbewahrung und Verbreitung feindlicher Gedichte“ – Loew hatte Freunden auf einer Namenstagsfeier mal aus den Gedichten vorgelesen – eine Untergrabung der gesellschaftlichen Ordnung vor (Loew: „uneltiri contra regimului“). Am 30. September 1959 wurde sie vom Kronstädter Militärgericht zu sieben Jahren Haft und Entzug der bürgerlichen Rechte verurteilt. Anschließend wurde sie ins Gefängnis nach Zeiden gebracht – im dritten Monat schwanger! Unter den etwa 20 Frauen in der Zelle befanden sich bereits zwei prominente Häftlinge: die Astrophysikerin Maria „Muschi“ Roth (Tochter des Politikers Hans Otto Roth) und die Germanistin Hermine Pilder-Klein, die sich auch als Übersetzerin von Sadoveanu profiliert hatte (der als Präsident des Schriftstellerverbandes und „Held der Sozialistischen Arbeit“ für seine inhaftierte Übersetzerin nicht mal den Finger krumm machte). Man kommunizierte mit Klopfzeichen, aß dünne Krautbrühe mit ranzigen Grammeln und vertrieb sich die Zeit mit heimlichem Mühlespiel. Loew brachte es sogar fertig, kleine Figuren aus bunten Fäden mit einer Nadel zu sticken, die sie sich aus einem Schuhnagel mit Hilfe der eisernen Stockbetten geschmiedet hatte.

Zur Entbindung wurde Grete Loew für zwei Monate ins Gefängnisspital von Văcărești nach Bukarest verlegt. Anschließend kam sie für mehrere Wochen in Einzelhaft nach Klausenburg. Die längste Zeit bis zur Entlassung blieb Loew im Frauengefängnis in Miercurea Ciuc. 1961 kam sie in den Genuss einer politischen Amnestie, die auch Mütter mit Kindern unter drei Jahren betraf. Ihr Kind, einen Jungen, hatte man ihr noch in Bukarest weggenommen und in ein Kinderheim in Galatz gesteckt, wo ihn Loews Freundin „Atta“ Lang aufspürte und zusammen mit ihren Kindern aufzog. Als Grete Loew Oskar Pastior nach ihrer Haftentlassung in der Heltauergasse wiedersah, wechselte er die Straßenseite. Einen neuerlichen Anwerbeversuch der Securitate in Hermannstadt wehrte Loew ab, indem sie einen Schreikrampf vortäuschte. Danach hatte die endgültig Ruhe. Dezember 1964 übersiedelte sie mit ihrem Sohn nach Deutschland.

Erst anlässlich einer Gedichtlesung in Stuttgart, die bald nach Pastiors Entschluss, im Westen zu bleiben, stattfand (1968), begegnete Grete Loew ihren Bürokollegen wieder. Auch hier vermied er jeden Blickkontakt, wurde dann aber am Ausgang von Loew und ihrer Freundin Atta Lang abgefangen. Dabei sei es leider nur zu einem kurzen, sehr förmlichen Gespräch gekommen, bei dem Pastior einen „genierten“ Eindruck machte. Eigentlich wollte ihm Loew nur sagen, dass sie ihm die Sache mit den Gedichten nie übelgenommen habe. Doch alles sei im Belanglosen steckengeblieben. Ein weiteres Gespräch zwischen den beiden habe nicht mehr stattgefunden – auch wenn Pastior von einem solchen („als es sich fügte“) spricht.

Aus einer erst jetzt bekannt gewordenen Notiz Oskar Pastiors anlässlich eines Interviews 1992 mit Edith Konradt lässt sich schließen, dass ihn die Geschichte seiner ehemaligen Bürokollegin nicht losgelassen hatte und er sich in der Rolle des „schuldlos Schuldigen“ sah: „Als ich dann in Bukarest vom Hörensagen vom Prozess erfuhr und auch der Name der Kollegin fiel, man mich aber all die albtraumhaften Monate und Jahre über in trügerischer Ruhe und Ungewissheit ließ, fühlte ich mich dennoch schuldig. Ohnmächtig wehrlos und schuldig. Nur noch im Kopf auszumalen – Informationen gab es ja nie –, ob und in welchem Maße die womöglich bei ihr aufgefundenen paar Gedichte herangezogen wurden zur prästabilierten Urteils-,findung‘ über Menschen, und nicht über Gedichte, deren Original (als hätte mich das schützen können!) ich in Panik vernichtet hatte. Opfergabe – was wiegt sie?“ (Spiegelungen 3/2010, S. 261f.)
Lieber Haft als Verrat: Grete Loew im November ...
Lieber Haft als Verrat: Grete Loew im November 2009 in ihrer Wohnung in Lauffen a. Neckar. Foto: Konrad Klein
Erstaunlicherweise wurde das beschlagnahmte Gedicht-Heft dem Vater von Grete Loew zurückgegeben, der es einer befreundeten Familie (Fam. Edling) in Reußmarkt zur Aufbewahrung gab (heimlich fotografiert hatte man es in Loews Abwesenheit schon früh). Leider verliert sich hier die Spur der „Russlandgedichte“, denn nach dem Tod von Edling sen. wanderten dessen Kinder nach Deutschland aus. Die Gedichte seien gewiss nicht, wie sich Loew erinnert, antisowjetisch gewesen, es seien eher eine Art „Klagelieder“ gewesen, wo es um den ständigen Hunger, die Kleidung und das leidige Filzen gegangen sei. Nur eines habe sie wirklich angesprochen – dieses freilich so sehr, dass sie es auswendig lernte und hier für die Leser dieser Zeitung aufgeschrieben hat (siehe nebenstehenden Kasten). In einem weiteren Gedicht sei es um das Zerreißen von Familienfotos, die man während einer Razzia bei Pastior gefunden hatte, gegangen: „Und sie fielen wie Schnee“, erinnert sich Loew an die Stelle mit den zu Boden fallenden Fotoschnipseln.

