5. Juli 2013

Verabschiedung von IKGS-Direktor Prof. h.c. Dr. Stefan Sienerth in den Ruhestand

Im Rahmen der internationalen Tagung „Rumäniendeutsche Erinnerungskulturen. Formen und Funktionen des Vergangenheitsbezuges in rumäniendeutscher Historiografie und Literatur im Kontext kulturwissenschaftlicher Beschreibungsmodelle“, die das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) vom 27. bis 29. Juni in München veranstaltete, wurde dessen langjähriger Mitarbeiter und Direktor Prof. h.c. Dr. Stefan Sienerth in den Ruhestand verabschiedet. Sabine Deres, Ministerialrätin beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und Kuratoriumsvorsitzende des IKGS, betonte in ihrem Grußwort, dass sie sich im IKGS immer aufgehoben gefühlt habe. Es habe „das gewisse Etwas“, dort herrsche „ein ganz besonderer Geist“, so Deres. Der „gute siebenbürgische Ratgeber“ Sienerth, dem sie „jugendlichen Forscherdrang“ attestierte, habe das Institut „sehr erfolgreich in der Südosteuropaforschung verankert“, nicht zuletzt durch dessen Anerkennung als An-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München im Oktober 2004. „Ich habe große Hochachtung vor Ihrem beruflichen Lebenswerk“. Prof. Dr. Rudolf Gräf, Prorektor der Babeș-Bolyai-Universität Klausenburg, an der Sienerth selbst studiert hat, überreichte ihm im Namen von deren Rektor Ioan Aurel Pop die Medaille der Universität Klausenburg und ein Ehrendiplom. Den Festvortrag zu Ehren des scheidenden IKGS-Direktors, den Prof. Dr. Jürgen Lehmann (Erlangen/Freiburg) hielt, kann man im Folgenden in Auszügen lesen.
(...) Will man Stefan Sienerths wechselvolles Leben, insbesondere seine wissenschaftliche Laufbahn und das diese Laufbahn bestimmende Verhältnis von Vielfalt und unverwechselbarem Profil präzis und aussagekräftig charakterisieren, so drängt sich ein Bild auf, das – auch wenn es bisweilen im Übermaß verwendet worden ist – hier als besonders angemessen erscheint, und das ist das der Brücke. Denn Sienerths Vita ist geprägt durch das Überwinden von Gegensätzen und Kontrasten, durch ein Stehen an und ein Blicken in Abgründe, deren Überschreiten, deren Überwinden existenzsichernde Notwendigkeit war: im Verlauf eines Lebens zwischen Rumänien und Deutschland, zwischen Diktatur und Demokratie, im Rahmen eines Wirkens, das gezeichnet ist von den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verwerfungen und Umbrüchen während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Geboren 1948 im siebenbürgischen Durles bei Mediasch hat Stefan Sienerth nach seinem Philologie-Studium in Klausenburg/Cluj (1966-1971) 1971-1974 an der Pädagogischen Hochschule in Neumarkt/Tîrgu Mureș als Hochschulassistent Deutsch als Fremdsprache unterrichtet und war danach zwölf Jahre als Hochschullehrer für Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft in Hermannstadt tätig. In diese Zeit fällt auch die 1979 erfolgte Promotion an der Universität Bukarest mit einer Arbeit über die Siebenbürgisch-Deutsche Lyrik um die Jahrhundertwende. Darüber hinaus entwickelte Sienerth bereits während dieser Jahre eine umfängliche und vielseitige Publikationstätigkeit, profilierte sich bereits während dieser Jahre in Lehrbüchern, Monographien, Artikeln und Rezensionen als kenntnisreicher Historiker der deutschen, österreichischen und siebenbürgisch-deutschen Literatur, als Herausgeber von Anthologien sowie als engagierter Vermittler rumäniendeutscher Literatur in Rumänien. Nach der staatlich verordneten Auflösung der Germanistik-Abteilung in Hermannstadt wechselte Sie­nerth in die Sprachwissenschaft, wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Lexikographie am Institut für Sozial- und Geisteswissenschaft in Hermannstadt, wo er u.a. am Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch mitarbeitete.

