29. Dezember 2011

CD mit siebenbürgisch-sächsischen Mundartliedern

Wenn Goethe forderte, man solle jeden Tag ein Gedicht lesen und ein Lied hören, so war das zu seiner Zeit nicht ohne weiteres zu bewerkstelligen. Heute aber dürfte diesem bemerkenswerten und weisen Ratschlag leicht Folge zu leisten sein: Es gibt eine große Zahl von mühelos zugänglichen Gedichtsammlungen aller Art aus der gesamten Literatur und genug moderne Tonträger mit Liedeinspielungen, seien es Volkslieder oder „Kunst“lieder, die man jederzeit auf Knopfdruck hören kann. Das trifft auch für Lyrik und Lieder siebenbürgischen Ursprungs zu. Auch sie sind durch Gedichtpublikationen und Tonträger erreichbar. Vorträge und Konzertaufführungen können den täglichen Bedarf im Sinne Goethes natürlich nicht decken. Deshalb ist es gut und wichtig, dass wir Tonaufnahmen haben, besonders wenn sie, wie die hier in Rede stehende, authentische und neue Aspekte liefern.
Siebenbürgische Volkslieder und Gesangkompositionen präsentieren sich auf Tonträgern überwiegend im chorischen Gewand. Dieses passt zwar nicht zu jedem Lied, entspricht aber der gängigen siebenbürgischen Tradition eines überaus regen, verbreiteten Chorgesangs und gemeinschaftlichen Musizierens. Manche von bekannten Tonschöpfern geschaffenen und zu Volksliedern gewordenen Vokalkompositionen sind ja auch als Chorlieder entstanden. Viele aber sind einstimmig konzipiert oder, wie die alten Volkslieder, einstimmig überliefert (sie wurden höchstens von Lyra, Harfe oder Laute begleitet). Einstimmiges Singen ist in Siebenbürgen seit langem nicht mehr üblich gewesen. Improvisierte oder geübte Zwei-, gelegentlich Dreistimmigkeit, sind dem bekanntermaßen musikalisch begabten Siebenbürger beim Singen inneres Bedürfnis. Oder/und es muss ein volkstümliches Harmonieinstrument hinzutreten, wie es zur Zeit der Jugendmusik- und Wandervogelbewegung und auch schon früher geschah, als Laute, Gitarre, Klampfe, Harmonika oder Akkordeon den Volkssänger und die singende Gruppe begleiteten.

Was Einspielungen betrifft, können wir die jüngst erschienene CD mit siebenbürgischen Liedern als Novum u n d Novität bezeichnen. Sie ist längst fällige Ergänzung zu den dominierenden Einspielungen von Chorsätzen, indem sie die andere Seite volksmäßiger Tradition und Musizierart aufgreift, die verbreitet war, in letzter Zeit jedoch im praktischen Musizieren und in der Tonträgerproduktion vernachlässigt wurde, nämlich den Sologesang mit Begleitung eines Instruments. Darüber hinaus zeigt sie, dass sich diese Musizierform samt dem originellen, heute im Konzertbetrieb unüblichen Repertoire von Volksliedern und „Kunstliedern im Volksmund“ auch hervorragend zum Konzertieren eignet. Die beiden Künstlerinnen verstehen es zudem, sowohl Repertoire als auch Art der Darbietung in die Nähe klassischer Kunstmusik zu rücken – an deren Seite sie durchaus bestehen können – und so eine Art Synthese beider Stilrichtungen herzustellen.
Die Mezzosopranistin Hildegard Bergel-Boettcher ...
Die Mezzosopranistin Hildegard Bergel-Boettcher und Andrea Gatzke (Gitarre) am 22. Oktober 2011 in Kornwestheim. Foto: Werner Sedler
Hildegard Bergel-Boettcher und Andrea Gatzke haben auf ihrer CD Programme vereinigt, die sie bereits des Öfteren und mit Erfolg in Konzerten vorgetragen haben. Der Inhalt der Platte umfasst ausschließlich siebenbürgisch-sächsische Mundartlieder, und zwar sowohl alte und ältere Volkslieder als auch neuere, im 19. und 20. Jahrhundert komponierte, ins Volk gedrungene und weitverbreitete Lieder auf Texte siebenbürgischer Mundartdichter. Dabei gelingt es der Sängerin, wie oben angedeutet, in glücklicher, wohltuender Weise, mit sicherem Gespür, den schlichten, herzwarmen, dem musikalisch hochstehenden Volkslied gemäßen Gesang mit der anspruchsvollen Ästhetik kunstmäßigen Liedvortrags organisch zu kombinieren und differenziert am jeweiligen Charakter der Lieder auszurichten. An keiner Stelle wird man an den unseligen sentimentalen und kitschigen Lied- und Gesangsstil erinnert, der leider oft in Konzerten und Veranstaltungen sein Unwesen treibt. Die unaufdringliche und doch durchweg präsente, ergänzende, stützende und bereichernde Gitarrenbegleitung, die bei den alten Volksliedern an die Stelle von Laute oder Harfe tritt, beschreitet ebenfalls den Weg zwischen klassich-kunstmäßigem und volkstümlichem Stil. Konzipiert von der Gitarristin selbst – gelegentlich auch mit Einleitung, Zwischen- und Nachspiel –, ist sie von bemerkenswerter Einfühlung, erlesenem Geschmack und in der instrumentalen Ausführung von meisterlicher Perfektion und bewegend schöner, weicher, dunkler, lautenähnlicher Tongebung.