Es ist ein sonniger Herbsttag im schwäbischen Lauffen am Neckar. Grete Loew sitzt auf der Terrasse eines Reihenhauses („mein zweites Wohnzimmer“), legt eine Patience und freut sich an den Meisen, die sich die Mandelkerne aus ihrer Hand holen. Ihre Wohnung ist mit selbstgemalten Aquarellen geschmückt und auf dem Bett räkelt sich eine zugelaufene Katze. Den Rummel um ihre Person kann Loew nicht verstehen und hätte ihn auch gern vermieden. Trotz schlimmer Erfahrungen trägt sie niemandem etwas nach und ist mit sich im Reinen: „Ich kann eher etwas aushalten, als andere zu verraten.“ Enttäuscht habe sie an Pastiors Verhalten nur, dass er ihr auswich, als sie auf ihn zugehen wollte. Seine mit sich selbst ausgemachte Bußbereitschaft („Ich bleibe lieber in der vermeintlichen Schuld“) findet sie gleichwohl nachvollziehbar. Am 14. Oktober wird Grete Loew ihren 83. Geburtstag mit ihren Freundinnen Atta Lang und Ruth Czetto feiern: „Man sollte immer auf die Zukunft hin leben.“ Aus ihrem Munde mehr als ein Predigtspruch. Wir gratulieren herzlich.

Konrad Klein


Nachbemerkung: Bei (bislang) fehlender Verpflichtungserklärung werden in Stefan Sienerths Texten die Klarnamen der einzelnen Securitate-Spitzel nicht genannt, auch wenn deren Identität praktisch zweifelsfrei feststeht. Vor allem Hermannstädter dürften keine Schwierigkeiten beim Zuordnen der richtigen Namen haben, wenn sie von einer Ethnografin und Malerin „Dorina Gustav“, einem in Bukarest lehrenden Germanistikdozenten „Johann Wald“ oder dem als Neffe des Historikers Dr. Karl D. Reinerth bezeichneten IM „Ion Lăzărescu“ lesen. Die eigentliche Überraschung beim Schreiben dieses Artikels war, dass Pastiors IM-Verpflichtung einigen Nahestehenden längst bekannt war. Sowohl Pastiors Frau Roswith als auch deren Mutter Hilde „Hillo“ Capesius wussten davon. Roswith Capesius, nach 1968 die Lebensgefährtin des Journalisten Hans Liebhardt, weihte diesen bereits früh in Pastiors unselige Verstrickung ein (freundliche Mitteilung H. Liebhardt, Sept. 2010). Hans Bergel wiederum besaß den Dichter Georg Hoprich belastende Dokumente, vermied aber aus verständlichen Gründen, sie mit dem Namen Pastiors in Verbindung zu bringen (vgl. Südostdeutsche Vierteljahresblätter 1/1990, S. 13-14).

Oskar Pastior: Vision

Ich sah heut Nacht im Traum das Meer
und war im tiefsten Grund darin,
war Erd’ und Himmel über ihm
war blaues Glas so leicht, so schwer.

Und aus dem Wasser flog ich leicht
und fiel im Firmament ins Licht,
am Horizonte sah ich nicht
den Strich, der an die Grenze reicht:

denn überall und wesenlos
war Grenze ich und auch Beginn,
war Erd’ und Himmel über ihm
und ruhte selbst im blauen Schoß.

Das hier abgedruckte Gedicht weicht von dem später im Band „Gedichte“ (1965) aufgenommenen ab. Offensichtlich hat Pastior die bei Grete Loew hinterlegte „Urfassung“ für den Druck nochmals überarbeitet.

Schlagwörter: Porträt, Securitate, Oskar Pastior, Zeitgeschichte

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