1990 ist Stefan Sienerth in die BRD ausgereist. Nach schwierigem Beginn in einer Gesellschaft, die ihre aus dem Osten kommenden Brüder und Schwestern bekanntlich nicht immer mit offenen Armen empfing, fand er 1991 zunächst als Projektmitarbeiter, ab 1992 als wissenschaftlicher Mitarbeiter ein neues Arbeitsfeld beim Südostdeutschen Kulturwerk, dem Vorgänger des heutigen IKGS, das er von 2005 bis 2013 geleitet hat. Sienerth hat also Fuß gefasst in der BRD, hat aber bestehende Brücken zu seinem Herkunftsbereich nicht abgebrochen, sondern diese eher verstärkt und – gerade auch im Rahmen seiner Tätigkeit am IKGS – neue gebaut; beispielhaft zeigt sich dies an der für beide Seiten fruchtbaren Zusammenarbeit mit literaturwissenschaftlichen und historischen Institutionen in Rumänien, Ungarn und Slowenien. Alles in allem also ein vielseitiges, reiches und kontrastreiches Leben – als Forscher und Lehrer, als Herausgeber, Kritiker, Übersetzer und Manager, dessen Fleiß, Engagement und Energie das IKGS viel verdankt.
Stefan Sienerth (links) und Rudolf Gräf. Foto: ...
Stefan Sienerth (links) und Rudolf Gräf. Foto: Gunter Roth
(...) Sienerths Aktivitäten als Brückenbauer sind zu umfangreich, um sie hier im Einzelnen vorzustellen. Ins Auge fallen sie sofort im Kontext seiner Bemühungen um die Pflege der siebenbürgischen Gegenwartsliteratur, an der ihm – gemeinsam mit seinem Bruder im Geiste Peter Motzan – sehr gelegen ist. Brückenbauer ist er dabei zum einen als Vermittler zwischen Literaturwissenschaftlern und Dichtern. Ich kenne keine von Sienerth und Motzan initiierte Tagung, in deren Rahmen nicht deutschsprachige und rumänische Dichter zu Wort gekommen wären, z. B. Franz Hodjak, Ernest Wichner, Erwin Wittstock, Wulf Kirsten auf deutscher, Ana Blandiana, Nora Juga, Mircea Cărtărescu u.a. auf rumänischer Seite. Erkennbar ist solcherart lebendige Vermittlung zwischen Primär- und Sekundärliteratur auch in den vielen Interviews mit Autoren, dokumentiert im 1996 erschienenen Band „,Dass ich in diesen Raum hineingeboren wurde ...‘ Gespräche mit deutschen Schriftstellern aus Südosteuropa“ sowie in den Zeitschriften „Südostdeutsche Vierteljahresblätter“ und „Spiegelungen“. (...)

Erfolgreich war und ist Sienerth auch beim Errichten von Brücken zwischen der deutschsprachigen und der rumänischen Gegenwartsliteratur. Bereits 1977 hat er in einer Reihe von Artikeln mit dem Titel „Tineri poeti germani din România“ dem rumänischen Publikum junge rumäniendeutsche Autoren vorgestellt und diese Art der Vermittlung bis in die Gegenwart engagiert weitergeführt, in seiner dreibändigen Literaturgeschichte der Siebenbürger Sachsen, in Artikeln über die Zweisprachigkeit rumäniendeutscher Autoren, im Rahmen von Übersetzungen, im Zusammenführen von rumänischen und deutschsprachigen Dichterinnen und Dichtern, die wie Nora Juga oder Erwin Wittstock zugleich Übersetzer sind.

(...) Besonderes Gewicht in Sienerths literaturwissenschaftlicher Tätigkeit besitzt die Literaturgeschichte der Siebenbürger Sachsen: Sie hat er in Monographien und zahlreichen Artikeln kenntnisreich und detailliert dargestellt. Ihre Lektüre vermittelt einen Gang durch deren gesamte Entwicklung, von Zeugnissen des späten Mittelalters über Barock, Aufklärung, Romantik und Realismus bis hin zu Repräsentanten der zeitgenössischen Literatur in Gestalt von Franz Hodjak, Werner Söllner, Joachim Wittstock, Herta Müller u.a. Grundlage dieser literaturgeschichtlichen Arbeiten war von Beginn an ein akribisches Quellenstudium, u.a. im Hermann­städter Staats­archiv, in der Hermannstädter Brukenthal-Bibliothek. (...) Den Willen, dieses Schrifttum als ein historisch gewachsenes Ganzes zu erfassen, zeigt bereits die dreibändige, 1984, 1989 und 1990 im Klausenburger Dacia-Verlag erschienene „Geschichte der Siebenbürgisch-deutschen Literatur“. Sienerth schildert hier deren Entwicklung von ihren Anfängen im Mittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Dabei zeigt sich bereits in dieser frühen umfangreichen Publikation eine für Sienerths literaturwissenschaftliches Arbeiten charakteristische Besonderheit: die Verschränkung von literarischen mit historiographischen Interessen.