Die Lieder sind nicht nach stilistischen und entstehungsgeschichtlichen Gesichtspunkten ­geordnet, sondern nach Textinhalten und Themen­kreisen. So ergibt sich zwar keine stilistisch-gattungsspezifische und historische Orientierungshilfe, dafür aber eine abwechslungsreiche, spannende Folge verschiedenartiger Lieder. Einleitend ist das wohl berühmteste und älteste, von Friedrich Wilhelm Schuster aufgezeichnete und 1865 in Hermannstadt veröffentlichte, von Gottlieb Brandsch 1931 in seine Volksliedersammlung übernommene, auch in mehreren Liederbüchern in Deutschland nachgedruckte Lied aus dem 12. Jahrhundert „Et saß e klin wäld Vijeltchen“ zu hören. Es erscheint hier – im Vergleich zu der auf Volksüberlieferungen fußenden Referenzedition von Brandsch – im durchgehenden Dreivierteltakt, ohne Taktwechsel und mit einigen rhythmischen Eigenheiten, die aber plausibel und vertretbar sind: Niemand weiß, wie die ursprüngliche Melodiegestalt ausgesehen hat. Leider aber ist die mit Bestimmtheit vorauszusetzende äolische Tonart auch hier, wie in allen chorischen Aufnahmen und Liederbüchern, gemieden worden. Auf dieses Lied folgt der ungewöhnliche, aber reizvolle Sprung ins 19. und 20. Jahrhundert und damit zu den Liedschöpfern – fast alle sind vertreten –, die volksnahe, volksliedhafte und in allen Schichten der Bevölkerung Siebenbürgens verbreitete und beliebte Lieder komponiert haben. Dazwischen tauchen noch einige der alten Volkslieder auf. Wir erleben also einen bunten Strauß von Liedern und emotiven Kräften, denen sich jene Hörer immer wieder gerne hingeben, die sie kennen, und die jene mit wachsendem Interesse und steigender Spannung verfolgen, die sie noch nicht kennen. Die einen lassen sich durch sie in den erinnerungsträchtigen heimatlichen Kosmos entführen, die anderen werden an die siebenbürgische (und natürlich auch allgemein menschliche) Seele, Gefühlswelt und Lebensart herangeführt. Die Kurzbiographien von Bergel-Boettcher und Gatzke sind dem ansprechend gestalteten Booklet zu entnehmen, das auch ein Vorwort von Hans Bergel mit weiteren Informationen bringt. Wenn es üblich ist, die gesungenen Texte im Begleitheft zu wiederholen, so finden wir darin in unserem Fall nur Übertragungen ins Hochdeutsche. Diese geben den Inhalt wieder, folgen größtenteils nicht dem melodischen Duktus, sind also nicht als Singvorlage gedacht. Für Mundartkundige wäre es sicher wünschenswert gewesen, die Originaltexte zum Mitlesen oder gar Mitsingen vor sich zu haben.

Karl Teutsch

Sanj ta mer mi – Siebenbürgische Lieder. CD, Tonstudio Pfitzenmaier, Bad Honnef, 2011, zum Preis von 16 Euro, zuzüglich 2 Euro Porto, erhältlich bei Hildegard Bergel-Boettcher, ­Telefon: (0221) 394605, E-Mail: h.bergel-boettcher [ät] gmx.de.

Schlagwörter: CD, Volksmusik

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