30. Oktober 2010

Dem Schriftsteller Ingmar Brantsch zum 70. Geburtstag

„Dieser Dichter-Kumpel mit einem bitteren Herzen, der mehrere Leben hat“ (Dieter Schlesak) Runde Geburtstage sind oft Anlass zum Nachdenken über das mit Anstand gemeisterte Leben. Bei dem Jubilar Ingmar Brantsch hätte man das 66., das 72. oder ein anderes Lebensjahr wählen können: ihm liegt weder an runden noch an Schicksalszahlen. Dennoch, bevor er 70 wurde, hat er längst begonnen, bewusst und kritisch auf sein eigenes Leben und damit auf eine Zeit zurückzublicken, die in Ost und West, bei Freund und Feind Zuspitzungen und dramatische Anlässe in Hülle und Fülle bot.
Seit 41 Jahren lebt der Schriftsteller in Köln, in der Bundesrepublik Deutschland, die er in seinem zweiten Gedichtband „Neue Heimat BRD oder Spätheimkehr nach 1000 Jahren“ in der Manuskripte-Reihe des Gauke-Verlags als Nummer 66 gehörig zauste. Das war im Namen der neu gewonnenen Freiheit, die sich der junge Poet in Bukarest und Kronstadt zuvor nicht ähnlich leisten konnte. Er war nicht in den Westen gekommen, um sich hier als Hilfe Suchender abspeisen zu lassen, so das Motto. Auch heute lässt er dies nicht zu. Er meldet sich, lautstark und unüberhörbar, wenn es um Ereignisse geht, die – nach seiner festen Überzeugung und aufgrund seiner Lebenserfahrung – so nicht geschehen sind/sein können. Da hält er mit seiner Kritik nicht zurück, spricht oft gegen den Wind, über Fakten, die er kennt, ob dies genehm ist oder nicht.

Brantsch gehört, wenn man Dieter Schlesaks Vorwort zum zweiten Gedichtband des Autors liest, zu den „Lebens- und Überlebenskünstler(n) mit Wort, Witz und Phantasie, ihre historische Erfahrung von der Kleinheit des Menschen und der Eitelkeit der Welt nützend, um die Tragik, ein Mensch zu sein, zu überwinden.“ Wichtiger erscheint mir, dass sich Brantsch in Rumänien und in der Bundesrepublik als aktiver Zeitgenosse betätigt, zu Wort meldet, wann immer er sich dazu berufen fühlt. Er ist hier Mitglied des Schriftstellerverbandes, er war es dort auch, was ihn nicht daran hinderte, 1970 die günstige Gelegenheit zu nutzen und den sich mit seinem „Sozialismus“ brüstenden Diktaturstaat Rumänien zu verlassen. Nicht für immer, denn nach der Wende war Brantsch oft in Rumänien, vielleicht noch öfter in Ungarn, denn für kleine und kleinste Minderheiten, für bescheidene Minderheitenliteraturen hat er sich zunehmend häufiger engagiert: für die ungarn-, die russlanddeutsche, für die weiter existierende rumäniendeutsche Literatur. Als studentischer Einzelkämpfer hat sich Brantsch in Köln in seinem Zweitstudium politisch betätigt. Was er damals festhielt („Einführung in den Antisophismus“, 1978), hat er in die Praxis umsetzen wollen: Trugschlüsse und Fehler aufdecken. Er versucht es heute noch. Auch in einem Projekt, das er als Rentner weiter betreut: Bildungschancen für Häftlinge der JVA Köln.

Ingmar Brantsch vor dem Friedrich-Schiller- ...
Ingmar Brantsch vor dem Friedrich-Schiller- Denkmal in Hermannstadt, 2010.
Seine literarische Tätigkeit hat sich als Nebentätigkeit zur täglichen Lehre entfaltet. Die frühen Versuche in der Bundesrepublik sind in Gedichte (meist Pamphlete, Grotesken) und Kurzprosa gemündet, auch in Reportagen, die allesamt scharfzüngig und schlagkräftig Gegensätze aufdecken, gegen Missstände einschreiten und immer wieder auf die Schwierigkeiten von Spätaussiedlern und Migranten verweisen. Der Autor liebt aphoristisches Aufblitzen: „Als wär ich end/lich gestorben,/ spüre ich/ die Alterserscheinungen/ Hunger, Durst, Liebe.// In der Jugend hatte ich Ideen („Alter“, in: „Neue Heimat BRD“). Schon in Bukarest war zu lesen: „Gott hat den Menschen erschaffen/ Damit er in der Bar sitzt/ und Minderwertigkeitskomplexe hat“ (in: „Deutung eines Sommers“). In Rumänien, bekennt der Nicht-Dissident, habe er auch kommunistische Euphorien in Verse gebracht. In der Bundesrepublik distanziert er sich von Rumänien und der neuen Heimat, wie es schon die Gedichttitel bezeugen: „Der ferngeliebte sozialist“, „Ich kam nicht als reuiger sünder“, „Mutterland brd oder ehrentitel agent aus dem osten“, „Ich bin bundesdeutsch geworden.“