(...) Konzeptionell etwas anders, weil stärker auf Autoren bezogen, hat Sienerth diese Arbeit an Längsschnitten durch die Literatur Siebenbürgerns bis in die Gegenwart fortgesetzt. Das geschah zum einen in zwei mit Joachim Wittstock betriebenen Projekten, den 1979 und 1992 im Bukarester Kriterion-Verlag publizierten Bänden „Die Literatur der Siebenbürger Sachsen in den Jahren 1848-1918“ und „Die rumäniendeutsche Literatur in den Jahren 1918-1955“, zum anderen in der zweibändigen, 1997 und 1999 in München erschienenen Literaturgeschichte „Die deutsche Literatur Siebenbürgens“ mit Beiträgen von Sienerth, Wittstock u.a. zu dieser Literaturentwicklung von den Anfängen bis zum Vormärz. (...) Es ist besonders verdienst­voll in diesem Zusammenhang, dass der Literaturhistoriker Sienerth viele der Texte, über die er schreibt, seinen Lesern auch zugänglich macht, in Editionen, vor allem aber in zahlreichen Anthologien, z.B. Lyrikanthologien wie „Wintergrün“ (1978), „Wahrheit vom Brot“ (1980), „Ausklang“ (1982) und „Das Leben ein Meer“, auch als Mitherausgeber der „Buche“ u.a.

Einen spezifischen Schwerpunkt erhält Sienerths literaturgeschichtliches Arbeiten durch sein Bemühen um ein erinnerndes Bewahren all dessen, was vergessen war bzw. was der Gefahr unterliegt, vergessen zu werden. Das (...) betrifft u.a. Autoren, die aus politischen Gründen zum Verstummen gebracht bzw. sich selbst auf Grund unsäglicher und deshalb unsagbarer politischer Umstände ein Verstummen auferlegt haben. Der berühmte russische Philologe Roman Jakobson hat in Bezug auf dieses weite Teile der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts betreffende Phänomen von den „vergeudeten Dichtern“ gesprochen. Mit seinen Editionen hat Sienerth solchen „vergeudeten“ rumäniendeutschen Dich­tern wie Georg Hoprich ihre Stimme wiedergegeben, sie für die Öffentlichkeit wieder hörbar gemacht, hat sie im kulturellen und kollektiven Gedächtnis der Rumäniendeutschen verankert. Nicht vergessen sei in diesem Zusammenhang, dass er, Peter Motzan und andere Mitarbeiter des IKGS nicht selten auch den aus Rumänien vertriebenen, heimatlos gewordenen Dichterinnen und Dichtern in Publikationsorganen des Instituts „Sitz und Stimme“ gegeben haben, die nach ihrer Übersiedlung in ein gar nicht immer heimatliches Deutschland Schwierigkeiten hatten, wahrgenommen und anerkannt zu werden.

Prof. Dr. Jürgen Lehmann. Foto: Gunter Roth ...
Prof. Dr. Jürgen Lehmann. Foto: Gunter Roth
Bisheriger End- und Höhepunkt dieses Arbeitens gegen das Vergessen ist Sienerths ungemein verantwortungs- und verdienstvolle Beschäftigung mit den die rumäniendeutsche Literatur betreffenden Akten des rumänischen Geheimdienstes Securitate. Angesichts mancherlei Bestrebungen, das Jahr 1989 als Stunde Null, als trennenden Schnitt zwischen Vorher und Nachher zu definieren, beharrt Sienerth auch hier auf allerdings nicht immer erfreulichen Kontinuitäten im Bemühen, die z. T. schrecklichen Hintergründe des erwähnten Verstummens „vergeudeter“ Dichter aufzudecken, an Begleiterscheinun-­ gen ihrer Drangsalierung zu erinnern und all dies zu dokumentieren. Die Recherchen Sienerths, Motzans und anderer Mitarbeiter des IKGS sind dabei insofern von höchstem literarhistorischem Interesse, als sie die politischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen der in der rumäniendeutschen Literatur ungewöhnlich stark und vielfältig thematisierten Aspekte Erinnerung und Gedächtnis detailliert und erschreckend konkret dokumentieren. Sorgfältig vorbereitet durch Anträge bei der CNSAS, der rumänischen Behörde zur Aufbewahrung der Unterlagen des ehemaligen Geheimdienstes und begleitet von Veranstaltungen wie dem unter Mitwirkung von Mitarbeitern der rumänischen Gauck-Behörde und betroffener Autoren 2009 veranstalten Kongress zu diesem Thema haben die seitdem betriebenen Untersuchungen eine Fülle von bislang unbekanntem Material über die Bespitzelung, über negative Beeinflussung und Zerstörung dichterischer Existenzen und engster zwischenmenschlicher Beziehungen zu Tage gebracht, Erschreckendes, Widerwärtiges, Widersinniges, Absurdes, Abgründiges. Die dazu bisher veröffentlichten Berichte in der Zeitschrift „Spiegelungen“ und in anderen Veröffentlichungsorganen bieten darüber hinaus einen bislang einzigartigen Einblick in die Struktur der Securitate, ihre brutalen Anwerbungspraktiken und Arbeitsweisen, detailliert von Sienerth beschrieben u.a. in Bezug auf Paul Schuster, Hermine Pilder-Klein, Georg Hoprich. Besondere, breite öffentliche Resonanz fanden Sienerths ausführliche und abwägende Ausführungen über die Anwerbung des Büchnerpreisträgers Oskar Pastior durch die Securitate. Kontrovers diskutiert vermittelten sie der bundesdeutschen literarischen Öffentlichkeit in bislang kaum wahrgenommener Deutlichkeit einige der das dichterische Wirken deutschsprachiger Autoren im diktatorischen Rumänien begleitenden Probleme, Gefahren und Ängste, vermittelten dies zugleich aber so, dass ein vorschnelles und einseitiges Urteilen bzw. Verurteilen vermieden werden konnte. (...) Mit diesem Tätigkeitsbereich haben Sienerth und andere Mitarbeiter des IKGS einmal mehr die mehrfach erwähnte Brücke zwischen Literaturwissenschaft und Historiographie befestigt und man kann nur hoffen, dass er und Dr. Motzan auch als Ruheständler weiter an diesem Befestigungswerk arbeiten. Denn gerade dieses Projekt hat dem Institut eine bis dahin nicht gekannte Akzeptanz und Aufmerksamkeit nicht nur in der literarischen, sondern auch in der politischen Öffentlichkeit beschert. (...)

Seinem Nachfolger hinterlässt Stefan Sienerth ein anspruchsvolles und vielgestaltiges Erbe, das nicht nur die skizzierten Wissenschaftsbereiche betrifft, sondern auch die Tätigkeit als Dozent an der Universität München sowie die Betreuung junger rumänischer Wissenschaftler im Rahmen von Stipendienprogrammen, den umtriebigen Organisator von Tagungen in Deutschland über Ungarn, Slowenien und Rumänien bis nach Norwegen, den Initiator und Förderer germanistischer und geschichtswissenschaftlich ausgerichteter Stiftungsprofessuren in Klausenburg und Pécs/Fünfkirchen.

(...) Als mich vor ca. zehn Jahren Adam Stupp in Erlangen mit der Existenz eines Südostdeutschen Kulturwerkes in München bekannt machte, habe ich aus verschiedenen Gründen zunächst distanziert und abwartend reagiert. Dass sich diese Haltung dann recht rasch zu interessierter und – wie ich glaube – auch produktiver Mitarbeit verändert hat, verdankt sich der Erkenntnis, dass ich damals mit Stefan Sienerth und Peter Motzan, aber auch Herrn Schneider und später mit Frau Brandt und Herrn Kegelmann höchst professionell arbeitende Literaturwissenschaftler kennenlernen durfte. Sie haben mir, der als Germanist und Slawist mit vielen Kulturen Ostmitteleuropas und Osteuropas einigermaßen vertraut ist, Begegnungen mit zahlreichen in Südosteuropa beheimateten Autorinnen und Autoren vermittelt, Wege in unbekannte kulturelle und literarische Räume eröffnet, haben also auch mir Brücken gebaut, über die ich im vergangenen Jahrzehnt oft und gern gegangen bin. Dafür danke ich vor allem Ihnen, Herr Sienerth, und Ihnen, Herr Motzan, von ganzem Herzen.

Damit, lieber Herr Sienerth, soll für heute genug des Lobens sein, wohlgemerkt für heute. Denn – um noch einmal, ein letztes Mal, das mehrfach erwähnte Bild zu verwenden: Wir verabschieden Sie mit herzlichen Grüßen und allen guten Wünschen für den Ruhestand, insbesondere mit dem Wunsch, dass Sie wie so oft eine Brücke bauen werden – nun die zwischen vergangener Arbeitswelt und zukünftigem, hoffentlich von Gesundheit und Lebensfreude begleiteten, viele Jahre währenden Ruhestand.

Schlagwörter: IKGS, Porträt, Verabschiedung, Literaturgeschichte

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