Über sich und seinen Alltag, über die Dichterkollegen Schuth, Michaelis, Koch, Becker in Ungarn, Viktor Klein, Waldemar Eckert, Rudolf Jaquemien aus Russland, die heute in Rumänien lebenden Hans Liebhardt, Eginald Schlattner, Joachim Wittstock, Wolfgang Fuchs, Erika Scharf, Annemarie Podlipny-Hehn, Ioana Crăciun, Dan Cărămidaru schreibt Brantsch immer häufiger. Es handelt sich dabei um erlebte Geschichten, keine wissenschaftliche Literaturhistorie. Brantschs Überzeugungen stützen sich auf Erfahrungen, und für diese tritt er schnell entschlossen ein, das Momentane interessiert ihn. Die zusätzlichen Recherchen können später kommen, den Autor interessiert das Sich-Entwickelnde, sich Behauptende.

So spannend dieses Leben in der sich ständig verändernden Gegenwart ist, das Attraktivste im lyrischen Werk Brantschs, abgesehen von oder gerade wegen seiner Erstmaligkeit, war sein Gedichtband „Deutung eines Sommers“ (1967). Entspannung war angesagt, der Poet nutzte die Gelegenheit: Im Sommer, den Schulferien, durfte man sich entspannen, folglich waren Gedichte über Cha-cha, Bluebing, über Chanson d’amour als Freizeitspaß zugelassen, auch wenn man unpatriotisch deklarierte: „Ich lieb dich, kleine Französin“. Dass die Vorliebe für Französisches sich in Gedichten über Gemälde von Henri Rousseau („Unter der Oise“, „Die Brücke Sèvres“) oder van Gogh („Bildnis des Briefträgers Roulin“) äußerte, gehörte mit zu Bildungsangeboten der Freizeit. Wenn man noch retrospektiv den Dreißigjährigen Krieg in einer „Rede“ kritisch betrachtete („Die Steine der Hoffnung/ sind das Brot der Wüste“), Bukarest herzklopfend besang („Wo beim Überschreiten des Boulevards/ Die Uhr der blühenden Herzen schlägt…“), dann durfte man sich kleine Alltagsgedichtchen an Gudrun oder Elke leisten, auch noch Ludwig Erhard im „Karneval von Fürth“ karikieren und schließlich war auch ein Gedicht wie „Nicht mit dem Blut“ nicht untersagt: „Die Heimat verteidigen,/ nicht mit dem Blut,/ draus wachsen Rosen,/ Empfangsteppiche des Kleinmuts,/ sondern mit den Knochen./ Disteln grenzen die Freiheit ab.“ Dieser lockere, manchmal dissonante Tanz zwischen den Stühlen hätte weitere Chancen gebraucht, aber da war Brantsch längst mit der neuen Heimat BRD beschäftigt, unnachgiebig, unentwegt. Was kann man dem Prosaautor wünschen: dass er zur Poesie zurückkehrt? Ob sich das noch so unbeschwert reimt wie vor dem Hintergrund der Sechziger, wird der Siebziger besser wissen.

Horst Fassel, Tübingen

Ingmar Brantsch

geb. am 30. Oktober 1940 in Kronstadt
Studium: 1957-1962 Bukarest (Germanistik, Rumänistik, Slawistik), 1970-1976 Köln / Bonn (Germanistik, Geschichte, evangelische Theologie, Philosophie, Pädagogik)
Beruf: Gymnasiallehrer in Kronstadt (1964-1970), Köln (1978-2007)

Veröffentlichungen

„Deutung des Sommers“. Gedichte, Bukarest 1967
„Neue Heimat BRD“, Hannoversch Münden 1983 „Karnevalsdemokratie oder Eulenspiegel, der einsame Rebell“, Frankfurt (Main) 1985
„Das Leben der Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg im Spiegel ihrer Dichtung“, Wien 1995
„Das Leben der Rußlanddeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg im Spiegel ihres Schrifttums“, Wien 1999
„Goethe und Heine hinter Gittern“, Vechta 2004
„Pisastudie getürkt“, Vechta 2006
„Das Weiterleben der rumäniendeutschen Literatur nach dem Umbruch“, Vechta 2007
„Ich war kein Dissident“, Ludwigsburg 2009
„Inkorrektes über die Political Correctness“, Vechta 2009

Schlagwörter: Porträt, Schriftsteller, Geburtstag, Kronstadt, Köln

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